Frederick Pohl, 1919 in New York geboren, zählt neben Isaac Asimov und Robert A. Heinlein zu den Gründervätern der amerikanischen Science Fiction. Er gehörte zu den SF-Herausgebern der ersten Stunde und machte schnell auch mit eigenen Romanen und Kurzgeschichten von sich reden, darunter »Mensch Plus« und, zusammen mit Cyril M. Kornbluth, »Eine Handvoll Venus«. Die »Gateway-Trilogie« gilt als sein bedeutendstes Werk. Frederik Pohl starb 2013 in seiner Heimat Illinois.
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Ein Astronaut und seine Welt
Es ist notwendig, von Roger Torraway zu berichten. Ein menschliches Wesen scheint nicht besonders wichtig zu sein, wenn acht Milliarden leben. Nicht wichtiger als etwa ein Mikrochip in einem Datenspeicher. Aber ein einziger Chip kann entscheidend sein, wenn er eine fundamentale Information enthält, und Torraway war genau auf diese Art wichtig.
Er war ein gut aussehender Mann, wie es Menschen eben sein können. Und berühmt dazu. Oder war es gewesen.
Es hatte eine Zeit gegeben, als Roger Torraway zwei Monate und drei Wochen am Himmel gehangen hatte, zusammen mit fünf anderen Astronauten. Sie waren alle schmutzig, geil und vorwiegend gelangweilt. Das war es nicht, was ihn berühmt gemacht hatte. Das war nur Leute-mit-Nachrichtenwert-Stoff, gut für zwei Sätze in der Sieben-Uhr-Zusammenfassung an einem ereignislosen Abend.
Aber berühmt wurde er. In Betschuanaland und Belutschistan und Buffalo kannten die Leute seinen Namen. Er war auf der Titelseite des TIME Magazine. Aber nicht allein. Er musste sie mit dem Rest seiner Mannschaft im Raumlabor teilen, weil sie diejenigen waren, die Glück hatten und die sowjetische Besatzung retteten, die ohne Steuerdüsen zur Erde zurückkam.
So waren sie über Nacht alle berühmte Leute. Torraway war achtundzwanzig Jahre alt, als das passierte, und hatte gerade eine grünäugige, schwarzhaarige Lehrerin für Kunst und Keramik geheiratet. Dorrie auf der Erde war, was ihn sehnsüchtig, Rog in der Umlaufbahn das, was Dorrie selbst zu einer Berühmtheit machte, und das gefiel ihr.
Es brauchte etwas Besonderes, um der Frau eines Astronauten Nachrichtenwert zu verschaffen. Es gab so viele davon. Sie sahen einander so ähnlich. Die Journalisten vertraten die Meinung, die NASA suche die Astronautenfrauen aus den Bewerberinnen um den Titel der Miss Georgia aus. Sie sahen alle so aus, als wollten sie, kaum aus dem Badeanzug geschlüpft, Tambourmajor-Vorführungen zeigen oder ein Allerweltsgedicht vortragen. Dorrie Torraway wirkte dafür ein bisschen zu intelligent, obwohl sie auf jeden Fall hübsch genug war. Sie war die einzige Astronautenfrau, über die das Ladies’ Home Journal (»Zwölf Weihnachtsgeschenke, die Sie in Ihrem Brennofen backen können«) und die Zeitschrift Ms. (»Kinder würden meine Ehe ruinieren«) ausführlich berichteten.
Rog war ganz für die Nicht-Familie. Er war für alles, was Dorrie wollte, weil er sehr für Dorrie war.
In dieser Beziehung unterschied er sich etwas von seinen Kameraden, die im Weltraumprogramm hauptsächlich erfreuliche Nebenleistungen weiblicher Provenienz entdeckt hatten. In anderer Hinsicht war er genau wie sie. Aufgeweckt, gesund, klug, von angenehmem Äußeren, technisch ausgebildet. Die Journalisten glaubten eine Weile, auch die Astronauten selbst kämen irgendwo von einem Fließband. Es gab sie mit einem Spielraum von zwanzig Zentimetern in der Körpergröße und zehn, zwölf Jahren im Alter, wahlweise in vier Hautfarben, von Milchschokolade bis Wikinger. Ihre Freizeitbeschäftigungen waren Schach, Schwimmen, die Jagd, Fliegen, Tauchen, Fischen und Golf. Sie pflegten mühelosen Umgang mit Senatoren und Botschaftern. Wenn sie das Raumprogramm verließen, fanden sie Posten bei Luft- und Raumfahrtunternehmen oder traten für hoffnungslose Anliegen ein, die ein neues öffentliches Image brauchten. Diese Posten wurden sehr gut bezahlt. Astronauten waren wertvolle Produkte. Sie wurden nicht nur von den Massenmedien und dem Mann auf der Straße geschätzt. Wir bewerteten sie ebenfalls sehr hoch.
Was die Astronauten verkörperten, war ein Traum. Der Traum war unbezahlbar für den Mann auf der Straße, vor allem, wenn es sich um eine feuchte, stinkende Straße in Kalkutta handelte, wo Familien auf dem Gehsteig schliefen und sich in der Morgendämmerung hochrafften, um sich für eine kostenlose Schüssel Essen anzustellen. Es war eine schmutzige, schmierige Welt, und der Weltraum verschaffte ihr ein wenig Schönheit und Erregung. Nicht viel, aber besser als gar nichts.
Die Astronauten bildeten rings um Tonka in Oklahoma eine enge, kleine Gemeinschaft, wie Baseball-Familien. Jeder, der seine erste Mission flog, gehörte zur Oberliga. Von da an waren sie Rivalen und Mannschaftskameraden. Sie konkurrierten miteinander, um ausgewählt zu werden, und unterstützten einander vom Spielfeldrand aus. Es war die Dichotomie des Berufssportlers. Kein alternder Veteran, der auf der Bank saß und den neuesten Jungstar beobachtete, empfand mehr Bedrückung und zornigen Neid als der Ersatzmann für eine Landung auf einem anderen Planeten, wenn er Nummer eins in den Raumanzug steigen sah.
Rog und Dorrie passten gut in diese Gemeinschaft. Sie schlossen schnell Freundschaft. Sie waren gerade ausgefallen genug, um ein wenig hervorzutreten, aber nicht so seltsam, dass jemand sich hätte Sorgen machen müssen. Wenn Dorrie selbst keine Kinder haben wollte, war sie doch lieb zu den Kindern anderer Frauen. Als Vic Samuelson auf der anderen Seite der Sonne fünf Tage lang keine Funkverbindung hatte und bei Verna Samuelson vorzeitig Wehen einsetzten, nahm Dorrie Vernas drei Kleinkinder in ihrem Haus auf. Keines war älter als fünf Jahre. Zwei trugen noch Windeln, und sie wechselte sie klaglos, während andere Ehefrauen sich um Vernas Haus kümmerten und Verna in der NASA-Klinik ihr viertes Kind zur Welt brachte. Bei den Weihnachtspartys waren Rog und Dorrie nicht die Betrunkensten und gingen auch nie als Erste.
Sie waren ein nettes Paar.
Sie lebten in einer netten Welt.
Damit hatten sie, wie sie wussten, Glück. Der Rest der Welt war durchaus nicht so nett. Die kleinen Kriege jagten einander durch ganz Asien, Afrika und Lateinamerika. Westeuropa wurde manchmal von Streiks gedrosselt und oft von Lieferengpässen geplagt, und wenn der Winter kam, fror es meist. Die Menschen waren hungrig, viele zornig, und es gab sehr wenige Großstädte, in denen man sich nachts allein auf die Straße wagen konnte. Aber Tonka war davon nicht betroffen und blieb ziemlich sicher, und Astronauten (und Kosmonauten und Taikonauten) besuchten neben dem Mond den Merkur und den Mars, schwebten in die Schweife von Kometen und hingen in Umlaufbahnen um Gasriesen.
Torraway selbst war an fünf großen Missionen beteiligt gewesen. Als Erstes nahm er an einem Fährenflug zum Aufbau des Raumlabors teil, ganz am Anfang nach der Sperrpause, als das Weltraumprogramm wieder auf die Beine kam.
Dann verbrachte er einundachtzig Tage in der Raumstation der zweiten Generation. Das war sein großer Augenblick, der ihn auf das Titelblatt von TIME brachte. Die Russen hatten eine bemannte Kapsel zum Merkur geschossen, sie war auch richtig hingekommen und richtig gelandet und zum Rückflug wieder richtig gestartet; aber danach lief nichts mehr richtig. Die Russen hatten immer Schwierigkeiten mit ihren Stabilisierungsraketen gehabt – mehrere von den frühen Kosmonauten waren ins Rotieren gekommen, hatten nicht mehr stoppen können und hilflos das ganze Innere ihrer Raumfahrzeuge vollgespien. Diesmal gab es wieder Probleme, und sie verbrauchten ihre Lagekorrektur-Reserven.
So gelang es ihnen, in eine breite Ellipsenbahn um die Erde zu gelangen, aber sie konnten sie nicht gefahrlos verlassen. Oder auch gefahrlos auf ihr bleiben. Inzwischen funktionierte die Steuerung nur noch annähernd, und der erdnahe Punkt lag tief genug in der Ionosphäre der Erdatmosphäre, um sie ziemlich aufzuheizen.
Aber Roger und die fünf anderen Amerikaner saßen da in einem Raumfahrzeug für Schleppzwecke, mit Treibstoff für ein halbes Dutzend weiterer Flüge. Das war nicht übermäßig viel, aber sie kamen aus damit: Sie passten Kurs und Geschwindigkeit an die der Avrora Dva an, dockten an und holten die Kosmonauten heraus. Was für ein Schauspiel von heftigen Umarmungen im freien Fall, von stoppelbärtigen Küssen! Wieder im Raumschlepper, mit dem, was die Russen hatten zusammenraffen können, gab es eine Party – Johannisbeersaft stieß an mit Limonade, Leberpastete wurde getauscht gegen Cheeseburger. Und zwei Umläufe später verglühte die Avrora als Meteorit. »Wie gleißender Dunst am Abend«, sagte Yuli Bronin, der Kosmonaut, der in Oxford studiert hatte, und küsste seine Retter noch einmal.
Als sie zur Erde zurückkamen, zu zweit in je einer Liege angegurtet, enger als Liebende, waren sie alle Helden und wurden alle angebetet, sogar Roger, sogar von Dorrie.
Aber das war lange her.
Seitdem hatte Roger Torraway zwei Mondumrundungen hinter sich gebracht, war für das Schiff verantwortlich, während die Radioteleskopbesatzungen ihre Orbitalversuche mit dem neuen, großen Hundert-Kilometer-Radiospiegel auf der Rückseite anstellten. Und schließlich hatte er an der abgebrochenen Marslandung teilgenommen, wieder eine Gelegenheit, bei der sie von Glück sagen konnten, alle lebend wieder auf die Erde zurückzubringen. Aber inzwischen war der Glorienschein ein zweites Mal verblasst. Es war nur Pech und mechanisches Versagen gewesen, nichts Dramatisches.
Und so war Rogers Arbeit seitdem, nun ja, diplomatischer Natur gewesen. Er spielte Golf mit Senatoren vom Weltraumausschuss und reiste zu den Eurospace-Einrichtungen in Zürich, München und Triest. Er verkaufte in bescheidenem Umfang seine Memoiren. Er diente gelegentlich bei Missionen als Ersatzmann. Während das Weltraumprogramm schnell von höchster nationaler Priorität zu Übungen nach Zufallsplanung absank, hatte er immer weniger Bedeutsames zu tun.
Immerhin, er war jetzt Ersatzmann für eine Mission, auch wenn er nicht darüber sprach, wenn er politische Unterstützung für seine Behörde erbat....
Erscheint lt. Verlag | 8.2.2022 |
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Übersetzer | Tony Westermayr |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Man Plus |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | 2022 • Aufbruch ins All • diezukunft.de • eBooks • Klassiker der Science-Fiction • Klimakatastrophe • Mars • Marskolonie • Meisterwerke der Science Fiction • Meisterwerke der Science-Fiction • Neuerscheinung |
ISBN-10 | 3-641-28418-X / 364128418X |
ISBN-13 | 978-3-641-28418-3 / 9783641284183 |
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