Mein Leben mit Fjodor Dostojewski (eBook)
592 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2834-5 (ISBN)
Dostojewskis Leben, von seiner Frau erzählt - ein spannender Ehe- und Familienroman
Rückblickend rekapituliert Anna Dostojewskaja voller Zuneigung, doch mit ausreichend Abstand und den Tatsachen verpflichtet, ihr Leben an der Seite Fjodor Dostojewskis. Ihre detaillierten Erinnerungen gehören zu den zuverlässigsten Aufzeichnungen über den Schriftsteller und offenbaren den Menschen, wie er sich im Häuslich-Familiären gab und wie er in der Öffentlichkeit in Erscheinung trat. Dabei spart sie auch die Schattenseiten nicht aus: seine Spielsucht und eine exzesshafte Eifersucht, immerwährende Geldnot und Schulden ein Leben lang, seine durch Epilepsie gefährdete Gesundheit, den frühen Tod zweier Kinder. Vor allem aber zeigt sie, welchen Halt das Paar aneinander, in der gemeinsamen Arbeit und im Familienleben fand.
Erstmals nach der ungekürzten russischen Neuausgabe, mit zahlreichen Abbildungen
»Mein aufrichtiger und inniger Wunsch: den Lesern Fjodor M. Dostojewski mit allen seinen Vorzügen und Mängeln zu zeigen - so, wie er war, in der Familie und privat.« Anna Dostojewskaja
Anna G. Dostojewskaja (1846-1918) war die zweite Ehefrau von Fjodor M. Dostojewski (1821-1881). Sie heiratete den Schriftsteller 1867, noch vor dem Höhepunkt seiner Karriere, und gestaltete sein privates und schriftstellerisches Leben aktiv mit. Das Paar hatte vier Kinder, unternahm zahlreiche Europatouren und kehrte immer wieder nach Sankt Petersburg zurück. Bis zu ihrem Tod galt ihr ganzes Engagement dem Werk und Andenken ihres Mannes.
1
Wie ich auf die Welt kam
Mit dem Alexander-Newski-Kloster in Petersburg verbinden sich für mich wichtige Erinnerungen: So wurden in der einzigen Gemeindekirche (heute Klosterkirche), die sich über dem Hauptportal befand, meine Eltern getraut.
Ich selbst wurde am 30. August, dem Tag des heiligen Alexander Newski, in einem zum Kloster gehörenden Haus geboren, ein Gemeindegeistlicher des Klosters sprach das Gebet und taufte mich. Auf dem Tichwiner Friedhof des Alexander-Newski-Klosters liegt mein unvergessener Mann begraben, dort, neben ihm, werde auch ich, so es das Schicksal will, meine letzte Ruhestätte finden. Es ist, als sei dies alles zusammengetroffen, um das Alexander-Newski-Kloster zu dem Ort zu machen, der mir der liebste ist auf Erden.
Ich kam am 30. August 1846 an einem jener schönen Herbsttage zur Welt, die man »Altweibersommer« nennt. Bis heute gilt der Tag des heiligen Alexander Newski beinahe als der größte Feiertag der Hauptstadt. Dann wird eine Prozession von der Kasaner Kathedrale zum Kloster und zurück veranstaltet, begleitet von einer vielköpfigen Menge aus dem Volk, das an diesem Tag von der Arbeit befreit ist. In früheren, längst verflossenen Zeiten beging man den 30. August allerdings noch festlicher: Mitten auf dem Newski-Prospekt errichtete man in einer Länge von mehr als drei Werst ein breites Holzgerüst, auf dem die Prozession im Glanz ihrer vergoldeten Kreuze und Kirchenfahnen, erhöht, abgehoben von der Menge, gemächlich dahinzog. Hinter dem langen Zug geistlicher Würdenträger in Messgewändern aus Goldbrokat schritten hochgestellte Persönlichkeiten, Militärs mit Bändern und Orden, hinter ihnen aber fuhren mehrere vergoldete Paradekutschen, in denen Mitglieder des Herrscherhauses saßen. Die Prozession bot ein so außerordentlich schönes Bild, dass an diesem Tag die ganze Stadt zusammenkam.
Meine Eltern wohnten in einem auch heute noch dem Kloster gehörenden Haus1 im ersten Stock. Die Wohnung war sehr groß (elf Zimmer), und die Fenster gingen auf den heutigen Schlüsselburger Prospekt und zum Teil auf den Platz vor dem Kloster. Die Familie war zahlreich: die alte Mutter und vier Söhne, von denen zwei verheiratet waren und Kinder hatten. Man lebte einträchtig und nach alter Sitte gastfreundlich, so dass sich an Geburts- und Namenstagen der Familienmitglieder, zu Weihnachten und Ostern alle nahen und entfernten Verwandten gewöhnlich schon am Morgen bei der Großmutter einfanden und bis in die späte Nacht fröhlich feierten. Besonders viele Gäste aber versammelten sich am 30. August, da bei schönem Wetter die Fenster geöffnet waren, man die Prozession bequem ansehen und obendrein in heiterer, vertrauter Gesellschaft weilen konnte. So war es auch am 30. August 1846. Meine Mutter, durchaus munter und fröhlich, empfing zusammen mit den übrigen Familienmitgliedern herzlich die Gäste und bewirtete sie. Dann jedoch zog sie sich zurück, und alle waren überzeugt, dass sich die junge Hausfrau in den hinteren Zimmern um die Speisen und Getränke für die Gäste kümmerte. Aber meine Mutter, die das bevorstehende »Ereignis« nicht so schnell erwartet hatte, fühlte sich, wahrscheinlich durch die Anstrengung und Aufregung, plötzlich unwohl, schickte nach der in solchen Fällen unentbehrlichen Person und begab sich in ihr Schlafzimmer. Meine Mutter erfreute sich stets guter Gesundheit, sie hatte bereits zuvor Kinder geboren, und deshalb verursachte das eingetretene Ereignis im Haus keinerlei Durcheinander oder Aufregung.
Gegen zwei Uhr mittags endete der Festgottesdienst in der Kathedrale, die volltönenden Klosterglocken schlugen, und als der Prozessionszug aus dem Hauptportal des Klosters kam, begann auf dem Platz eine Militärkapelle feierlich zu spielen. Gäste, die am Fenster gesessen hatten, holten eilig die Übrigen herbei, und es wurde gerufen: »Sie kommt, sie kommt, die Prozession geht los.« Unter diesen Ausrufen, dem Geläut der Glocken und der Musik, die an das Ohr meiner Mutter drangen, begann auch ich meinen so langen Lebensweg.2
Die Prozession war vorüber, und die Gäste rüsteten zum Aufbruch, wollten sich jedoch zuvor von der Großmutter verabschieden, die sich, wie man ihnen sagte, hingelegt habe, um ein wenig zu ruhen. Gegen drei Uhr betrat mein Vater mit seiner alten Mutter am Arm den Raum, in dem sich die Gäste aufhielten. Sie blieben mitten im Zimmer stehen, und mein Vater verkündete feierlich, ein wenig erregt wegen des soeben eingetretenen Ereignisses: »Liebe Verwandte und Gäste, gratuliert mir zu einer großen Freude: Gott hat mir eine Tochter geschenkt – Anna.« Mein Vater war von äußerst heiterem Gemüt, ein Witzbold, ein Spaßvogel, die geborene »Seele der Gesellschaft«. Alle hielten seine Mitteilung für einen Feiertagsscherz, niemand glaubte daran, und es ertönten Rufe wie: »Das kann nicht sein! Grigori Iwanowitsch scherzt! Wie ist denn das möglich? Anna Nikolajewna war doch die ganze Zeit hier!« Da wandte sich die Großmutter an die Gäste. »Nein, Grischa sagt die Wahrheit: Vor einer Stunde wurde meine Enkelin geboren, Njutotschka!«
Nun hagelte es Glückwünsche, und in der Tür erschien ein Mädchen mit gefüllten Champagnergläsern. Alle tranken auf das Wohl des Neugeborenen, seiner Eltern und der Großmutter. Die Damen liefen zu der Wöchnerin, um sie zu beglückwünschen (dazumal gab es noch keine ärztlichen Vorsichtsmaßregeln) und die »Kleine« zu küssen, die Männer aber nutzten die Abwesenheit der Damen, um die bereitgestellten Champagnerflaschen zu leeren, und brachten Trinksprüche auf das Neugeborene aus. Auf so feierliche Weise wurde mein Eintritt in die Welt begrüßt, und das war, wie alle sagten, ein gutes Vorzeichen für mein künftiges Schicksal. Dieses Vorzeichen bewahrheitete sich später: Obwohl ich viele materielle Sorgen und moralische Leiden ertragen musste, betrachte ich mein Leben als überaus glücklich, und ich würde nichts ändern wollen.
Einige Worte über meine Eltern. Die Familie meines Vaters stammte aus Kleinrussland3, der Ururgroßvater trug den Familiennamen Snitko. Mein Urgroßvater zog, nachdem er seinen Besitz im Gouvernement Poltawa verkauft hatte, nach Petersburg und nannte sich bereits Snitkin. Mein Vater besuchte eine Petersburger Jesuitenschule, wurde aber nicht Jesuit und blieb sein Leben lang ein gütiger und offenherziger Mensch.4
Mein Vater arbeitete in einem Magistrat oder Departement. Meine Mutter stammte aus Schweden, aus dem angesehenen Geschlecht Miltopeus. Einer ihrer Vorfahren war lutherischer Bischof, die Onkel waren Gelehrte. Das beweist die Endung ‑eus, die Gelehrte aus einer Art Koketterie an ihren Namen anhängten, ähnlich wie die Hinzufügung der Partikel de oder von. Gelebt haben die Vorfahren in Abo, und in der dortigen berühmten Kathedrale sind sie auch begraben. Als ich Abo einmal auf der Durchreise nach Schweden besuchte, wollte ich zu den Gräbern der Ahnen gehen, doch da ich weder Finnisch noch Schwedisch konnte, bekam ich von dem Wächter keine Auskunft.
Der Vater meiner Mutter, Nikolai Miltopeus, war Gutsbesitzer im Gouvernement Sankt Michel, und die ganze Familie lebte auf dem Gut außer dem Sohn Roman Nikolajewitsch, der das Moskauer Landvermessungsinstitut besuchte. Als er seine Ausbildung beendet und eine Stelle in Petersburg erhalten hatte, verkaufte er das Gut des Vaters (der zu dieser Zeit bereits gestorben war) und zog mit der gesamten Familie nach Petersburg. Hier verschied meine Großmutter Anna-Maria Miltopeus bald darauf, und meine Mutter blieb mit zwei Schwestern bei ihrem Bruder wohnen. Meine Mutter war eine Frau von bemerkenswerter Schönheit – groß, schlank, gut gebaut, mit auffallend regelmäßigen Gesichtszügen. Zudem verfügte sie über eine sehr schöne Sopranstimme, die ihr fast bis ins Alter erhalten blieb. Geboren wurde sie im Jahr 1812, und als sie neunzehn wurde, verlobte sie sich mit einem Offizier. Zur Heirat kam es nicht, denn der Offizier nahm am Ungarischen Feldzug teil und fiel. Der Kummer meiner Mutter war grenzenlos, und sie beschloss,...
Erscheint lt. Verlag | 11.10.2021 |
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Übersetzer | Brigitta Schröder |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Wospominanija |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Literatur ► Briefe / Tagebücher | |
Schlagworte | Anna Dostojewskaja • Erinnerungen • Familienleben • Fjodor Dostojewski • Frauenleben • Künstlerehe • Literarisches Leben • Russische Geschichte • Russische Gesellschaft • Russische Literatur |
ISBN-10 | 3-8412-2834-8 / 3841228348 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2834-5 / 9783841228345 |
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