Miss Veronica und das Wunder der Pinguine (eBook)
464 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-27289-0 (ISBN)
Die 86-jährige Veronica McCreedy lebt entfremdet von ihrer Familie in einem großen Anwesen an der schottischen Küste. In letzter Zeit fragt sich die rüstige alte Dame oft, was sie noch mit ihrem Leben - und ihrem Vermögen - anfangen soll. Als sie eines Abends im Fernsehen eine Sendung über eine Kolonie bedrohter Adeliepinguine in der Antarktis sieht, ist Veronica zutiefst beeindruckt und fasst einen tollkühnen Plan: Sie wird den Pinguinen in der Antarktis einen Besuch abstatten. Und Veronica wird sich nicht von ihrem Vorhaben abbringen lassen, auch nicht von dem Forscherteam, bei dem sie sich einzuquartieren gedenkt ...
Hazel Prior lebt mit ihrem Mann und ihrer rothaarigen Katze im englischen Exmoor. Sie liebt Tiere, ganz besonders Pinguine, und wenn sie nicht schreibt, tourt sie mit ihrer Harfe durch England.
2
Veronica
The Ballahays
Das Leben ist soeben ein Stück komplizierter geworden. Ich habe heute Morgen versucht, mir die Haare zu so etwas wie einer Frisur zu kämmen, doch der Spiegel im Badezimmer war nicht da. Ich bin zurück ins Schlafzimmer geeilt, nur um festzustellen, dass der Spiegel dort ebenfalls verschwunden ist. Das Gleiche gilt für den Spiegel im Flur und für den im Wohnzimmer.
Als Nächstes frühstücke ich, nicht sonderlich erfreut über diese neuen, unzumutbaren Umstände.
Um neun Uhr schließt Eileen die Tür auf.
»Morgen, Mrs McCreedy! Und was für ein schöner Tag es ist!« Sie besteht darauf, nervtötend gut gelaunt zu sein.
»Was haben Sie mit all den Spiegeln gemacht?«
Sie blinzelt langsam wie ein Frosch.
»Ich habe sie ins Hinterzimmer geräumt, wie Sie es mir aufgetragen haben!«
»Das ist doch absurd! Wie soll ich mich denn ohne Spiegel frisieren und schminken?« Sie ist wirklich ein irrationales Geschöpf. »Würden Sie die Spiegel bitte wieder aufhängen, bevor Sie irgendwas anderes machen?«
»Was, alle?«
»Ja, alle.«
Sie stößt ein leises Schnauben aus. »Wie Sie wünschen, Mrs McCreedy.«
Das will ich doch hoffen. Ich bezahle sie schließlich nicht umsonst.
Mir fällt zu spät ein, dass auf dem Küchentisch noch eine gewisse Kiste steht und dass Eileen bestimmt ihren Senf dazugeben wird.
»Sie haben es also noch nicht geschafft, sie zu öffnen«, sagt sie sofort, als sie sie erblickt – in der Annahme, dass das nicht meine freie Entscheidung ist, sondern an meinem Unvermögen liegt. »Ich könnte Doug bitten, das Vorhängeschloss aufzusägen, wenn Sie sich nicht mehr an die Zahlenkombination erinnern.«
»Ich erinnere mich an die Zahlenkombination, Eileen. Mein Gedächtnis funktioniert einwandfrei. Ich kann mich noch an Dutzende Zeilen Hamlet aus meiner Schulzeit erinnern.« An dieser Stelle verdreht sie kurz die Augen. Sie denkt, ich bemerke es nicht, aber ich bemerke es sehr wohl. »Und ich will nicht, dass sich Ihr Doug an meiner Kiste zu schaffen macht«, fahre ich fort. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich ohne viel Aufhebens um die Spiegel kümmern würden.«
»Ja, selbstverständlich, Mrs McCreedy. Wie Sie wünschen.«
Ich sehe zu, wie sie die Spiegel vor sich hin murmelnd aus dem Hinterzimmer schleppt und jeden an seinem ehemaligen Platz aufhängt.
Als die Spiegel wieder an Ort und Stelle sind, nehme ich sofort das Problem mit meinen Haaren in Angriff. Allzu viele sind nicht mehr übrig, und sie sind erschreckend weiß, aber ich habe sie gern ordentlich. Allerdings finde ich keinen Gefallen daran, mich anzusehen. Mein Spiegelbild ist kein schöner Anblick, wenn ich es mit Spiegelbildern der Vergangenheit vergleiche. Vor vielen Jahren war ich wirklich eine Augenweide. Andere nannten mich »bildhübsch«, eine »Klassefrau«, einen »Kracher«. Davon ist nichts mehr übrig, stelle ich fest, als ich mit dem Kamm durch mein schütteres Haar fahre. Meine Haut ist pergamentartig und schlaff geworden. Mein Gesicht ist von Falten durchzogen. Meine Augenlider hängen. Meine einst so aparten Wangenknochen stehen in eigenartigen Winkeln hervor. Eigentlich sollte ich mich inzwischen an diese abscheulichen körperlichen Makel gewöhnt haben, aber es ist für mich immer noch bitter, mich so zu sehen.
Ich gebe mir alle Mühe, das Ganze mithilfe von Lippenstift, Puder und Rouge zu verbessern. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass ich Spiegel nicht mag.
Der Wind schlägt mir entgegen. Es ist diese feuchtkalte, barbarische Sorte von Wind, die es nur in Schottland gibt. Ich schmiege mich in meinen Mantel und kämpfe mich auf dem Küstenweg in Richtung Norden voran. Ich habe schon immer an die Wirksamkeit eines täglichen Spaziergangs geglaubt und lasse mich von schlechtem Wetter nicht davon abhalten. Zu meiner Linken tost das schiefergraue Meer und spuckt wilde, weiße Gischt in die Luft.
Mein Stock hilf mir, auf dem unebenen Torf und Sand das Gleichgewicht zu halten. Ich habe meine goldbesetzte fuchsiafarbene Handtasche mitgenommen, die lästig an meinem Oberschenkel zappelt. Ich hätte sie im Flur am Haken hängen lassen sollen, aber man kann nie wissen, ob man nicht ein Taschentuch oder eine Schmerztablette braucht. Außerdem habe ich meine Müllsammelzange und einen kleinen Abfallbeutel dabei. Wegen einer Bemerkung, die mein lieber Vater einst gemacht hat, sammle ich schon mein ganzes Leben lang Abfall ein. Das ist sowohl ein kleiner Akt des Gedenkens an ihn als auch eine symbolische Geste, um wegen des Chaos, das die Menschheit angerichtet hat, Buße zu tun. Selbst die felsigen Pfade der Küste von Ayrshire werden von achtlosen Menschen verschmutzt.
Stock, Zange, Müllsack und Handtasche zu handhaben ist keine leichte Aufgabe, vor allem bei diesem Wind. Meine Knochen fangen an, sich über die Anstrengung zu beklagen. Nach und nach lerne ich, mein Gewicht zu verlagern und mich in die Böen zu lehnen, damit sie mich stützen, anstatt gegen mich anzukämpfen.
Eine Möwe kreischt und taucht durch die Wolken. Ich bleibe kurz stehen, um die Schönheit der sturmgepeitschten See zu bewundern. Für Felsen, Wellen und Wildnis habe ich eine besondere Vorliebe. Doch in den Wogen tanzt etwas Scharlachrotes. Handelt es sich um eine Chipstüte oder eine Keksverpackung? Früher wäre ich hinunter zum Strand geeilt, ins Wasser gewatet und hätte es herausgefischt, doch inzwischen bin ich zu solchen Reaktionen leider nicht mehr in der Lage. Die Gischt weht mir ins Gesicht und läuft mir wie Tränen über die Wangen.
Wer die Landschaft vermüllt, gehört erschossen.
Ich kämpfe gegen den Wind an und bahne mir den Weg heimwärts. Als ich am Eingangstor ankomme, bin ich ein wenig erschöpft.
The Ballahays besitzt eine imposante Zufahrt und ist von zwölftausend Quadratmetern schönen Außenanlagen umgeben. Der Großteil des Gartens wird von einer Mauer begrenzt, was einer der Gründe ist, warum ich das Anwesen so mag. Innerhalb dieser Mauer befinden sich Zedern, Steingärten, ein Brunnen, verschiedene Statuen und vier Blumenbeete. Mein Gärtner, Mr Perkins, kümmert sich um sie.
Ich werfe einen Blick auf das Haus, als ich mich nähere. The Ballahays ist ein efeuberankter spätjakobinischer Bau aus Ziegeln und Steinen. Mit seinen zwölf Zimmern und mehreren knarrenden Eichentreppen ist er zugegebenermaßen nicht das ideale Zuhause für mich. Das Haus in Schuss zu halten ist eine gewaltige Aufgabe. Es leidet unter abbröckelndem Putz und schrecklichem Durchzug, und auf dem Dachboden gibt es Mäuse. Ich habe es 1956 gekauft – schlicht und einfach, weil ich es mir leisten konnte. Ich genieße sowohl die Privatsphäre als auch den Ausblick und habe mir deshalb nie die Mühe gemacht umzuziehen.
Ich gehe hinein, stelle den Müllsack und die Zange im Windfang ab und hänge meinen Mantel auf.
Als ich die Küche betrete, fällt mein Blick als Erstes auf die Kiste. Diese elende Kiste schon wieder. Ich hatte sie beinahe vergessen. Ich setze mich an den Tisch. Ich sehe die Kiste an, und die Kiste sieht mich an. Ihre Anwesenheit durchdringt den ganzen Raum. Sie ist dreist, verhöhnt mich, fordert mich heraus, sie zu öffnen.
Niemand kann behaupten, Veronica McCreedy würde sich vor Herausforderungen drücken.
Ich zwinge mich, es zu tun. Drehe die Rädchen und bringe die Ziffern in eine Reihe, eine nach der anderen. Es fällt sicher auf, dass ich mich so genau an die Ziffern erinnere. Eins, neun, vier, zwei: 1942. Sie sind noch immer in mein Gedächtnis eingebrannt, auch nach all der Zeit. Das Schloss ist schwergängig, doch das ist kein Wunder – es ist siebzig Jahre alt.
Als Erstes fällt mir das Medaillon ins Auge. Es ist klein und oval, und zwischen gewundenen Ranken ist ein »V« in das angelaufene Silber eingeätzt. Die Kette ist dünn und filigran. Ich lasse sie durch die Finger gleiten. Ehe ich mich zurückhalten kann, habe ich den Verschluss entriegelt, und das Medaillon klappt auf. Meine Kehle ist plötzlich wie zugeschnürt, und ich schnappe ungewollt nach Luft. Alle vier sind da, wie zu erwarten war. Sie sind winzig, sonst würden sie auch nicht in ein solches Behältnis passen. Sie wirken müde und sehr, sehr zerbrechlich.
Ich werde nicht weinen. Nein. Ganz sicher nicht. Veronica McCreedy weint nicht.
Stattdessen starre ich sie an: die Haarsträhnen von vier Köpfen. Zwei sind miteinander verflochten, braun und rotbraun. Dann ist da eine ganz dunkle, üppige Strähne, die eine viel frühere Version von mir unzählige Male herausgenommen und geküsst hat. Gleich daneben befindet sich ein winzig kleines Haarbüschel, zart und hell, beinahe durchsichtig. Ich bringe es nicht über mich, es zu berühren. Ich klappe das Medaillon zu. Schließe die Augen, atme tief durch. Zähle bis zehn. Zwinge mich, die Augen wieder zu öffnen. Vorsichtig lege ich das Medaillon zurück in eine Ecke der Kiste.
Die beiden schwarzen, in Leder gebundenen Tagebücher sind ebenfalls da. Ich nehme sie heraus. Sie fühlen sich schrecklich vertraut an. Selbst ihr Geruch, der urtümliche Geruch von altem Leder gemischt mit einem Nachhall des Maiglöckchen-Parfums, das ich damals benutzt habe.
Jetzt, da ich angefangen habe, kann ich nicht mehr aufhören. Ich schlage eines der beiden Bücher auf. Jede Seite ist von Hand vollgeschrieben – eifrige, schwungvolle Buchstaben in blauer Tinte. Ich kneife die Augen zusammen, und es gelingt mir, auch ohne Brille ein paar Zeilen zu lesen. Ich lächle traurig. Als Jugendliche war meine...
Erscheint lt. Verlag | 15.11.2021 |
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Übersetzer | Thomas Bauer |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Away with the Penguins |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Antarktis • Bestseller Großbritannien • bücher neuerscheinungen 2021 • eBooks • Familie • Geschenk Weihnachtsgeschenk • Liebe • Natur • Pinguine • Reise • Reisen • Roman • Romane • Tiere |
ISBN-10 | 3-641-27289-0 / 3641272890 |
ISBN-13 | 978-3-641-27289-0 / 9783641272890 |
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