Mit dem Rücken zur Wand (eBook)
496 Seiten
Diana Verlag
978-3-641-24547-4 (ISBN)
Hera Lind studierte Germanistik, Musik und Theologie und war Sängerin, bevor sie mit zahlreichen Romanen sensationellen Erfolg hatte. Seit einigen Jahren schreibt sie ausschließlich Tatsachenromane, ein Genre, das zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Mit diesen Romanen erobert sie immer wieder die SPIEGEL-Bestsellerliste. Hera Lind lebt mit ihrem Mann in Salzburg, wo sie auch gemeinsam Schreibseminare geben.
1
Großstadt, 21. Juni 2017
Nebenan laufen die Lokalnachrichten im Radio.
»Heute beginnt der Prozess gegen die drei Angeklagten, die Ende letzten Jahres einen einundsiebzigjährigen Senior gemeinschaftlich schwer körperlich verletzt haben. Die Anklage lautet »versuchter Mord«. Es handelt sich um eine Auftragstat, und eine der Angeklagten soll die Tochter des Opfers sein.«
Das Radio führt mir die Realität vor Augen.
Es ist so weit.
Der Prozess beginnt.
Der Prozess gegen drei Straftäter. Und einer davon bin ich. Ich bin die Tochter des »Opfers«.
Dabei bin ich, Sara, selbst das Opfer. Er war immer der Täter.
Meine beste Freundin Marea fährt uns nach Großstadt. Mein Lebensgefährte Daniel soll als Zeuge aussagen. Ist er überhaupt noch mein Lebensgefährte? So wie er sich aus der Affäre gezogen hat? Diese entsetzliche Tat hat nicht nur gerichtliche Folgen, viel schlimmer sind die emotionalen. Ich habe nicht nur meinen Vater verloren, sondern auch meine Schwester, meinen Freund, meine Würde.
Und jetzt betrete ich doch tatsächlich die große weiße Treppe des Gerichtsgebäudes in Großstadt.
Auf der anderen Seite der Treppe befindet sich ein Zimmer, eine Art Wartezimmer. Ich sehe Stühle, die sich die Wand entlangreihen. Auf einem von ihnen sitzt meine Schwester. Sie schaut mich nicht an. Schließlich handelt es sich bei dem lebensgefährlich verletzten Opfer um unseren Vater. Sie ist als zweite Zeugin geladen. Die Angst, hier und jetzt meinem Vater zu begegnen, überwältigt mich, und ich werfe einen Blick auf die große Wanduhr. Neun Uhr, es ist an der Zeit, in den großen Saal zu gehen. Ich nehme den Glücksbringer meiner Freundin Marea entgegen. Sie drückt mir fest die Hand und lächelt mir aufmunternd zu. Sie wird im Publikum sitzen. Es tut gut zu wissen, dass sie da ist. Der einzige Mensch, der noch zu mir steht. Außer meinen Kindern, aber die halte ich da raus. Im Moment sind sie bei Freunden.
Ein letztes Mal atme ich tief ich durch, genauso wie damals an jenem kalten Winterabend, bevor ich meine Zelle betrat. Als sie mich aus meiner Wohnung geholt und abgeführt hatten. Wegen des Verdachts auf Anstiftung zum Mord. An meinem Vater.
Mein Anwalt öffnet die Tür zum Verhandlungssaal, und wir gehen zusammen hinein.
Der Saal ist groß. Links befinden sich die Reihen für die Zuschauer. Vorne sehe ich die Plätze für die Richter auf einem Podest. Drei Richter und zwei Schöffen werden sich meiner Geschichte annehmen. Sie sind noch nicht da, die Stühle noch frei. Hoffentlich sind es nicht nur Männer. Hoffentlich sind Frauen dabei, die mich verstehen können.
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Da sitzt er. Heinz Hartmann, mein Vater. Neben ihm sein Anwalt. Mit dem Rücken zu den riesigen Fenstern. Die Sonne taucht ihn in helles Licht wie einen Heiligen.
Dabei war er das nie. Im Gegenteil. Er war der Täter, und Mutter und ich die Opfer.
Doch ich, Sara, bin angeklagt. Und Helga, seine bisherige Lebensgefährtin. Wir beide haben das gemeinsam ausgeheckt. Und die Sache ist komplett aus dem Ruder gelaufen.
Rechts vor den Richtern befindet sich die Anklagebank. Helga und ihr Anwalt sitzen bereits. Die Anklagebank besteht aus zwei Reihen. Die hintere ist ebenfalls erhöht. Wir gehen zügig an allen vorbei, und ich sehe ein Schild mit meinem Namen. Helga und ich werden mit unseren Anwälten in der ersten Reihe sitzen, Marius hinter mir in der zweiten Reihe. Marius hat die Tat ausgeführt. Brutal und hinterhältig. Aber wir wollten das nicht. Nicht so. Sein Anwalt ist schon da. Hinter der Anklagebank befindet sich ein Aufzug. Gleich werde ich auf Marius treffen, der nur meinetwegen heute hier ist. Nur weil ich ihn in diese Situation gebracht habe. Er wollte mir einen Gefallen tun. Er wäre sonst längst auf seiner lang ersehnten Weltreise, mit dem Motorrad, auf das er so lange gespart hat. Nun drohen ihm viele Jahre Haft. Meinetwegen. Oder weil die Sache so aus dem Ruder gelaufen ist. Wegen meines Vaters!
Mein Anwalt tritt einen Schritt zur Seite und lässt mich auf meinen Platz. Er trägt einen schwarzen Talar, der ihm bis zu den Knien reicht. Darunter trägt er Jeans und ziemlich lässige Schuhe. Links sind zwei Plätze frei, dann kommt der Platz von Helgas Anwalt, dann ganz außen Helga. Sie hat verweinte Augen und weicht meinem Blick aus.
Mein Vater beobachtet das Geschehen seelenruhig. Wie er immer alles, das er angerichtet hat, seelenruhig an sich hat abprallen lassen. Als wohnte er einem interessanten Schauspiel und seinen überraschenden Folgen bei. Er spricht mit seinem Anwalt, der nickt. Ich hänge meine Jacke über die Stuhllehne. Ich trage ein weißes T-Shirt, eine Bluejeans und schwarze Stiefeletten. Ich werde etwas langsamer in meinen Bewegungen, um mich auf so viel wie möglich zu konzentrieren. Die Anwälte begrüßen sich mit Handschlag und ein paar launigen Bemerkungen, und meiner beginnt, sein mir bekanntes Köfferchen auszuräumen und seinen Laptop hochzufahren. Für ihn ist das ein Job. Für mich der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens: Vielleicht komme ich ins Gefängnis.
Ich bin Mutter zweier kleiner Kinder. Sie haben nur noch mich. Ich will nicht ins Gefängnis!
Eher tue ich mir etwas an.
Und dann ist es endlich so weit. Hinter mir setzt sich ratternd der Aufzug in Bewegung. Mein Herz rast. Die Aufzugtüre gleitet auf. Marius wird von zwei Beamten hereingeführt. Er trägt Handschellen und schaut stur auf den Boden. Ich lasse ihn nicht aus den Augen. Marius, bitte schau mich an. Nur ein kurzer Blick, Marius. Ich weiß, dass du das, was du getan hast, nicht mit Absicht gemacht hast.
Die Beamten und die Anwälte begrüßen einander, und Marius schaut stur zu Boden. Ich bin nervös, ich möchte ihn ansprechen, aber ich weiß nicht, ob ich das darf, also bleibe ich stumm. Ich stehe da und starre ihn an, und plötzlich hebt er seinen Blick. Wir schauen uns in die Augen, und sofort senkt er die Lider wieder. Ich versuche zu verstehen, zu interpretieren, aber da gibt es nichts zu verstehen, nichts zu deuten. Wieder schaut er mir in die Augen und dann gleich wieder auf den Boden, wie ein kleines Kind, das man zur Strafe in eine Ecke verbannt hat. Oh, bitte, lass mich wissen wie es dir geht!, flehe ich innerlich. Ob du böse auf mich bist, ob du mich jetzt hasst, ob du es bereust, mich jemals kennengelernt zu haben, ob du mir insgeheim Rache schwörst.
Ein Beamter nimmt ihm die Handschellen ab, und Marius setzt sich neben seinen Verteidiger. Ich setze mich auch, direkt vor ihn. Wirst du mich jetzt mit Blicken erdolchen, Marius? Mein Anwalt setzt sich neben mich. Ich schaue geradeaus. Da sitzt er, mein Vater, mit verschränkten Armen. Vor und hinter mir sitzen die Täter, die mich selbst zur Täterin gemacht haben. Vorne haben zwei Männer Platz genommen. Das müssen die Gutachter sein. Behutsam überfliege ich die Zuschauerreihen. Ich sehe meine Marea. Ihre dunklen Haare glänzen im Neonlicht. Sie nickt mir unmerklich zu. Ich drücke ihren Glücksbringer. Weiter hinten sehe ich drei Männer aus dem Dorf. Sie sind mit meinem Vater befreundet. Einer von ihnen war sogar bei ihm zu Besuch, als er aus dem Krankenhaus kam. Er hat tatsächlich noch Freunde?
In der vordersten Reihe sitzen drei Leute von der Presse. Sie sind mit Zettel und Stift ausgestattet sowie mit einer Kamera. Hinter ihnen hat ein älteres Paar Platz genommen, das ich gar nicht kenne. Dann sehe ich noch zwei Frauen, die mir ebenfalls fremd sind.
Ich hole die Unterlagen aus meiner Tasche, die ich in den letzten Monaten angesammelt habe, und ein Päckchen Traubenzucker. Wie auf Kommando springen die drei von der Presse auf und fangen an, Fotos von uns zu machen. Mein Anwalt reicht mir ein Blatt Papier, das ich mir vors Gesicht halten soll. Mein Herz klopft stark. Solche Szenen kannte ich bisher nur aus dem Fernsehen, von Gerichtsverhandlungen, bei denen es um Mord oder Vergewaltigung ging. Ich sehe, dass Marius sich mit einem Heft behilft. Auch Helga hält sich ein Blatt Papier vors Gesicht.
»Warum hören die denn nicht auf?«, flüstere ich meinem Anwalt zu. »Die müssen doch merken, dass wir das alle drei nicht wollen!«
»Weil sie es dürfen.« Herr Wied bemüht sich um Gelassenheit. »Die dürfen jetzt so lange fotografieren, bis die Richter reinkommen.«
Die Penetranz der Fotografen macht mich wütend. Akzeptiert man es nicht, wenn jemand nicht fotografiert werden möchte? Als hätte ich nicht schon genug Adrenalin im Körper!
Plötzlich öffnet sich hinter den Richterstühlen eine Tür. Drei Richter, zwei Schöffen, der Staatsanwalt und eine Gerichtsschreiberin kommen herein und stellen sich an ihre Plätze. Die Fotografen sind in ihren Bereich zurückgeeilt, und alle erheben sich.
Es sind tatsächlich ausnahmslos Männer, bis auf die Protokollantin. Und die hat nichts zu entscheiden.
Mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen. Werden die Männer mich verstehen?
»Guten Tag«, begrüßt uns der Vorsitzende Richter in der Mitte. Alle nehmen wieder Platz.
»Wir verhandeln heute die Strafsache gegen Marius Gersting, Sara Müller und Helga Bender wegen versuchten Mordes und/beziehungsweise Anstiftung zur gefährlichen Körperverletzung.« Er schaut in die Runde und kontrolliert die Anwesenden. Er beginnt mit den Richtern, den Schöffen, dem Staatsanwalt, der Nebenklage, nämlich meinem Vater und seinem Anwalt, erwähnt und begrüßt Marius, mich und Helga mit unseren jeweiligen Anwälten und stellt uns die beiden Herren vor, die vor meinem Vater sitzen, die beiden Gutachter, die zur Einschätzung der Schuldfähigkeit von...
Erscheint lt. Verlag | 13.12.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | eBooks • Gewalt gegen Kinder • Häusliche Gewalt • narzisstischer Vater • Opfer • Tatsachenroman • Verbrechen aus Notwehr • wahre Begebenheiten |
ISBN-10 | 3-641-24547-8 / 3641245478 |
ISBN-13 | 978-3-641-24547-4 / 9783641245474 |
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