Azadi heißt Freiheit (eBook)
256 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491487-9 (ISBN)
Arundhati Roy wurde 1959 geboren, wuchs in Kerala auf und lebt in Neu-Delhi. Den internationalen Durchbruch schaffte sie mit ihrem Debütroman »Der Gott der kleinen Dinge«, für den sie 1997 den Booker Prize erhielt. Aus der Weltliteratur der Gegenwart ist er nicht mehr wegzudenken. In den vergangenen Jahren widmete sie sich außer ihrem politischen und humanitären Engagement vor allem ihrem zweiten Roman »Das Ministerium des äußersten Glücks« (2017). Dieser Roman wurde mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2017 ausgezeichnet. Zuletzt erschienen die Essaybände »Azadi heißt Freiheit« (2021) und »Mein aufrührerisches Herz« (2022). 2024 wurde Arundhati Roy mit dem PEN Pinter Prize ausgezeichnet.
Arundhati Roy wurde 1959 geboren, wuchs in Kerala auf und lebt in Neu-Delhi. Den internationalen Durchbruch schaffte sie mit ihrem Debütroman »Der Gott der kleinen Dinge«, für den sie 1997 den Booker Prize erhielt. Aus der Weltliteratur der Gegenwart ist er nicht mehr wegzudenken. In den vergangenen Jahren widmete sie sich außer ihrem politischen und humanitären Engagement vor allem ihrem zweiten Roman »Das Ministerium des äußersten Glücks« (2017). Dieser Roman wurde mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2017 ausgezeichnet. Zuletzt erschienen die Essaybände »Azadi heißt Freiheit« (2021) und »Mein aufrührerisches Herz« (2022). 2024 wurde Arundhati Roy mit dem PEN Pinter Prize ausgezeichnet.
Obgleich [...] unverwechselbar subjektiv geschrieben [...], kann man kaum ein Buch finden, das die gegenwärtige Situation Indiens, das Abdriften von einer Demokratie zum Despotismus, besser beschreibt.
Roy klagt an. Aber sie scheint die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben zu haben. Auf der anderen Seite des Portals liegt eine bessere Welt.
[Die Essays] sind ein Schrei nach Gerechtigkeit, zornig, erbost und brilliant geschrieben.
Mit [...] Azadi beschreibt die Schriftstellerin [...] die Möglichkeit fiktionale Welten zu entwickeln, die komplexer sind als die Realität und zugleich schonungslos deren blinde Flecken offen legen.
Die Lektüre ist in ihrer Schärfe politisch bereichernd und in der einfühlsamen Übertragung von Jan Wilm auch literarisch anspruchsvoll.
Roy schreibt aus einer klaren, bescheidenen Mission heraus: ›Die Welt muss neu erfunden werden. Mehr nicht.‹
Einleitung
Während wir über den Titel dieses Buches diskutierten, fragte mich mein britischer Verleger Simon Prosser, woran ich dächte, wenn ich an Azadi dachte. Ich war überrascht, als ich ohne zu zögern antwortete: »An einen Roman.« Denn ein Roman verleiht einer Schriftstellerin die Freiheit, so komplex zu schreiben, wie sie es möchte – sich durch Welten, Sprachen und Zeit, durch Gesellschaften, Gemeinschaften und Politik zu bewegen. Ein Roman kann endlos kompliziert und vielschichtig sein, und dies heißt nicht dasselbe wie vage, aufgebauscht oder willkürlich. Für mich ist ein Roman verantwortungsvolle Freiheit. Echte, uneingeschränkte Azadi – Freiheit. Einige der Essays in diesem Band sind mit den Augen einer Romanschriftstellerin aus dem Universum ihrer Romane heraus geschrieben worden. Einige von ihnen handeln davon, wie sich die Fiktion mit der Welt vereint und zur Welt wird. Alle wurden zwischen 2018 und 2020 geschrieben, zwei Jahre, die sich in Indien wie 200 anfühlten. In dieser Zeit, in der sich die Corona-Pandemie durch uns hindurchbrennt, schreitet unsere Welt durch eine Pforte. Wir haben eine Reise an einen Ort unternommen, und es erscheint unwahrscheinlich, dass wir von diesem Ort zurückkehren können, zumindest nicht, ohne einen harten Bruch mit der Vergangenheit vollzogen zu haben, mit der sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Vergangenheit.
Dies ist das Thema des vorletzten Essays dieses Bandes. Das Coronavirus hat ein weiteres, noch schrecklicheres Verständnis von Azadi mit sich gebracht. Das freie Virus, das die internationalen Grenzen unsinnig erscheinen ließ, ganze Bevölkerungen einsperrte und die moderne Welt zum Stillstand brachte, wie nichts anderes je zuvor dazu in der Lage war. Es wirft ein anderes Licht auf das Leben, das wir bisher geführt haben. Es zwingt uns, die Werte zu hinterfragen, auf denen wir unsere modernen Gesellschaften aufgebaut haben – was wir verehren und was wir missachten wollen. Wenn wir durch diese Pforte in eine andere Art von Welt schreiten, werden wir uns fragen müssen, was wir mitnehmen wollen und was wir hinter uns lassen werden. Vielleicht haben wir nicht immer eine Wahl – doch nicht darüber nachzudenken wird keine Option sein. Und um darüber nachzudenken, brauchen wir ein noch tieferes Verständnis für die vergangene Welt, für die Verwüstung, die wir auf unserem Planeten angerichtet haben, und für die tiefe Ungerechtigkeit zwischen den Mitmenschen, die wir zu akzeptieren gelernt haben. Hoffentlich werden einige dieser Essays, die geschrieben wurden, bevor die Pandemie über uns hereinbrach, einen kleinen Beitrag dazu leisten, dass wir mit diesem Riss umzugehen lernen. Zumindest markieren diese Essays einen geschichtlichen Moment, der von einer Schriftstellerin festgehalten wurde, wie eine metaphorische Startbahn, bevor das Flugzeug, in dem wir alle sitzen, zu einem unbekannten Ziel abhob. Eine Angelegenheit von akademischem Interesse für die zukünftige Geschichtsschreibung.
Der erste Aufsatz ist die »W.G. Sebald Lecture on Literary Translation«, die ich im Juni 2018 in der British Library in London gehalten habe. Vieles darin beschäftigt sich damit, wie die chaotische Teilung der Sprache, die wir als Hindustani kannten und die in zwei getrennte Sprachen mit zwei getrennten Schriftsystemen vollzogen wurde – heute leider etwas willkürlich Hindi und Urdu genannt (wobei Hindi fälschlicherweise mit Hindus und Urdu mit Muslimen assoziiert wird) –, wie diese Teilung das gegenwärtige Projekt des Hindu-Nationalismus um mehr als ein Jahrhundert vorwegnahm.
Viele von uns hofften, dass 2018 das letzte Jahr der Regierung von Narendra Modi und seiner hindu-nationalistischen Partei sein würde. Die frühen Essays in dieser Sammlung spiegeln diese Hoffnung wider. Als die Parlamentswahlen im Jahr 2019 näher rückten, zeigten Umfragen, dass die Popularität von Modi und seiner Partei dramatisch zurückging. Wir wussten, dieser Moment war gefährlich. Viele von uns rechneten mit einem vorgetäuschten Anschlag oder gar einem Krieg, der den Wind im Land ganz gewiss drehen würde. Einer der Essays – »Zu Zeiten der Wahl in einer gefährlichen Demokratie« vom 3. September 2018 – befasst sich unter anderem mit dieser Angst. Wir hielten unseren kollektiven Atem an. Im Februar 2019, einige Wochen vor den Parlamentswahlen, ereignete sich der Anschlag. Ein Selbstmordattentäter sprengte sich in Kaschmir in die Luft und tötete 40 Sicherheitskräfte. Täuschungsmanöver hin oder her, das Timing war perfekt. Modi und die Bharatiya Janata Party gewannen erneut die Wahl.
Und jetzt, nur ein Jahr nach Beginn seiner zweiten Amtszeit, hat Modi durch eine Reihe erschreckender Maßnahmen, die in diesem Buch behandelt werden, Indien bis zur Unkenntlichkeit umgebaut. Die Infrastruktur des Faschismus starrt uns ins Gesicht; die Pandemie beschleunigt diesen Prozess auf unvorstellbare Weise, und dennoch zögern wir, den Faschismus beim Namen zu nennen.
Ich begann, diese Einleitung zu schreiben, als sich US-Präsident Donald Trump und seine Familie in der letzten Februarwoche 2020 zu einem Staatsbesuch in Indien aufhielten. Auch sie mussten also durch den Riss, durch die Pandemie-Pforte, gehen. Der erste Fall von Covid-19 in Indien war am 30. Januar gemeldet worden. Niemand, am allerwenigsten die Regierung, schenkte ihm Beachtung. Es lag mehr als 200 Tage zurück, dass der Bundesstaat Jammu und Kaschmir seines Sonderstatus beraubt und einer Kommunikationsblockade unterworfen worden war, und mehr als zwei Monate, seit ein neues antimuslimisches, verfassungswidriges Staatsbürgerschaftsgesetz Millionen von Demonstrierenden auf die Straßen Indiens getrieben hatte. In einer öffentlichen Rede vor einer Menge, die Modi- und Trump-Masken trug, informierte Donald Trump sein indisches Publikum darüber, dass man in Indien Cricket spielt, Diwali feiert und Bollywood-Filme dreht. Wir waren dankbar für diese Einsichten über uns selbst. Nebenbei verkaufte er uns MH-60-Hubschrauber im Wert von drei Milliarden US-Dollar. Selten hat sich Indien öffentlich in derartiger Weise gedemütigt.
Unweit der Präsidentensuite des Hotels, in dem Trump abstieg, und nicht weit vom Hyderabad House, in dem er Handelsgespräche mit Modi führte, stand Delhi in Flammen. Bewaffnete hinduistische Bürgerwehrmobs griffen mit Unterstützung der Polizei muslimische Menschen in Arbeitervierteln im Nordosten der Stadt an. Seit längerem schwelte bereits die Gewalt, und Politiker der Regierungspartei hatten völlig unverblümt Drohungen gegen muslimische Frauen ausgesprochen, die friedliche Sitzstreiks gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz veranstalteten. Als der Angriff begann, verteidigten sich die Menschen. Häuser, Geschäfte und Fahrzeuge wurden in Brand gesteckt. Viele, darunter ein Polizist, verloren ihr Leben. Viele weitere wurden mit Schussverletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Entsetzliche Videos kursierten im Internet. In einem sind schwerverletzte junge muslimische Männer zu sehen, die auf der Straße nebeneinandergelegt und manche sogar von Polizisten aufeinander geworfen wurden, während man sie dazu zwang, die Nationalhymne zu singen. (Einer von ihnen, Faizan, starb daran, dass ihm ein Polizeischlagstock in die Kehle gerammt wurde.)[1]
Trump verlor kein Wort über das Grauen, das ihn umgab. Stattdessen verlieh er Narendra Modi, die spalterischste, meist gehasste politische Figur im modernen Indien, den Titel »Vater der Nation«. Bis vor kurzem war dies der Titel Gandhis. Ich bin kein Fan von Gandhi, doch sicherlich hat nicht einmal er das verdient.
Nach Trumps Abreise dauerte die Gewalt tagelang an. Mehr als 50 Menschen starben. Etwa 300 kamen mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus. Tausende von Menschen mussten in Flüchtlingslager ziehen. Im Parlament lobte der Innenminister die Polizei sowie sich selbst. Mitglieder der Regierungspartei hielten Reden vor ihren grinsenden Anhängern, in denen sie Muslime mehr oder weniger beschuldigten, die Gewalt provoziert, sich selbst angegriffen, ihre eigenen Geschäfte und Häuser niedergebrannt und ihre eigenen Leichen in die offenen Abwasserkanäle in ihrer Nachbarschaft geworfen zu haben. Die Regierungspartei, ihre Trolle in den sozialen Medien und die von ihr kontrollierten elektronischen Medien bemühten sich nach Kräften, die Gewalt als hinduistisch-muslimischen »Aufstand« darzustellen. Es war kein Aufstand. Es war der Versuch eines Pogroms gegen Menschen muslimischen Glaubens, angeführt von einem bewaffneten, faschistischen Mob.
Und während noch Leichen im Dreck gefunden wurden, berieten indische Regierungsbeamte erstmals über das Virus. Als Modi am 24. März den landesweiten Lockdown ankündigte, brachte Indien all seine schrecklichen Geheimnisse ans Licht. Sie waren für alle Welt sichtbar.
Was liegt vor uns?
Die Welt muss neu erfunden werden. Mehr nicht.
6. April 2020
Nachbemerkung
Im April 2021 verfasste Arundhati Roy einen zweiten großen Essay über die Corona-Pandemie, die inzwischen durch den Ausbruch der Delta-Variante in Indien ungeahnte Verheerungen angerichtet hatte: »Wir erleben hier ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit«. Die indische Politik im Angesicht der...
Erscheint lt. Verlag | 27.10.2021 |
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Übersetzer | Jan Wilm |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Anspruchsvolle Literatur • Ausbeutung • Corona • Das Ministerium des äußersten Glücks • Der Gott der kleinen Dinge • Faschismus • Freiheit • Gesellschaft • Hinduismus • Hoffnung für alle • Indien • Klimawandel • Nationalismus • Optimismus • Pandemie • politische Essays • Überwachung |
ISBN-10 | 3-10-491487-7 / 3104914877 |
ISBN-13 | 978-3-10-491487-9 / 9783104914879 |
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