Ansuz - Das Flüstern der Raben (1) (eBook)
800 Seiten
Arctis Verlag
978-3-03880-147-4 (ISBN)
Malene Sølvsten, geboren 1977, debütierte 2016 mit dem ersten Band der Fantasy-Trilogie Das Flüstern der Raben und wurde im selben Jahr für den 'Buchpreis der Leser:innen' ('Læsernes Bogpris') nominiert. Die Serie entwickelte sich in Dänemark rasch zu einem Überraschungserfolg und Bestseller, für den die Autorin und 2018 den 'Edvard P. prisen', der vom dänischen Bibliotheksverband jährlich vergeben wird, erhielt. Die gelernte Ökonomin lebt mit ihrer Familie in Kopenhagen, wo sie inzwischen als Vollzeit-Autorin arbeitet.
Malene Sølvsten, geboren 1977, debütierte 2016 mit dem ersten Band der Fantasy-Trilogie Das Flüstern der Raben und wurde im selben Jahr für den 'Buchpreis der Leser:innen' ('Læsernes Bogpris') nominiert. Die Serie entwickelte sich in Dänemark rasch zu einem Überraschungserfolg und Bestseller, für den die Autorin und 2018 den 'Edvard P. prisen', der vom dänischen Bibliotheksverband jährlich vergeben wird, erhielt. Die gelernte Ökonomin lebt mit ihrer Familie in Kopenhagen, wo sie inzwischen als Vollzeit-Autorin arbeitet.
Kapitel 1
Monster stupste mich mit der Schnauze an. Er legte keine Kraft hinein, trotzdem rollte mich jeder Schubs beinahe auf den Bauch. Auf allen vieren stand er neben meinem Bett und schaute auf mich herab, was viel über seine Größe aussagt.
Wenn ich gefragt werde, was für eine Rasse mein Hund ist, antworte ich normalerweise, er sei eine Mischung mit irischem Wolfshund. Dass er ganz sicher nicht mir gehört, sondern in höchstem Maße sich selbst, und ich den Verdacht hege, dass er nur zu einem Bruchteil Irischer Wolfshund ist und der Rest von ihm aus Grizzlybär, vermengt mit Mammut, besteht, behalte ich meist lieber für mich.
»Habe ich im Schlaf geschrien, Monster?« Mit einer müden Bewegung tätschelte ich seinen großen Kopf.
Er nickte.
Nein, verbesserte ich mich. Natürlich nickt ein Hund nicht.
Die Augustmorgensonne warf ihre Strahlen durchs Fenster, und die Uhr zeigte halb acht. Oh nein! Ich hatte noch eine halbe Stunde, bis mein erster Schultag begann. Wenn die Oberstufe am Gymnasium so ähnlich war wie meine Jahre in der Realschule, würde es nicht leicht werden.
Ich streckte mich, atmete kräftig aus und kramte im Schrank nach einer schwarzen Jeans und einem schwarzen Kapuzenpullover.
Monster legte seine Pfoten auf den Stuhl, auf dem ich ein gelbes T-Shirt bereitgelegt hatte, damit ich der Welt zur Abwechslung mal nicht komplett in Schwarz begegnen würde. Er legte den Kopf schief.
»Ich kann doch nicht«, sagte ich zu ihm.
Er seufzte. Dieser Hund hatte offenbar ein ziemlich unhundehaftes Interesse an meiner Kleidung. Vielleicht schrieb ich ihm aber auch ein paar Eigenschaften zu, die er unmöglich besitzen konnte.
»Ein andermal«, versprach ich, während ich mir die Klamotten überzog. Dann legte ich mich auf den Boden und machte Liegestütze. Ich schaffte nur fünfzig, bevor die Zeit knapp wurde.
Wir eilten in die Küche, was nur wenige Schritte waren, denn alles außer der Toilette und dem Bad befand sich im selben Raum. Ich öffnete eine Rolle mit Schokokeksen und gab Monster einen. Resigniert sah er den Keks an, machte sich aber dennoch laut schmatzend darüber her.
Ich nahm auch einen Bissen, legte den Keks aber schnell wieder zurück. In meinem Bauch machte sich schon jetzt ein beklommenes Gefühl breit. Stattdessen ging ich ins Bad. Wie immer erschien mir mein Spiegelbild ein bisschen fremd. Das Mädchen, das mir entgegensah, hatte rabenschwarzes Haar, bleiche Haut, große, ein wenig hervorstehende blaugrüne Augen, eine lange spitze Nase und kräftige, dunkle Augenbrauen – die eine war von einer Narbe durchzogen.
Was mein Äußeres anging, hatte ich kein Glück gehabt. Auch damit nicht.
Aus Gewohnheit ließ ich den Finger über die lange, verzerrte Narbe gleiten, die von der Mitte meines Brustkorbs zwischen den Brüsten hindurch nach unten verläuft und kurz über dem Nabel endet. Ich hatte keine Ahnung, woher sie stammte. Wer für die an meiner Augenbraue verantwortlich war, wusste ich dafür umso besser.
Ich kaschierte meine hässlichen Züge mit schwarzem Eyeliner und Mascara, dann stapfte ich aus dem Badezimmer. Mit der Tasche in der Hand rief ich Monster »Kommst du?« zu.
Er lief den ganzen Weg bis zum Gymnasium neben meinem Fahrrad her, aber ich wusste nicht, was er tun würde, während ich den ganzen Tag dort drinnen zubrachte. Als ich das Rad abstellte, rannte er weiter auf den Kraghede Skov zu, den Wald hinter den Fußballfeldern der Schule. Ich schaute ihm nach und fragte mich wie immer, ob es wohl das letzte Mal war, dass ich ihn sah. Am Waldrand drehte er sich noch einmal um und bellte laut, ehe er zwischen den Bäumen verschwand.
Das Ravnssted-Gymnasium gleicht einer Handvoll gigantischer rotbrauner Legoklötze, die ein Riesenbaby wahllos zusammengesteckt hat. An das Schulgelände grenzt eine der beiden Grund- und Realschulen von Ravnssted. Beide habe ich für eine jeweils kurze Zeit besucht. Auf der anderen Seite liegt der Kraghede Skov. Irgendwann hatte ich mal einen Stadtplan in den Händen gehabt und fand, dass der Wald von oben aussieht wie ein Arm, der die Stadt in einem Halbkreis fest umklammert. Der breite Oberarm des Waldes schirmt Ravnssted nach Osten hin ab, wird im Norden immer dünner und sieht aus wie ein Finger, der anklagend nach Westen zeigt. Dahinter kommt nichts anderes mehr als das Große Vildmose-Moor, Geisterstädte und Ferienhäuser, bevor man die Westküste und die Stadt Jagd erreicht.
Drinnen las ich den Brief mit praktischen Informationen und enthusiastischen Willkommensgrüßen, den mir das Gymnasium geschickt hatte.
Die anderen machten einen Bogen um mich – abgesehen von dem Mädchen, dessen Schulter schmerzvoll gegen meine stieß. Ich war mir nicht sicher, ob es mit Absicht passiert war oder ob sie mich nur nicht bemerkt hatte. Die wenigen, die in meine Richtung sahen, rümpften die Nase wegen meines schwarzen Outfits und des dunklen Make-ups. Oder vielleicht taten sie es auch einfach bloß meinetwegen.
Ich drückte mich an die Wand und versuchte, die anderen Schüler zu ignorieren. Als Erstes musste ich den Klassenraum 20 im Orangen Gang finden.
Nachdem ich mithilfe der dem Schreiben beigelegten Karte ein Stück gegangen war, fand ich heraus, woher der Orange Gang seinen Namen hatte. Oh mein Gott. Noch nie in ihrer Geschichte war diese Farbe derart missbraucht worden. Wände, Türen und Decke waren in verschiedenen Orangetönen gestrichen. Selbst der Acrylteppich leuchtete wie eine Apfelsine. Die Bilder an den Wänden waren offensichtlich aus demselben Farbspektrum ausgewählt worden. An die Tür zum Raum 20 hatte jemand ein kariertes Blatt Papier geklebt, auf dem in bunten Buchstaben Willkommen 11B stand. Das Letzte, was diesem farbenmäßig beanspruchten Gang fehlte, waren noch mehr knallige Farben.
Ich betrat das Klassenzimmer, das zu meiner Überraschung halb leer war. Obwohl ich verschlafen hatte, war es mir gelungen, um zehn vor acht da zu sein. Die wenigen anderen, die schon im Raum saßen, steckten flüsternd ihre Köpfe zusammen, ohne Hallo zu sagen.
Nette Begrüßung.
Die Tische waren in einem Hufeisen aufgestellt, und ich wählte einen mittleren Platz an einer der Längsseiten, mit so vielen freien Plätzen daneben wie möglich. Mit einem Gefühl, als würde mir die Brust eingeschnürt, setzte ich mich auf die Stuhlkante und richtete den Blick auf meine Hände, die ich auf dem Tisch ineinander verschränkte.
Je mehr sich der Klassenraum füllte, desto stärker fühlte ich die Vergangenheit. Oder besser gesagt die Vergangenheiten. Ich spüre von fast allen Menschen ein wenig. Von manchen mehr als von anderen. Nur bei wenigen kann ich die Vergangenheit gar nicht sehen. Das gilt zum Beispiel für meinen einzigen Freund Arthur. Aber häufig nehme ich die Gefühle einer Person mit einer Verzögerung von einer Sekunde wahr, und ich erkenne die Grundstimmung der meisten. Also die Gefühle, die in ihrem Leben überwiegen. Man kann sie Auren nennen, obwohl ich keine Regenbogen um Leute herum sehe. Bei manchen empfange ich auch Bilder, die kurzen Filmen ähneln. Wenn ich eine Person berühre, kann ich einen Flash aus ihrer Vergangenheit hervorrufen, daher vermeide ich Körperkontakt. Das Gleiche geschieht, wenn andere mich berühren, und das vermeiden sie eigentlich immer.
Klein-Mads saß auf der Längsseite mir gegenüber und redete ebenfalls mit niemandem. Wir hatten es beide schwer gehabt in der Schule, in dem Jahr, in dem ich in Vringelby wohnte, dennoch taten wir uns nie zusammen. Aus der Entfernung hatte ich seine schmerzvolle Wandlung von einem riesigen Kind zu einem riesigen Teenager miterlebt. Sein Wachstum hatte offensichtlich nicht aufgehört seit meinem Weggang von der Dorfschule in Vringelby vor etwas mehr als drei Jahren, und mit einer Größe von deutlich über zwei Metern war er der Inhaber des ironischsten Spitznamens der Gegend. Hier oben sind Spitznamen eine Art Sport. So viel anderes gibt es nicht zu tun. Ich selbst habe gar nicht wenige gehabt. Psycho ist der, der hängen geblieben ist.
Peter kam in den Klassenraum, und mit einem Schlag war mein Körper kampfbereit. Aus dem Jungen, der mir beigebracht hatte, sich zu prügeln – lasst uns einfach sagen, als Sparringspartner –, war ein junger Mann geworden, doch sein Blick war derselbe geblieben. Boshaft und kriegerisch. Oder vielleicht war er das nur, wenn er mich ansah.
Ich dachte daran, wie er und zwei andere Jungen mich durch den Kraghede Skov verfolgt hatten. Es hatte mich eine gespaltene Augenbraue, vier geprellte Rippen und ziemlich viel Stolz gekostet, dass ich es nicht geschafft hatte, ihm und seinem Schlägertrupp zu entkommen.
Ich sah auf die leicht flache Nase, die sein ansonsten hübsches Gesicht entstellte. Er war nicht mehr so cool gewesen, nachdem ich ihm den Baseballschläger abgenommen hatte, an diesem Tag etwa drei Jahre nach dem Überfall im Wald. Es war dumm von ihm gewesen, allein auf mich loszugehen. Jetzt trafen sich unsere Blicke, und ich rieb über meinen eigenen, geraden Nasenrücken. Das muss man sich mal vorstellen: Er verprügelt und tyrannisiert mich jahrelang, und ich zertrümmere seine Nase ein Mal mit einem Baseballschläger, und dann bin ich diejenige, die im Jugendknast landet.
Peter hielt meinem Blick stand und tippte mit dem Finger auf die Stelle über seinem Auge, wo in meiner Augenbraue die Narbe aufleuchtete.
Die anderen im Klassenzimmer kannte ich flüchtig. Minna Østergaard glitt aristokratisch in den Raum. Außerdem sah ich Niller, Suzuki-Ib, Johnny-Bum aus Rakkeby und Alice mit den langen roten Haaren. Von dem halben Jahr, in...
Erscheint lt. Verlag | 17.9.2021 |
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Reihe/Serie | Das Flüstern der Raben | Das Flüstern der Raben |
Übersetzer | Franziska Hüther, Justus Carl |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | action • Außenseiter • Außenseiterin • Dänemark • Edda • Fantasy • Götter • Halbgötter • Kampf • Mordserie • Mut • Nordische Mythologie • Nordjütland • Odin • Parallelwelt • Raben • Romance • Rune • Sagen • Spannung • Thriller • Trilogie |
ISBN-10 | 3-03880-147-X / 303880147X |
ISBN-13 | 978-3-03880-147-4 / 9783038801474 |
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