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Der Verrückte (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
512 Seiten
Paul Zsolnay Verlag
978-3-552-07264-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Verrückte - Henning Mankell
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Eine Entdeckung: Henning Mankells erster Spannungsroman. Von Ausgrenzung, politischer Verfolgung und der Notwendigkeit, sich mit Geschichte auseinanderzusetzen.
Ein kleiner Ort in Norrland nach dem Krieg. Bertil Kras kommt aus Stockholm, um hier sein Glück zu machen. Er findet Arbeit im Sägewerk. In einem Lager in der Nähe waren in den letzten Kriegsjahren Kommunisten und andere politische Oppositionelle interniert. Bertil, selbst überzeugter Kommunist, und eine Gruppe Gleichgesinnter wollen diese Vergangenheit an die Öffentlichkeit bringen. In einer kalten Januarnacht brennt das Sägewerk ab, und man verdächtigt Bertil, den Brand gelegt zu haben. Er droht alles zu verlieren und läuft auf dem Rangierbahnhof Amok. 'Der Verrückte' erzählt die Geschichte eines Arbeiters, der in der aufstrebenden Nachkriegsgesellschaft zum Opfer wird. Ein früher Roman von Henning Mankell über ein dunkles Kapitel der schwedischen Geschichte.

Henning Mankell (1948 - 2015) lebte als Schriftsteller und Theaterregisseur in Schweden und Maputo (Mosambik). Seine Romane um Kommissar Wallander sind internationale Bestseller. Zuletzt erschienen bei Zsolnay Treibsand (Was es heißt, ein Mensch zu sein, 2015), die Neuausgabe von Die italienischen Schuhe (Roman, 2016), Die schwedischen Gummistiefel (Roman, 2016) und die frühen Romane Der Sandmaler (2017), Der Sprengmeister (2018) und Der Verrückte (2021).

Das Lager


1.


Das Erste, woran er beim Aufwachen dachte, war der Hunger. Er lag auf dem Rücken und schlug die Augen auf. Die Hände hatte er unter der grauen Wolldecke, damit die Wärme nicht verlorenging. Ganz ruhig lag er da und sah sich im Zimmer um. Das dunkelblaue Rollo war heruntergezogen, und das Licht verriet nicht, wie das Wetter an diesem Morgen war. Er horchte, doch alles war seltsam still. Er fragte sich, wie spät es wohl sein mochte. Er streckte sich und stellte fest, dass er ausgeschlafen war.

Ein Stück Schokolade, dachte er. Mehr habe ich gestern nicht gegessen. Er presste die Hand auf den Magen und spürte ein Knurren.

Einige Minuten blieb er in dieser Stille liegen, dann stand er auf und kleidete sich an. Er wusch sich, hielt sein Gesicht dicht an den Spiegel und betrachtete seine Augen. Langsam strich er mit einer Hand über die Augenbrauen. Dann zog er das Rollo hoch und schaute aus dem Fenster. Eine dicke Wolkendecke lag über dem Marktflecken. Sein Blick folgte der holprigen Sandstraße.

Dabei erinnerte er sich, dass er in der Nacht geträumt hatte. Er hatte in einem Gasthaus gesessen und hatte vor sich auf dem klebrigen Tisch ein Pilsner. Als er trinken wollte, war ihm, als hätte er im Schaum seine Fingerabdrücke gesehen. Er hatte das Glas wieder zurückgestellt, da begann das Bier plötzlich mit einer zischenden blauen Flamme, ähnlich der einer Lötlampe, zu brennen. Hier war der Traum zu Ende gewesen.

Er schmunzelte darüber und pfiff leise vor sich hin, als er durch die Zimmertür trat, abschloss und die Stufen in Helmer Gustafssons Pension hinabstieg. Auf halber Strecke der gewundenen, mit einem zerschlissenen roten Teppich belegten Treppe sah er, dass Gustafsson in seiner beengten Portiersloge saß. Er grüßt den Pensionswirt mit einem Nicken, und als er den Schlüssel auf die braune Holztheke legt, wünscht er ihm einen guten Morgen. Dann geht er vors Haus und spürt, wie ein milder Nieselregen ihm langsam übers Gesicht streicht. Mit den Händen in den Jackentaschen macht er sich auf, um zu frühstücken.

Viertel vor neun betritt er das Büro des Sägewerks. Durch eine beschlagene Glasscheibe hat er einige Schatten erkennen können. Am Waldrand hinter ihm liegen die Baumstämme hoch aufgeschichtet, und aus dem Inneren des langgezogenen roten Gebäudes dringt das Kreischen der Sägen.

»Ich suche Arbeit«, sagt er mit einem freundlichen Nicken. Man verweist ihn auf einen Raum weiter innen, in dem sich der Personalchef und der Buchhalter ein Büro teilen.

»Ich suche Arbeit«, sagt er erneut.

»Bitte, nehmen Sie Platz«, antwortet Herbert Nilsson, der Personalchef. Bertil setzt sich auf einen hell gebeizten Stuhl mit Gummikappen an den Beinen. Nilsson zieht ein Einstellungsformular aus einer der Schreibtischladen und nimmt einen gelben Bleistift zur Hand. Dann setzt er seine Metallbrille auf und betrachtet Bertil. Von der Schreibtischlampe fließt mattes Licht in den Raum, und der Buchhalter sitzt mit gebeugtem Rücken zum Besucher.

»Wie war der Name noch gleich?«, fragt Nilsson und sieht Bertil dabei unentwegt an.

»Bertil Kras.«

Herbert Nilsson schreibt und zögert beim Nachnamen.

»Schreibt sich das, wie es klingt?«

Bertil nickt.

»K r a s«, sagt er. Der Buchhalter richtet sich plötzlich auf und dreht sich auf dem knarrenden Schreibtischsessel nach hinten. Er ist sehr alt, und seine Augen sind stark gerötet. Dann widmet er sich wieder seiner Arbeit, in der Haltung des Kurzsichtigen über die Papiere gebeugt.

»Geboren?«

Bertil antwortet.

Danach entsteht unerwartet eine kurze Pause.

»Sie sind nicht von hier«, sagt Nilsson.

»Ich komme aus Stockholm«, antwortet Bertil. »Ich wollte mal weg von dort und mich etwas umsehen. In der Zeitung stand, dass die Sägewerke immer Bedarf an Arbeitskräften hätten.«

Nilsson nickt und kehrt zu seinem Formular zurück. Bertil hätte gern ein wenig vor sich hin gepfiffen. Seltsamerweise verspürt er in dieser Situation Langeweile. Er wundert sich darüber, hat er doch dem Augenblick, in dem er, weit weg, eine Anstellung bekommen sollte, lange entgegengefiebert. In seinen Träumen war es ein Augenblick der Spannung und erlösender Freiheit gewesen, voller kindlicher Neugier auf eine neue Wendung im Leben.

Herbert Nilsson schreibt mit seinem stumpfen Bleistift, notiert sorgfältig alle Auskünfte von Bertil. Aus diesen Angaben ergibt sich der Eindruck, dass Bertil Kras für die Arbeit an der Säge gut geeignet wäre. Seine Jugend und körperliche Verfassung legen zudem nahe, mit ihm einen der freien Posten am Stapelplatz zu besetzen.

»Bist du vorbestraft?«, fragt Nilsson. Es ist das erste Mal, dass er den Stellenbewerber duzt.

»Nein«, antwortet Bertil. »Gibt es eine Stelle für mich?«

»Ja, es ist etwas frei«, antwortet Nilsson und schaut mit zugekniffenen Augen auf die stumpfe Bleistiftspitze. »Arbeit haben wir.«

Für das Rader’sche Sägewerk zeichnet sich wie für die meisten anderen Sägebetriebe ein vorsichtiger Aufschwung ab. Das verwüstete Europa braucht Holz, um langsam etwas Neues aufzubauen. Die schwedische Industrie blieb von Kriegsschäden verschont und liegt somit ein gutes Stück voraus.

Nilsson schreibt und lächelt dabei. Bald ist er sechzig. Zum ersten Mal in seinem Leben hat er keinen Grund zur Beunruhigung. Für ihn wird es Arbeit geben, bis er in Rente geht. Wann immer er einen neuen Mitarbeiter aufnimmt, merkt er, wie diese Gewissheit Kraft gewinnt.

»Wann könntest du denn anfangen?«, fragt er.

»Sofort«, antwortet Bertil.

»Das ließe sich machen«, sagt Nilsson. »Ich gehe mit dir nach draußen und zeige dir alles.«

Er lässt Bertil das Formular unterschreiben, legt es in eine Schreibtischschublade, und gemeinsam treten sie in den weichen Nieselregen. Der nasse Sandplatz gibt unter ihren Schritten nach. Herbert Nilsson stapft in grünen Gummistiefeln voraus, den Kragen seiner Regenjacke aufgestellt. Bertil hält sich schräg hinter ihm und pfeift leise vor sich hin.

»Du bekommst gute Kollegen«, sagt Nilsson. »Viele von ihnen sind schon lange hier. Sehr lange.«

Bertil antwortet mit einem Nicken.

Als sie um einen hohen Stapel mit Fichtenbrettern biegen, begegnet ihnen Direktor Rader. Vor lauter Eile stößt er mit Herbert Nilsson zusammen. Der Direktor nickt ihm kurz zu und wirft einen fragenden Blick auf Bertil.

»Er ist neu«, sagt Nilsson. »Ich möchte ihn hier am Stapelplatz beschäftigen.«

»Also dann«, sagt Direktor Rader. »Wie ist der Name?«

»Bertil Kras.«

»Von hier?«

»Nein, aus Stockholm«, antwortet Bertil.

»Aha. Und was veranlasst einen hierherzukommen?«

»Ich will mich ein wenig umsehen.«

Direktor Rader legt flüchtig die Stirn in Falten. Herbert Nilsson spürt, wie die Feuchtigkeit durch die Stiefel dringt.

»Wir haben unsere Leute am liebsten fest bei uns beschäftigt«, sagt der Direktor. »Ich bin Direktor Rader.«

Beinahe demonstrativ streckt er die Hand aus. Bertil greift nach ihr und spürt einen weichen Händedruck.

»Ich habe vor zu bleiben«, sagt er.

»Das wäre gut«, sagt der Direktor, nickt Nilsson erneut zu und setzt seinen Weg fort.

»Er ist in Ordnung«, sagt Nilsson, als sie ihre Runde wiederaufnehmen. Jetzt gehen sie nebeneinander.

»Seiner Familie hat das hier immer schon gehört«, fügt er hinzu.

»Familienunternehmen sind nichts Gutes«, sagt Bertil.

Nilsson bleibt abrupt stehen.

»Es ist falsch, dass eine einzige Familie über so viel Geld und so viele Leute bestimmen kann«, fährt Bertil fort.

Nilsson starrt seinen neuen Angestellten misstrauisch an.

»So einer bist du also.«

»Ja«, sagt Bertil.

Nach ihrem Erkundungsgang kommt Bertil mit zurück ins Büro. Auf der Treppe fragt er, ob ihm das Sägewerk bei der Wohnungssuche behilflich sein könne. Mit der Hand am Türgriff denkt Nilsson einen Augenblick nach. Er werde sehen, was sich machen lässt, sagt er dann.

»Du bist unverheiratet, so war’s doch?«

»Ja«, antwortet Bertil.

Am Nachmittag sitzt er bei Helmer Gustafsson in der Küche und vereinbart mit ihm die Zimmermiete für die nächsten beiden Wochen. Bertil bezahlt im Voraus. Die Geldscheine liegen kreuz und quer über das rote Wachstuch verstreut.

In den Abendstunden geht er zum Fluss hinunter und tastet sich am unebenen Ufer entlang. Er spürt die...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2021
Übersetzer Andrea Zederbauer
Verlagsort Wien
Sprache deutsch
Original-Titel Vettvillingen
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 20. Jahrhundert • Abeiterklasse • Amok • Arbeiter • Bestseller • Frühwerk • Kommunismus • Krimi • Nachkriegszeit • Opposition • Sägewerk • Schweden • Stockholm • Vergangenheitsbewältigung • Wallander • Weltkrieg • Widerstand
ISBN-10 3-552-07264-0 / 3552072640
ISBN-13 978-3-552-07264-0 / 9783552072640
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