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Helgoland (eBook)

Wie die Quantentheorie unsere Welt verändert
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
208 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00869-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Helgoland -  Carlo Rovelli
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Als der junge deutsche Physiker Werner Heisenberg 1925 auf Helgoland die mathematischen Grundlagen der Quantenmechanik schuf, setzte er einen Prozess in Gang, der Mikrokosmos und Makrokosmos voneinander trennte. Hundert Jahre später verdanken wir der Quantenphysik unser Wissen um die Grundlagen der Chemie, die Funktionsweise der Sonne oder auch unseres Gehirns, sie ist die Basis moderner Hochtechnologie vom Laser bis zum Computer. Und doch gibt sie der Forschung nach wie vor Rätsel über Rätsel auf. Rovellis neues Buch führt uns ein in die Welt der physikalischen Forschung zu den allerkleinsten Teilchen, die er selbst maßgeblich betreibt. Was wissen wir und was können wir wissen über die Zustände der quantischen Welt, die Möglichkeiten ihrer Beobachtung, die Grenzen unserer materiellen Existenz und ihrer Beschreibung, aber eben auch über unser Bewusstseinsvermögen und schließlich die schwindelerregende Auffassung moderner Teilchenphysik von der Beschaffenheit unserer materiellen Welt als bloßes Geflecht von Beziehungen und Interaktionen?

Carlo Rovelli, geboren 1956 in Verona, ist seit 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille. Zuvor forschte und lehrte er unter anderem am Imperial College London, der Universität Rom, der Yale University, an der Universita dell' Aquila und an der University of Pittsburgh. 1998/99 war er Forschungsdirektor am Zentrum für Theoretische Physik (CPT) in Luminy. Er hat die italienische und die amerikanische Staatsbürgerschaft. Zusammen mit Lee Smolin entwickelte er die Theorie der Schleifenquantengravitation, die international als verheißungsvollste Theorie zur Vereinigung von Einsteins Gravitationstheorie und der Quantentheorie gilt. 

Carlo Rovelli, geboren 1956 in Verona, ist seit 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille. Zuvor forschte und lehrte er unter anderem am Imperial College London, der Universität Rom, der Yale University, an der Universita dell' Aquila und an der University of Pittsburgh. 1998/99 war er Forschungsdirektor am Zentrum für Theoretische Physik (CPT) in Luminy. Er hat die italienische und die amerikanische Staatsbürgerschaft. Zusammen mit Lee Smolin entwickelte er die Theorie der Schleifenquantengravitation, die international als verheißungsvollste Theorie zur Vereinigung von Einsteins Gravitationstheorie und der Quantentheorie gilt.  Enrico Heinemann lebt in Tübingen und studierte unter anderem in Florenz, Lille und Mailand Romanistik und Philosophie. Er übersetzte bisher rund 250 Bücher aus dem Italienischen, Englischen und Französischen.

Zweiter Teil


II


Ein lustiges Bestiarium aus radikalen Gedanken

Eine Erläuterung seltsamer Quantenphänomene und eine Schilderung, wie verschiedene Philosophen und Wissenschaftler sie jeweils auf eigene Art zu verstehen versuchen.

1. Superpositionen


Ich habe bei meiner Studienwahl lange gezögert. Meine Entscheidung für Physik fiel im allerletzten Moment. Bei der Einschreibung an der Universität (online war damals noch nicht möglich) in Bologna standen die angehenden Studenten in unterschiedlich langen Schlangen für die verschiedenen Fakultäten an, und dass die für Physik am kürzesten war, hat bei der Entscheidung geholfen.

Was mich an der Physik anzog, war der Verdacht, dass sich hinter dem todlangweiligen Unterricht am Gymnasium, hinter diesen unsinnigen Experimenten mit Sprungfedern, Hebeln und rollenden Kugeln doch eine echte Neugierde verbarg, die sich darauf richtete, das Wesen der Wirklichkeit zu verstehen – eine Neugierde, die im Einklang mit meiner unstillbaren Neugierde als ein Jugendlicher stand, der alles ausprobieren wollte: lesen, wissen, anschauen und hingehen: alle Plätze, Lokale, Mädchen, Bücher, Musik, Erfahrungen und alle Ideen …

Das Jugendalter ist eine Zeit, in der die Neuronen des Gehirns sich schlagartig neu verschalten. Alles erscheint intensiv, alles fasziniert, alles desorientiert. Ich bin völlig verwirrt und voll von Wissensdurst aus dieser Zeit hervorgegangen. Ich wollte die Natur der Dinge verstehen, begreifen, wie es unser Denken schafft, diese Natur zu erfassen. Was ist die Wirklichkeit? Was ist Denken? Wer bin ich, der da denkt?

Diese extreme und brennende jugendliche Neugierde trieb mich zum Schnuppern an, was die Naturwissenschaft, das große neue Wissen dieser Ära, an Erhellendem zu bieten hatte. Nicht, dass ich auf echte oder gar endgültige Antworten gehofft hätte … aber man musste doch wissen, was die Menschheit in den letzten beiden Jahrhunderten über die Feinstruktur der Dinge herausgefunden hatte.

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Das Studium der klassischen Physik hat mich ein wenig unterhalten und ein wenig gelangweilt. Ihre Prägnanz hatte etwas Elegantes, es war lebensnäher und schlüssiger als die sinnlosen Formeln, die man mir auf dem Gymnasium hatte eintrichtern wollen. Einsteins Entdeckungen zu Raum und Zeit erfüllten mich mit Staunen und Begeisterung und ließen mein Herz höher schlagen.

Aber erst die Begegnung mit den Quanten hat in meinem Kopf bunte Lichter entzündet. Sich daranzumachen, die glühende Materie der Wirklichkeit da anzufassen, wo sie unsere Vorurteile in Frage stellt …

Meine Begegnung mit der Quantentheorie erfolgte unmittelbar. Von Angesicht zu Angesicht mit Diracs Buch. Das ging so: Ich hatte in Bologna Professor Fanos Mathematikseminar mit dem Titel «Mathematische Methoden für die Physik» besucht; also «Methoden» für uns. Vorgesehen war, sich jeweils tiefer in ein Thema einzuarbeiten und es dann den Kommilitonen im Unterricht vorzustellen. Ich hatte mir ein kurzes Kapitel Mathematik ausgesucht, das heute im Masterstudiengang für Physik behandelt wird, damals aber noch nicht auf dem Programm stand: die «Gruppentheorie». In der Sprechstunde fragte ich Professor Fano, was ich in meinem Referat denn vortragen solle. Er antwortete mir: «Die Grundlagen der Gruppentheorie und ihre Anwendung auf die Quantentheorie.» Ich wies ihn vorsichtig darauf hin, dass ich noch keinen Kurs zur Quantentheorie besucht hatte … Ich wusste rein gar nichts darüber. Und er: «Na und? Dann arbeiten Sie sich eben ein.»

War nur ein Scherz.

Aber ich habe es nicht kapiert.

Ich kaufte mir Diracs Buch in der grauen Boringhieri-Ausgabe. Es roch ganz gut (ich schnuppere an Büchern immer, bevor ich sie kaufe: Der Duft ist entscheidend). Ich schloss mich zu Hause ein und arbeitete es einen Monat lang durch. Ich kaufte vier weitere Bücher[39] und studierte sie ebenfalls.

Dieser Monat war einer der schönsten in meinem Leben.

Und der Ursprung von Fragen, die mich anschließend ein Leben lang verfolgten. Und nach vielen Jahren, vielem Lesen, vielen Diskussionen und vielen Ungewissheiten haben sie mich dazu angetrieben, dieses Buch zu schreiben.

In diesem Kapitel stoße ich in die seltsame Quantenwelt vor. Ich beschreibe ein konkretes Phänomen, das ihre Skurrilität erfasst: eines, das ich persönlich beobachten konnte. Es ist unspektakulär, fasst das Entscheidende aber zusammen. Danach liste ich einige der heute am häufigsten diskutierten Ideen auf, mit denen versucht wird, diese seltsame Welt zu erklären. Die für mich überzeugendste Idee spare ich mir fürs nächste Kapitel auf. Wer sie gleich kennenlernen möchte, kann die amüsanten, aber verschlungenen Argumentationsweisen in diesem Kapitel auch überspringen.

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Was also ist an den Quantenphänomenen so seltsam? Davon, dass Elektronen sich auf bestimmten Bahnen bewegen und Sprünge vollziehen, geht doch die Welt nicht unter …

Das Phänomen, aus dem die seltsamen Verhaltensweisen der Quanten hervorgehen, heißt «Quantensuperposition». Bei einer Superposition liegen in gewissem Sinn zwei widersprüchliche Eigenschaften gleichzeitig vor. Ein Objekt kann beispielsweise hier und gleichzeitig dort sein. Das ist Heisenbergs Gedanke, wenn er sagt, dass sich die Elektronen nicht mehr auf einer Kreisbahn bewegen: Das Elektron befindet sich weder an diesem noch an einem anderen Ort. In gewissem Sinn ist es an beiden Orten. Es hat keinen bestimmten Ort. Es ist, als habe es gleichzeitig viele Positionen. In der Fachsprache sagt man, dass ein Objekt in einer «Superposition» von mehreren Orten sein kann. Dirac nennt diese Absonderlichkeit das «Superpositionsprinzip», und dieses ist für ihn die konzeptionelle Grundlage der Quantentheorie.

Was heißt es, dass sich ein Objekt an zwei Orten befindet?

Achtung: Es heißt nicht, dass wir eine «Quantensuperposition» direkt sehen. Wir sehen ein Elektron niemals an zwei Orten. Die «Quantensuperposition» ist nichts, was sich unmittelbar beobachten lässt. Was wir sehen, sind nur die unscheinbaren Konsequenzen der Tatsache, dass ein Teilchen in einem gewissen Sinn gleichzeitig an verschiedenen Orten ist. Diese Konsequenzen heißen «Quanteninterferenz». Es ist die Interferenz, die wir beobachten, nicht die Superposition. Sehen wir, worum es sich handelt.

Nachdem ich mich lange Zeit in Büchern mit Quanteninterferenz auseinandergesetzt hatte, konnte ich schließlich auch eine mit eigenen Augen beobachten: in Innsbruck, im Labor Anton Zeilingers, eines sehr sympathischen Österreichers mit Vollbart und der Erscheinung eines gutmütigen Bären. Zeilinger (*1945) ist einer der bedeutendsten experimentellen Physiker, die mit Quanten Wunder bewirken: Er war Pionier der Quanteninformatik, der Quantenkryptographie und der Quantenteleportation. Ich schildere, was ich gesehen habe: Es zeigt zusammenfassend den Grund dafür, was den Physikern solches Kopfzerbrechen bereitet.

Anton führte mich zu einem Tisch mit optischen Instrumenten: ein kleines Lasergerät, Linsen, Prismen, die einen Laserstrahl zerlegen und wieder zusammenführen, Photonendetektoren usw. Ein schwacher Laserstrahl aus wenigen Photonen wurde in zwei Teile geteilt, die in zwei unterschiedliche Richtungen gelenkt wurden, sagen wir, einer nach «rechts» und einer nach «links». Beide Bahnen liefen wieder zusammen, wurden erneut getrennt und endeten schließlich in zwei Detektoren: sagen wir in einem «oben» und einem «unten».

Ein Photonenbündel, von einem Prisma in zwei Teile zerlegt, wieder zusammengeführt und erneut zerlegt.

Was ich sah, war Folgendes: Ließ man den beiden Strahlen freie Bahn (rechts und links), landeten alle Photonen im unteren Detektor: keines im oberen (linke Zeichnung der Abbildung unten). Aber wenn man einen der beiden Strahlen mit der Hand unterbrach, folgte die eine Hälfte der Photonen nun der unteren und die andere der oberen Bahn (die beiden rechten Zeichnungen unten). Man fragt sich, wie so etwas zustande kommen kann.

Quanteninterferenz. Wenn beide Bahnen frei sind, schießen alle Photonen nach unten (links). Unterbricht man dagegen eine Bahn mit der Hand, trifft eine Hälfte der Photonen oben ein (Zeichnungen rechts). Wie kommt es, dass meine Hand in der einen Bahn die Photonen auf der anderen Bahn nach oben lenkt? Niemand weiß es.

Etwas ist seltsam. Die Hälfte der Photonen, die einer der beiden Bahnen folgen, werden nach oben gelenkt (Zeichnungen rechts). Also ist doch selbstverständlich zu erwarten, dass die Hälfte der Photonen, die auf beiden Bahnen unterwegs sind, ebenfalls oben ankommen. Aber nein: Oben landen sie nie (Zeichnung links).

Wie schafft es meine Hand, die einen Strahl durchschneidet, die Photonen auf der anderen Bahn nach oben zu lenken?

Dass die Photonen oben verschwinden, wenn beide Bahnen frei sind, ist ein Beispiel für die Quanteninterferenz. Es ist die «Interferenz» zwischen den beiden zwei Bahnen: der rechten und der linken. Wenn beide frei sind, geschieht etwas, das weder mit den Photonen auf...

Erscheint lt. Verlag 19.10.2021
Übersetzer Enrico Heinemann
Zusatzinfo Mit 14 s/w Abb.
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Natur / Technik Naturwissenschaft
Technik
Schlagworte Einstein • Elektronen • Naturwissenschaft • Physik • Quantenmechanik • Quantenphysik • Teilchenphysik • Werner Heisenberg
ISBN-10 3-644-00869-8 / 3644008698
ISBN-13 978-3-644-00869-4 / 9783644008694
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