Herren der Lage (eBook)
192 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27154-8 (ISBN)
Lucian Wing, der 'Hinterwäldler mit Sheriffstern', bekommt hohen Besuch. Männer in Nadelstreifenanzug und Seidenkrawatte sieht man in dem kleinen Nest in Vermont selten. Der vollmundige Anwalt aus New York behauptet auf der Suche nach der verschwundenen Tochter seines Auftraggebers zu sein. Gemeinsam mit seinem neuen Deputy, dem wortkargen Treat, nimmt Wing die Spur auf. Doch schon bald wünscht er sich, er hätte auf seinen Instinkt gehört. Denn urbaner Großschnäuzigkeit sollte man niemals trauen. Castle Freeman ist zurück mit einem modernen Western über das ländliche Amerika - für Fans von 'Fargo' und 'Three Billboards'.
Castle Freeman wurde 1944 in San Antonio, Texas, geboren. In Chicago aufgewachsen, studierte er an der Columbia University. Heute lebt er in Vermont, arbeitete als Redakteur und schreibt Short Stories und Romane. Sein Roman 'Männer mit Erfahrung' (Nagel & Kimche, 2016) wurde 2015 mit Anthony Hopkins, Julia Stiles und Ray Liotta verfilmt. Zuletzt erschienen von ihm 'Auf die sanfte Tour' (Nagel & Kimche, 2017), 'Der Klügere lädt nach' (Nagel & Kimche, 2018) und Herren der Lage (Hanser, 2021).
„Castle Freeman kommt ohne Umschweife zur Sache. Mit zarten, aber präzisen Strichen wirft er eine hinreißende Figurenfamilie in die schlecht gelaunte Schönheit Vermonts – charmanter, beinharter Country Noir, in dem alle immer sehr viel klüger sind, als sie tun." Simone Buchholz
Rhumbas Deeskalation
Neun, nein, zehn Fahrzeuge standen vor dem Kruger-Haus, auf dem Rasen, auf der Straße, in der Zufahrt: zwei vom Sheriff Department, vier von der State Police, darunter eins, das als »Einsatzleitung« markiert war, zwei Rettungswagen, der zweitbeste Löschzug der Feuerwehr von Cardiff und ein Servicewagen der Telefongesellschaft. Die Ersten waren schon seit einer halben Stunde da. In der Zwischenzeit war nichts geschehen, alles war unverändert, und so warteten sie. Sie warteten darauf, dass sich irgendwas tat. Sie warteten auf mich.
Ich parkte meinen Pick-up an der Straße und ging zu ihnen, wobei ich darauf achtete, dass die Polizeiwagen sich zwischen mir und dem Haus befanden. Es war ein kleines Haus, das einen Anstrich brauchte. Genau genommen brauchte es einen Anstrich und einen reichen Besitzer, würde aber keins von beiden bekommen. Wir nannten es das Kruger-Haus, da es früher einem gewissen Kruger gehört hatte. Wem es jetzt gehörte, wusste ich nicht; es war vermietet. Eineinhalb Etagen, also schwer zu sehen, was oben passierte. Nicht gut. Vorn und hinten ein kleiner Garten, sonst nichts als Wald. Keine direkten Nachbarn. Gut.
Dwight Farrabaugh, Einsatzleiter und Captain der State Police, stand mit dem Feuerwehrhauptmann hinter dem Löschzug auf der Straße. Normalerweise würde sich ein Captain nicht zu einem Einsatz bei einem augenscheinlich ganz normalen häuslichen Streit herablassen, aber in diesem Fall waren angeblich Schusswaffen und minderjährige Kinder im Spiel. Bei Waffen in Verbindung mit Kindern werden alle sehr aufgeregt, einschließlich der Presse. Und darum beehrte uns Dwight mit seiner Anwesenheit.
Wingate war ebenfalls da. Offenbar war er aus dem Altersheim ausgebrochen und mit der Feuerwehr gekommen. Ich ging zu ihnen.
»Ah, da ist ja der Abreger«, sagte Farrabaugh. »Wo zum Teufel hast du gesteckt?«
»Ich hab auf der faulen Haut gelegen«, sagte ich. »Wie du. Hallo, Chief. Wo ist der neue Löschzug?« Die Feuerwehr von Cardiff hatte kürzlich einen neuen Wagen angeschafft und benutzte ihn für die meisten Einsätze, damit die Bürger, die dafür tief in die Tasche gegriffen hatten, ihn auch zu sehen bekamen, aber heute war er wohl in der Feuerwache geblieben.
»Ich will keine Löcher in meinem nagelneuen Löschzug«, sagte der Chief. »Besonders nicht von einem Penner wie Rhumba.«
»Leuchtet mir ein«, sagte ich. Und dann zu Wingate: »Ich denke, du bist im Ruhestand.«
Er zuckte die Schultern. »Wie du siehst«, sagte er.
Ich blickte mich um. Drei von der State Police standen am Waldrand und beobachteten das Haus mit Ferngläsern. Die Deputys waren vermutlich auf der anderen Seite und taten dasselbe. »Also«, sagte ich, »um was geht’s? Wieder mal Rhumba, nehme ich an.«
»Genau der«, sagte Dwight.
»Rhumba und wer noch?«
»Seine Frau. Und drei von ihren Kindern, vielleicht auch mehr. Drei, von denen wir wissen: zwei kleine, ein mittelgroßes.«
»Und die sind oben?«
Dwight nickte.
»Wissen wir, wie’s da drinnen aussieht?«
»Klar. Seine Frau hat ein blaues Auge. Sie hat sich in eine Ecke verkrochen. Die Kinder sind unter dem Bett.«
»Schlaue Kinder«, sagte ich. »Und Rhumba?«
»Unten. Er hat das Sofa vor die Vordertür geschoben und ist dahinter oder zumindest in der Nähe. Er geht herum.«
»Hintertür?«
»Führt in die Küche. Wir können in zehn Sekunden drin sein. Aber natürlich nur mit dem vollen Programm.«
»Natürlich«, sagte ich. »Aber lass uns die Sache erst mal langsam angehen. Okay?«
»Immer dasselbe mit dir«, sagte Dwight.
»Erst mal«, sagte ich.
»›Erst mal‹ heißt kurz, stimmt’s?«
»Natürlich«, sagte ich. »Waffen?«
»Eine Schrotflinte«, sagte Dwight.
»Sagt er«, sagte Wingate.
»Habt ihr sie gesehen?«, fragte ich.
»Nein«, sagte Dwight. »Aber letztes Mal hatte er eine. Wenn du dich erinnerst.«
»Ich erinnere mich«, sagte ich. »Haben wir eine Verbindung?«
»Da drüben«, sagte Dwight und zeigte auf den Servicewagen der Telefongesellschaft.
»Na dann«, sagte ich.
Ich saß im Fahrerhaus des Servicewagens, wartete darauf, dass Rhumba abnahm, und trank lauwarmen Kaffee aus einem Pappbecher. Irgendwie hatte Wingate Kaffee aufgetrieben. Wenn man vierzig Jahre bei der Polizei ist, kriegt man zwar nicht jeden Verbrecher, aber immer einen Kaffee. Wingate saß neben mir und hörte mit.
»Hallo?«, ertönte Rhumbas Stimme.
»Earl?«, sagte ich. »Earl, hier ist Lucian Wing. Wie geht’s dir da drinnen?«
»Leck mich«, sagte Rhumba. Er mochte es nicht, wenn man ihn mit seinem richtigen Namen ansprach.
»Okay, Rhumba«, sagte ich. »Wer ist sonst noch da?«
»Alle«, sagte Rhumba. »Die Schlampe, die Bälger, die ganze Bande.«
»Drei Kinder also?« Ich sah Wingate an. Er trank seinen Kaffee.
»Das fragst du mich?«, sagte Rhumba. »Aus jedem Baum fällt einer von euren Affenärschen, die mich ausspionieren sollen. Sag du mir doch, wie viele hier sind.«
»Wir haben drei Kinder gesehen.«
»Haha«, sagte Rhumba, »es sind aber vier. Vier und die Schlampe — alles eine Pampe, haha.«
»Der war gut«, sagte ich. »Was hast du vor?«
»Was denkst du denn, was ich vorhab?« Rhumba schien sich zu räuspern.
Ich erhöhte den Druck. »Rhumba?«
Er machte ein kleines Geräusch — es hätte ein Husten sein können, vielleicht auch ein Schluchzen. »Ich bring sie alle um«, sagte er.
»Okay«, sagte ich. »Okay, Rhumba, das ist angekommen. Ich höre dich klar und deutlich. Aber wir sind doch nicht in Eile, oder? Lass uns ein bisschen langsamer machen und verschnaufen.«
»Dann verschnauf doch«, sagte Rhumba. »Ich hab’s dir gesagt: Diesmal mach ich ernst.«
»Ich weiß, dass du nicht willst, dass den Kindern was passiert«, sagte ich.
»Du hast nicht den Furz einer Ahnung, was ich will oder nicht will«, sagte er. »Du sagst zwar, du weißt es, aber das stimmt nicht. Du weißt es nicht.«
»Stimmt«, sagte ich. »Das weiß ich nicht.«
»Ich hab’s so satt«, fuhr Rhumba fort, »ich hab’s so scheißsatt.«
»Ich weiß, Rhumba«, sagte ich. »Wir alle wissen das. Was du durchgemacht hast … Jeder andere wäre durchgedreht.«
»Und jetzt drehe ich durch«, sagte Rhumba.
»Ich weiß, Rhumba. Wir alle wissen … äh, Moment mal, bleib dran.«
Ich deckte mit der Hand die Sprechmuschel ab und sah Wingate an. »Betrunken ist er nicht«, sagte ich. »Hört sich jedenfalls nicht so an.«
»Nein«, sagte Wingate.
»Ich wollte, ich wüsste, ob er da drinnen wirklich eine Waffe hat wie damals«, sagte ich.
»Ich wollte auch, du wüsstest es«, sagte Wingate. »Der junge Dwight wird bald unruhig werden. Nicht mehr lange, dann heißt es: raten und reingehen.«
»Raten und reingehen«, sagte ich.
»Soll ich mal raten?«, sagte Wingate. »Er hat keine.«
»Woher weißt du das?«
»Ich weiß es nicht. Wenn ich’s wüsste, müsste ich nicht raten.«
»Tja«, sagte ich, »ich muss ihn auf einen anderen Kurs bringen.«
»Versuch’s mit einem neuen Spiel«, sagte Wingate.
»Könnte ich tun«, sagte ich. »Meinst du, es funktioniert?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, es rauszufinden.«
»Earl?«, sagte ich in den Hörer. »Earl? Bist du noch dran?«
»Leck mich.«
»Wir haben uns hier unterhalten und versucht, uns zu erinnern, wie das war mit dem Haus.«
»Haus? Was für’n Haus?«
»Dein Haus. In dem du jetzt gerade sitzt. Du hast es gemietet, stimmt’s?«
»Was?«
»Dein Haus. Das Haus, in dem du wohnst — du hast es gemietet, stimmt’s? Es gehört noch immer diesem Kruger, oder?«
»Wovon redest du eigentlich?«, fragte Rhumba. »Hast du mich nicht gehört? Ich hab gesagt … ich hab gesagt, ich bring sie alle um. Ich hab’s satt, und ich mein’s ernst.«
»Das hab ich verstanden, Earl«, sagte ich. »Aber ich hab dich nach dem Haus gefragt. Bist du Mieter? Und wer ist der Eigentümer? Noch immer Kruger?«
»Nein«, sagte Rhumba. »Der heißt Brown.«
»Brown?«, fragte ich ihn. »Der Brown, der am Diamond eine Jagdhütte hatte? Dessen Bruder in Vietnam gefallen ist? Wendell Brown?«
»Wer? Was?«
»Dein Vermieter, Earl«, sagte ich. »Hilf mir mal eben: Ist das nicht der, dessen Bruder gefallen ist? Die hatten eine Jagdhütte. Brad...
Erscheint lt. Verlag | 26.7.2021 |
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Übersetzer | Dirk van Gunsteren |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Children of the Valley |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Auf die sanfte Tour • Coen Brüder • Der klügere lädt nach • Fargo • Garry Disher • Hope Hill Drive • Humor • Krimi • Krimibestenliste September 2021 Deutschlandfunk Kultur • ländliches Amerkia • Männer mit Erfahrung • Neuerscheinung 2021 • #ohnefolie • ohnefolie • Provinz • Spannung • Three Billboards • Thriller • Twin Peaks • Vermont • Western • Witz |
ISBN-10 | 3-446-27154-6 / 3446271546 |
ISBN-13 | 978-3-446-27154-8 / 9783446271548 |
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