Nicht aus der Schweiz? Besuchen Sie lehmanns.de

Die silbernen Felder (eBook)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
192 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01089-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die silbernen Felder -  Claudia Tieschky
Systemvoraussetzungen
19,99 inkl. MwSt
(CHF 19,50)
Der eBook-Verkauf erfolgt durch die Lehmanns Media GmbH (Berlin) zum Preis in Euro inkl. MwSt.
  • Download sofort lieferbar
  • Zahlungsarten anzeigen
Margarethe liebt das Baden in Seen, die Fotografie, Shopping Malls und ihre Einsamkeit. Sie hat sich in ihrer Erinnerung verschanzt - an ihre Reisen und an ihre widerspenstige, begabte Schwester Fiona. Aber Fiona ist seit langem verschwunden. Die Geschichte spielt in naher Zukunft, das alltägliche Leben läuft fast so ab wie heute, doch Entscheidendes hat sich verändert: Die liberalen Demokratien sind Vergangenheit, Digitalkonzerne haben eine auf den ersten Blick sanfte globale Herrschaft errichtet. Das Leben jedes Menschen wird in den «Inneren Dateien» aufgezeichnet, mit denen sich, für alle und jederzeit, die schönsten Erinnerungen kombinieren und ungeahnte Glücksgefühle auslösen lassen. Sie fungieren nach dem Tod als Gedächtnisspeicher - und versprechen eine Art kollektives ewiges Leben: das Projekt «Liebseligkeit». Fiona, die mehr damit zu tun hatte, als sie sagte, verweigerte sich dem irgendwann. Margarethe begibt sich auf die Suche nach Fiona und weiteren verschwundenen Freunden. Sie reist in die «Zone» im ländlichen Südwesten, wo Menschen außerhalb des Systems leben. Wo ist Fiona, welche Rolle spielte sie? Und warum träumt Margarethe so seltsam?

Claudia Tieschky, geboren 1968 in Augsburg, studierte Germanistik und Geschichte und ist seit 2003 Medienredakteurin der «Süddeutschen Zeitung». 2016 wurde sie mit dem Bert-Donnepp-Preis, dem Deutschen Preis für Medienpublizistik, ausgezeichnet. Claudia Tieschky lebt in München. 2018 erschien ihr vielgelobter Debütroman «Engele».

Claudia Tieschky, geboren 1968 in Augsburg, studierte Germanistik und Geschichte und ist seit 2003 Medienredakteurin der «Süddeutschen Zeitung». 2016 wurde sie mit dem Bert-Donnepp-Preis, dem Deutschen Preis für Medienpublizistik, ausgezeichnet. Claudia Tieschky lebt in München. 2018 erschien ihr vielgelobter Debütroman «Engele».

Ich träume von Andreas. Er sitzt in einem Flugapparat und trägt die braune Ledermontur der ersten Piloten. Er winkt mir, und ich klettere zu ihm in das Gestell. Statt zu starten, fahren wir auf einer leeren Straße entlang, die weiter hinten ansteigt, wo auch Autos zu sehen sind. Ich wundere mich, dass er hangaufwärts starten will, aber ich täusche mich. Andreas hat noch gar nicht die Absicht zu fliegen, wir rollen nur die Hügelkuppe hinauf. Oben fragt er mich: «Wie kommen wir jetzt nach Hause?» Ich wundere mich nicht, denn ich denke, dass er in seinem Alter wahrscheinlich einfach vergesslich wird. Er sagt, wir müssen auf die Berliner Allee kommen, ab da kennt er sich wieder aus, aber geht es jetzt links oder rechts dahin? «Rechts», sage ich. Und er sagt: «Gut, dann treffen wir uns später da, ich muss noch Hemden kaufen.»

Er steigt aus, um einkaufen zu gehen. Er will, dass ich in der Zwischenzeit selber fliege. Ich habe jetzt auch eine Lederkappe auf, aber Andreas sagt, das ist die falsche. Es hängen Drähte heraus, die sich in einem Strang bündeln. Der Strang ist dick wie ein Starkstromkabel und verläuft durch die Senke, in der wir gefahren sind. Andreas schaut bestürzt, dreht sich um und kneift die Augen zusammen, prüft die Umgebung, die Sträucher. «Du musst das schnell loswerden, Kind», sagt er. «Sie versuchen, an dich heranzukommen.»

Sogenannte Alleingänger verweigerten sich nicht nur der Gemeinschaft in der Einwelt, sondern auch dem öffentlichen Erzählen und Speichern ihrer Existenz. Sie hatten etwas dagegen, dass ihre geographischen Bewegungsmuster aufgezeichnet wurden und die von ihnen bevorzugten Orte digitale Zwillinge in der Einwelt erhielten. Sie misstrauten der Reproduktion ebenso wie der Vorstellung, dass ihre Erinnerungen und Gedanken nicht mehr ihnen allein gehören würden. Sie fürchteten, dass die Einwelt, sobald sie einmal vollendet wäre, das umfassendste Herrschaftsinstrument sein könnte, das es jemals gegeben hatte. Wer die Technologie der Einwelt kontrollieren könnte, hätte Kontrolle über jeden einzelnen vernetzten Menschen.

Sie löschten alle von ihnen vorhandenen Daten und Profile und zogen sich zurück. Einige der auf diese Weise Entmondialisierten gründeten schon kurz nach Beginn der Liebseligkeit analoge Gemeinschaften abseits der dicht besiedelten Gebiete, in denen sie sich selbst versorgten und sogar auf digitale Informationsübermittlung und E-Medizin verzichteten. Sie leugneten nicht die technologische Überlegenheit der Einwelt, aber sie lehnten sie als hauptsächliche Aufenthaltszone ab, aus unterschiedlichen Gründen.

Der Weisheitsspeicher wurde in dieser Phase verstärkt dazu eingesetzt, den nicht rationalen Teil des menschlichen Empfindens computergestützt zu erforschen. Es hatte sich herausgestellt, dass die wirkliche Leerstelle bei der Entwicklung eines sicheren digitalen Lebensraums nicht die fehlende neurologische und mikrobiologische Technologie war. Was fehlte, war die Kenntnis der inneren Bauart des Menschen und somit davon, was für ein Individuum jeweils Glück bedeutete. Dies zu erforschen war wichtig, denn nur eine wirksame Glücksstimulation konnte erreichen, dass die digitale der analogen Lebensform vorgezogen oder zumindest beide als gleichrangig angesehen würden. Und nur mit der Bereitschaft, die meiste Zeit des Lebens in der Einwelt zu verbringen, ließen sich dort wiederum Strukturen aufrechterhalten, die denen der materiellen Welt spiegelbildlich entsprachen.

Die Brain-Computer-Schnittstellen nahmen zur gleichen Zeit einen starken Entwicklungsschub. Sie sollten für die Forschungen am Glücksempfinden eingesetzt und ihre Erkenntnisse in einem zentralen Server gespeichert werden. Damit wurde es immer wichtiger, Probanden zu finden, die sich dem Life Recording unterzogen. Das Ausgelesene der Inneren Dateien war in gewisser Weise das Korrektiv – der Abgleich mit den Wohlgefühl-Theorien aus den herkömmlich gewonnenen Daten.

In dieser Übergangszeit bildete sich in der Öffentlichkeit die Ansicht heraus, dass die finale Transition in den Weisheitsspeicher eine für die Gemeinschaft wertvolle Entwicklung war und dass eine Person, die sich auslesen ließ und ihrem Leben so ein Ende setzte, altruistisch und tugendhaft handelte. Es ist nicht ganz klar, ob die TERR bei diesem Meinungsbildungsprozess bereits mit den Ergebnissen der Willensforschung arbeitete. Sicher aber wandte sie die seit Jahrzehnten bekannten Möglichkeiten an, Zweifler durch die Auswertung ihrer Social-Media-Daten zu lokalisieren und zu beeinflussen.

Wer sich freiwillig auslesen ließ, genoss dadurch große Hochachtung, unabhängig davon, wie er zuvor gelebt hatte. Angehörige von Ausgelesenen bekamen eine lebenslange Rente, mit der sie sich in der Einwelt komfortabel versorgen und angenehm bewegen konnten. Dasselbe galt für Familien, deren sterbende Angehörige zuletzt noch der Transition zustimmten.

Den Entwicklern der TERR wurde indessen immer mehr bewusst, dass eine vollständige Transition mit den bisherigen Methoden nicht gelingen würde. Die Forschungen über die Strukturen, die zu innerer Anteilnahme oder Ablehnung führten, erbrachten zunächst nur, wie wenig man darüber wusste. Besonders deutlich zeigte sich das anhand der Erlebnis-Files. Die meisten Nutzer, die man Besucher nannte, zeigten nach ihrem ersten Einloggen in den Erlebnisteil des Weisheitsspeichers eine Art Suchtverhalten. Das Eintauchen in die Inneren Dateien übte enormen Reiz aus. Die Wildheit dieses Erlebnisses war eines der wenigen, wenn nicht vielleicht das einzige Abenteuer, das nur in der Einwelt zu bekommen war. Das für die TERR Entscheidende war aber, dass die Besucher auf die gleichen Files höchst unterschiedlich reagierten, selbst wenn sich darin eindeutig schöne oder schreckliche Erlebnisse befanden. Völlig unerklärlich blieb außerdem oft, warum eine Person auf ein nach ihren Bedürfnissen errechnetes Angebot mit starker Ablehnung reagierte, während eine andere, ähnlich sozialisierte, glücklich ja sagte.

Solange man die Grundvoraussetzungen für solche Abweichungen nicht kannte, war es fast aussichtslos, die gegenständliche Welt spiegelbildlich nachzuformen und sie auf diese Weise durch die Einwelt zu ersetzen. Doch es würde eine Blütezeit beginnen, das war die Erwartung, falls es der Einwelt gelingen könnte, Sehnsüchte zu erfüllen und Sicherheit zu geben. Also begann TERR, Sehnsüchte und Ängste mit Hilfe der Inneren Dateien zu erforschen. Sie überließ den Lernprozess dabei intelligenten Maschinen, die mit den Codes menschlicher Erinnerungen und den damit verbundenen Gefühlen gefüttert wurden, um Muster zu erkennen.

Während es zwar teuer, aber doch relativ beherrschbar war, die Rechenzentren dafür zu bauen, stellte sich als zentrales Problem die Frage, woher die Daten kommen sollten, von denen die Maschinen lernen würden. Und was sie lernen würden. Ein anderes Problem blieb bei allen Fortschritten die labile Akzeptanz der Einwelt. Solange es Alleingänger und Kolonisten gab, bestand immer die Gefahr, dass sie Teile der Bevölkerung auf ihre Seite zogen. Aus diesem Grund spezialisierte sich ein TERR-Team auf ein neues Ziel. Das vorrangige Erkenntnisinteresse galt der Frage, welche Persönlichkeitsstrukturen besonders zu Vorbehalten gegen den Weisheitsspeicher neigten. Wie man das Projekt entsprechend anpassen könne. Oder welche bevölkerungspolitischen Maßnahmen zu ergreifen seien. Mit anderen Worten wurde TERR bewusst, dass das für sie wertvollste Material nicht aus den Inneren Dateien ihrer Unterstützer, sondern aus denen ihrer Kritiker kam. Von da an änderte sich alles.

Den Alleingängern und ihren Inneren Dateien galt von diesem Zeitpunkt an das besondere Interesse des Weisheitsprojekts. Man entwickelte eine spezielle Methode, sie ausfindig und über eine Kodierung für Smart Sicherheit Software wiedererkennbar zu machen. Es funktionierte nach einem einfachen Prinzip: Wenn die Gesichtsortung im öffentlichen Raum eine Person erfasste, scannte sie die digitalen Dienste automatisch auf Aktivitäten dieser Person. Falls sich nichts fand, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass man einen Alleingänger vor sich hatte. Diese Personen wurden als «gefunden» markiert und ihre Bewegungsprofile gespeichert. Analoge Kolonien ließ die Digitale Demokratie anfangs zu, zensierte aber die Kommunikation über sie. Als sich diese Haltung änderte, wurden die Kolonien aufgelöst und die Bewohner zwangsweise ausgelesen.

Die Biopersonen, die beim Prozess des Life Recordings und auch bei den nach einer gewissen Weile öffentlich in einem festlichen Ritual abgehaltenen Zwangsauslesungs-Prozessen eine dienende Rolle einnehmen, sind die Nachfahren der ersten großen Versklavungswelle lange vor Gründung des Weisheitsspeichers. Damals waren die aus dem zwanzigsten Jahrhundert stammenden Demokratien während der Frühglobalisierung zunächst von den großen Konzernen de facto entmachtet worden und hatten in der Folge den gesellschaftlichen Rückhalt verloren. Sie wurden in fast allen europäischen Ländern abgewählt und durch autokratische Regierungen ersetzt, die versprachen, die Abhängigkeit von den Digitalkonzernen zu beenden und aus den internationalen Bündnissen der alten politischen Ordnung auszutreten.

Die Autokraten Europas schlossen trotz ihrer völlig unterschiedlichen Interessenslagen das Bündnis der sogenannten Liberalen Demokratien. Um eine eigene nationale und entglobalisierte Wirtschaftsleistung zu erzielen, legte dieses Bündnis einen Plan auf, den es zum Förderprogramm...

Erscheint lt. Verlag 17.8.2021
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Demokratie • Digitale Diktatur • Digitale Überwachung • Erinnerung • Ewiges Leben • Geschwisterbeziehung • Liebe • Nahe Zukunft • Near future • Vergänglichkeit • Zukunft
ISBN-10 3-644-01089-7 / 3644010897
ISBN-13 978-3-644-01089-5 / 9783644010895
Haben Sie eine Frage zum Produkt?
EPUBEPUB (Wasserzeichen)
Größe: 1,9 MB

DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasser­zeichen und ist damit für Sie persona­lisiert. Bei einer missbräuch­lichen Weiter­gabe des eBooks an Dritte ist eine Rück­ver­folgung an die Quelle möglich.

Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belle­tristik und Sach­büchern. Der Fließ­text wird dynamisch an die Display- und Schrift­größe ange­passt. Auch für mobile Lese­geräte ist EPUB daher gut geeignet.

Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise

Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.

Mehr entdecken
aus dem Bereich
Roman

von T.C. Boyle

eBook Download (2023)
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
CHF 20,50