Die Tränen der Welt (eBook)
704 Seiten
C. Bertelsmann Verlag
978-3-641-26636-3 (ISBN)
Barcelona, 1901. Während soziale Unruhen die Stadt in Aufruhr versetzen, führt der ehrgeizige Maler Dalmau Sala ein Leben zwischen zwei Welten. Tagsüber gestaltet er Kacheln in einer Keramikfabrik und versucht in den elitären Kreisen seines Arbeitgebers seine Kunst zu verkaufen. Nach Feierabend kämpft Dalmau gemeinsam mit Emma, seiner großen Liebe, für die Rechte der Arbeiterklasse. Doch als ein tragisches Unglück geschieht, zerbricht ihre Beziehung. Jeder seiner Versuche, sie zurückzugewinnen, scheitert - bis Emma festgenommen wird. Als die Protestaktionen der Republikaner immer stärker ausarten, muss Dalmau um ihrer beider Leben fürchten und sich entscheiden: Wählt er die Flucht ins Ungewisse oder den Kampf für seine Ideale und für die Liebe?
Meisterhaft, packend und unterhaltsam porträtiert der Autor des Weltbestsellers Die Kathedrale des Meeres die aufstrebende Metropole Barcelona zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Ildefonso Falcones de Sierra, verheiratet und Vater von vier Kindern, arbeitet als Anwalt in Barcelona. Sein Debütroman 'Die Kathedrale des Meeres' war ein überwältigender internationaler Erfolg. Mit weltweit mehr als fünf Millionen verkauften Büchern hat sich Falcones als der bestverkaufte spanische Autor historischer Romane verewigt.
2
Dalmau blieb auf der engen, dunklen Treppe vor der Wohnung seiner Mutter stehen. Er spitzte die Ohren und lauschte ungläubig dem Geräusch, das zu ihm drang. Kein Zweifel: Es war das Surren der Nähmaschine. Dabei war Mitternacht lange vorbei, und zu dieser Stunde waren seine Mutter und Montserrat normalerweise schon im Bett. Seine Schwester musste früh aufstehen, um in die Fabrik zu gehen.
Nachdem er und Emma noch einmal miteinander geschlafen hatten, waren sie zum Paralelo gegangen, um ihren Hunger an einem der Straßenstände zu stillen und danach einen Kaffee zu trinken und dem fröhlichen Treiben zuzusehen. Denn während die Reichen und Bürger den Paseo de Gràcia dazu nutzten, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen und zu protzen, trafen sich die Arbeiter, Bohemiens, Immigranten und Leute ohne Arbeit – oder mit einer wenig empfehlenswerten – auf dem Paralelo, einer sehr breiten Straße, die eigentlich Marqués del Duero hieß, den linken Teil des Eixample abschloss und am einen Ende in den Hafen mündete. In einem Durcheinander, das bis in die Fahrbahn hineinragte, drängten sich hier neben Werkstätten, Fabriken und Lagern Holzbaracken mit einem bunten Warensortiment, Karussells und andere Fahrgeschäfte, ein Zirkus, Terrassencafés, Gaststätten, Bordelle, Tanzsalons und mehrere Theater. All das im angenehmen, warmen, fast gemütlichen Schein der Gaslaternen im Gegensatz zum grellen und blendenden Glanz der elektrischen Beleuchtung in einigen Straßen der Stadt.
Emma und Dalmau hatten sich gut gesättigt auf eine der Terrassen gesetzt und über den Tisch hinweg Händchen gehalten, geplaudert und sich tausendmal angelächelt, vor allem aber hatten sie das Stimmengewirr der Menschen genossen.
Dieser Lärm lag nun hinter ihm, als er mit einem Satz die letzten zwei Stufen bis zum Treppenabsatz nahm und in die Wohnung seiner Mutter stürzte. Er fand sie in ihrem Zimmer im Schein einer fast heruntergebrannten Kerze bei der Näharbeit. Josefa blickte nicht zu ihrem Sohn auf, um ihre geröteten Augen zu verbergen, die er dennoch bemerkte.
»Mutter, was ist passiert?« Er kniete sich neben sie und zwang sie, den Fuß anzuhalten, der zwanghaft das verfluchte schmiedeeiserne Pedal der Nähmaschine herunterdrückte. »Warum sind Sie so spät noch auf?«
»Sie ist verhaftet worden«, fiel Josefa ihm mit zittriger Stimme ins Wort.
»Was?«
»Montserrat ist verhaftet worden.«
Josefa wollte ihre Arbeit wieder aufnehmen, doch Dalmau hielt sie davon ab, diesmal mit einer Grobheit, die er sofort bereute.
»So hören Sie doch mit dem Nähen auf!«, schrie er. »Nein. Entschuldigen Sie.« Immer noch kniend, strich er über das strohige Haar seiner Mutter. »Entschuldigen Sie«, wiederholte er. »Sind Sie sicher? Woher wissen Sie das? Wer hat es Ihnen gesagt?«
»Eine Kameradin aus der Fabrik, María del Mar. Kennst du sie?« Dalmau nickte. Er war ihr einmal zusammen mit anderen Freundinnen seiner Schwester begegnet. »Sie ist gekommen und …«
Josefa konnte nicht weitersprechen, ein Hustenanfall hinderte sie daran. Dalmau eilte in die Küche, um ein Glas Wasser zu holen. Als er zurückkam, trat seine Mutter schon wieder aufs Pedal.
»Lass mich«, bat sie ihn nach einem Schluck Wasser. »Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Ich kann nicht schlafen. Ich kann nicht rausgehen, um meine Tochter zu suchen. Ich weiß nicht, wo sie ist. Was soll ich tun, außer zu nähen und zu weinen? Ich weiß nicht, wo man sie hingebracht hat.« Während sie sprach, nähte sie bereits wieder. »Bei deinem Vater wusste ich es. Auf die Festung. Da hatten sie ihn hingebracht.«
Dalmau trat einen Schritt zurück; sie kam ihm gealtert vor, hatte sie doch schon die Verhaftung ihres Ehemanns erleben müssen. Er sei unschuldig, hatte dieser ihr geschworen. Und sie hatte gewusst, dass er die Wahrheit sagte. Sie hatte ihn besucht. Sie hatte Einspruch eingelegt für ihn, auf der Festung, im Palast der Heeresleitung, im Rathaus. Sie war auf die Knie gefallen, hatte sich erniedrigt, so wie viele andere Ehefrauen, und um Gnade gebeten, die nie gewährt worden war. Die Soldaten hatten die Gefangenen gefoltert, manche, wie Tomás, so lange, bis deren Seele gebrochen war. Sie hatten sie zu Geständnissen gezwungen und unerbittlich verurteilt und bestraft.
»Es waren die Soldaten«, sagte sie plötzlich, als erriete sie Dalmaus Gedanken: Das Militärgericht war viel härter als das Zivilgericht. »Die Soldaten haben sie verhaftet.«
»Wir werden sie befreien«, sagte er, um seiner Mutter Mut zu machen.
Eine Gruppe von Frauen habe sich über den Kriegszustand hinweggesetzt, und während die anderen Arbeiter schweigend und mit gesenkten Köpfen eine der vielen Fabriken in Sant Martí betreten hätten, hätten sie zum Streik aufgerufen, zur Fortsetzung des Kampfes. Das Bataillon, das den Stadtteil überwacht habe, habe schonungslos eingegriffen. Manche Frauen seien entkommen, indem sie sich unter die Arbeiterinnen gemischt hätten, andere, wie Montserrat, nicht. Das erzählte ihm seine Mutter nun schluchzend und wiederholte dabei María del Mars Worte.
Dalmau wanderte unruhig durchs Zimmer. Was sollte, was konnte er tun? Er versuchte nachzudenken, aber das Surren der Nähmaschine lenkte ihn ab. Er sah das Spiegelbild der flackernden Kerze in der Fensterscheibe und ging darauf zu: Es war finstere Nacht. Wohin mochten sie Montserrat gebracht haben? Beim bloßen Gedanken an das, was diese Horde verbitterter Soldaten seiner Schwester antun könnte, wurde ihm schlecht. »Wir werden sie befreien«, wiederholte er, während sein Blick auf die Straße fiel.
Josefa hörte auf zu nähen und sah ihn mit einem Funken Hoffnung in ihren rot verweinten Augen an.
»Ich schwöre es Ihnen, Mutter!«, versprach er, während er die Schatten bemerkte, die sich dort unten durch die Dunkelheit der Calle Bertrellans bewegten. Dalmau wusste nicht, was er tun sollte, und er wandte seiner Mutter den Rücken zu, damit sie ihm die Besorgnis nicht vom Gesicht ablas. Er wusste ja nicht einmal, wohin sie Montserrat gebracht hatten.
»Sicherlich ins Gefängnis.«
»Ja. Ins Amaliengefängnis.«
»Seid ihr sicher?«, wandte sich Dalmau fragend an Tomás, dessen Freundin und eine weitere Frau, die anscheinend mit ihnen zusammen in der Wohnung im Stadtteil Poble Sec nahe dem Paralelo lebte.
Tomás zuckte die Achseln.
Dalmau hatte sich letztlich dazu entschlossen, seinen älteren Bruder aufzusuchen. Den Anarchisten. Sie hatten zu den Streiks aufgerufen, nicht die Republikaner. Das hatte Emma ihm versichert. Jahrelang hatten die Anarchisten versucht, Barcelonas Arbeitermassen anzustacheln, sie mittels Terrorismus und Gewalt zur ersehnten Revolution zu führen, aber die Arbeiter waren ihnen nicht gefolgt. Einem Generalstreik dagegen waren dieselben Arbeiter nicht abgeneigt, diese Form des Kampfes verstanden sie.
»Sie werden sie kaum in einer Kaserne festhalten«, fügte Tomás hinzu. »Das würde ihnen nur Probleme machen. Sie werden sie ins Amaliengefängnis gesteckt haben, bis das Verfahren eröffnet wird. So ist es normalerweise.«
»Kennst du jemanden im Gefängnis, der sich um Montserrat kümmern könnte, während …?«, erkundigte sich Dalmau besorgt.
Sein Bruder schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf.
»Da sind natürlich Leute von uns drin, aber die haben genügend eigene Probleme. Wir Anarchisten sind für die der Abschaum dieses Volkes, die Verursacher all seiner Übel, Revolutionäre und Terroristen. Es gibt konkrete Anweisungen, uns das Leben unmöglich zu machen, uns zu schikanieren. Wir sind weniger wert als ein gewöhnlicher Mörder oder ein Kindervergewaltiger.«
Dalmau schwieg. Er hatte seinen Vater kaum kennengelernt. Bei dessen Verhaftung war er sehr jung gewesen, und er bedauerte, dass er nicht wie ein Mann, sondern nur wie ein Kind mit ihm hatte sprechen können. Dabei fiel ihm auf, dass es ihm mit seinem Bruder genauso ging. Er kannte ihn kaum mehr als die vergötterte Figur, in deren Haltung er als kleiner Junge Wahrheit, Stärke und den Kampf gegen die Ungerechtigkeit gesehen hatte.
»Dalmau«, unterbrach Tomás seine Gedanken. »Es ist schon sehr spät. Bleib für den Rest der Nacht bei uns, und morgen früh gehen wir …«
»Ich kann nicht. Ich muss nach Hause. Ich will Mutter nicht noch länger allein lassen. Wir treffen uns bei Sonnenaufgang vor dem Amaliengefängnis, einverstanden?«
Dalmau blieb auf derselben Stufe stehen, auf der er in dieser Nacht schon einmal innegehalten hatte. In wenigen Stunden würde die Sonne aufgehen, und im Gebäude waren die ersten trägen Geräusche der erwachenden Bewohner zu hören, darunter jedoch nicht das Geräusch der Nähmaschine. Leise betrat er die Wohnung. Er zündete eine Kerze an. Seine Mutter verharrte in derselben Position, in der er sie zurückgelassen hatte, als er zu Tomás aufgebrochen war: auf dem Hocker vor der Nähmaschine und mit den Gedanken in der Ferne. Sie nähte nicht einmal. Ihr Geist, ihr Schmerz und ihr Kummer weilten bei ihrer Tochter Montserrat....
Erscheint lt. Verlag | 30.8.2021 |
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Übersetzer | Laura Haber |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | El pintor de almas |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Barcelona • Bestseller • Bestseller 2021 • Das Lied der Freiheit • Diana Gabaldon • Die Erben der Erde • Die Kathedrale des Meeres • Die Pfeiler des Glaubens • Die Säulen der Erde • eBooks • Ehrengast Frankfurter Buchmesse 2022 • Frankfurter Buchmesse 2022 • Gastland Spanien 2022 • Gaudí • Historische Romane • historische romane neuerscheinungen 2021 • Ken Follett • Modernismus • Netflix • Neuheiten 2021 • Sagrada Familia • Spanien • Weihnachten Buch • Weihnachtsgeschenke |
ISBN-10 | 3-641-26636-X / 364126636X |
ISBN-13 | 978-3-641-26636-3 / 9783641266363 |
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