Jäger der Schatten (eBook)
416 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-98789-9 (ISBN)
Rebecca Andel wurde 1992 in Wien geboren. Sie studierte Bildhauerei an der Wiener Kunstschule und begann anschließend ein Germanistikstudium an der Universität Wien. Neben dem Studium arbeitet sie als Übersetzerin und Lektorin. In ihrer Freizeit unternimmt sie gerne ausgedehnte Stadt-Spaziergänge, hört Musik oder bastelt alle möglichen und unmöglichen Dinge.
Rebecca Andel wurde 1992 in Wien geboren. Sie studierte Bildhauerei an der Wiener Kunstschule und begann anschließend ein Germanistikstudium an der Universität Wien. Neben dem Studium arbeitet sie als Übersetzerin und Lektorin. In ihrer Freizeit unternimmt sie gerne ausgedehnte Stadt-Spaziergänge, hört Musik oder bastelt alle möglichen und unmöglichen Dinge.
Kapitel 1
Vidunn
Manchmal, wenn ich durch die Gitterstäbe in ihre Gesichter blicke, stelle ich mir vor, dass in Wirklichkeit sie diejenigen sind, die in einem Käfig sitzen. Dass ich mich an einem sehr kleinen Ort der Freiheit befinde und die Welt um mich herum ein sehr großer Käfig ist, in dem sie alle gefangen sind.
Doch natürlich ist mir völlig klar, dass dieses Szenario nur in meiner Vorstellung existiert. Ich weiß, dass ich nur den Wind jage; dass ich versuche, Schatten zu fangen – wie man so schön über Menschen zu sagen pflegt, die zu viel Fantasie besitzen.
Ora zieht das Tuch von meinem Käfig. Das plötzliche Licht lässt mir Tränen in die Augen schießen. Doch ich halte sie krampfhaft offen und ignoriere den Schmerz.
Einige wenige Mutige stehen von ihren Plätzen auf und nähern sich zögerlich, um mich genauer zu mustern. Ein Raunen breitet sich aus, wabert zwischen den Wänden des Zirkuszeltes hin und her und wird schließlich von den Sägespänen in der Manege verschluckt.
Die Karbidlampen sind hell, viel zu hell. Dennoch widerstehe ich dem Drang, die Lider zusammenzukneifen.
Meine Augen sind nämlich die Hauptattraktion. Sie sind das, was die Zuschauer sehen wollen. Mein Haar und meine Haut – beides weiß wie Schnee – das haben vielleicht einige von ihnen schon einmal gesehen. Es ist selten, doch es kommt vor. Manchmal. Eine seltsame Laune der Natur, nicht wahr? Die Natur hat viele seltsame Launen.
Erst in Kombination mit meinen Augen machen meine Haut und mein Haar mich zur Dämonin, zum Schattenmädchen. Zum Scheusal. Zum Monster. Letztere Bezeichnung hasse ich am meisten. Die Zuschauer haben viele Namen für mich. Ora nennt mich immer nur Schattenmädchen, und doch bin ich letztlich schlicht ein Schrecknis. Sonst würde Ora mich wohl kaum in der Monstrositätenschau ausstellen.
»Achtung, meine Damen und Herren. Nicht zu nahe«, sagt Ora mit seiner tiefen, salbungsvollen Stimme. »Sie ist sehr gefährlich, wenn man sie reizt.« Nur ich höre den bestimmten Unterton, der klar macht, dass er diese Worte bereits zum zweiten Mal sagt und ich wieder meinen Einsatz verpasst habe. Hitze schießt in meine Wangen. Dafür wird er mich später schelten. Wie um mich zu mahnen, tritt Ora einen weiteren Schritt auf mich zu und leuchtet mir mit der Lampe ins Gesicht, sodass mich alle noch besser sehen können. Fast hätte ich vor Schmerz aufgejault. Stattdessen lege ich meine Finger um die Gitterstäbe, rüttle daran und lasse halbherzig ein tiefes Grollen aus meiner Kehle ertönen. Die Hälfte des Publikums zuckt zurück. Eine Frau zieht Riechsalz aus ihrer Handtasche, um es sich unter die Nase zu halten.
»Wie ich sagte, meine Damen und Herren …« beginnt Ora seinen Vortrag erneut. Das Licht flackert. Die Frau mit dem Riechsalz reißt die Augen auf und greift sich an die Brust. Das Licht flackert erneut. Und dann ist es weg.
Endlich, Dunkelheit. Ich seufze erleichtert, ziehe flink eine Haarnadel aus meiner Hochsteckfrisur und öffne damit innerhalb von Sekunden das Schloss an meinem Käfig. In der Dunkelheit zu sehen, hat mir noch nie Mühe bereitet. Genauso wenig wie das Öffnen von Schlössern ohne Schlüssel. Während sie alle verwirrt herumtasten und zögerlich versuchen, sich zu orientieren, mache ich einen Schritt, dann noch einen, bis ich genau neben der ängstlichen Riechsalz-Dame in der ersten Reihe stehe. Sie trägt ein enges Kleid, aus Seide und mit ausgeschnittenen Ärmeln, wie es für feine Damen in Drak gerade Mode ist. Es muss teuer gewesen sein. Ich beuge mich nach vorne, bis ich ihr schweres Parfüm riechen kann. Es bereitet mir diebische Freude, gleich herauszufinden, ob sie nur simuliert.
Genau im richtigen Augenblick glimmt das Licht wieder auf. Genau im richtigen Augenblick breite ich die Arme aus und brülle diesmal lauter, noch tiefer. Die Frau fällt in Ohnmacht, wird aber von ihrem Begleiter aufgefangen, bevor sie von ihrer Bank rutscht. Neugierig betrachte ich sie.
Offensichtlich ist sie doch keine Simulantin. Oder? Sie kommt erstaunlich schnell wieder zu sich, fasst sich erneut an die Brust und starrt mich aus großen Augen an. Ihr Begleiter hält sie zwar galant im Arm, doch auch in seinem Blick kann ich einen Anflug von Angst lesen.
Ora knallt mit seiner Peitsche. »Zurück in deinen Käfig, Schattenmädchen!«, befiehlt er.
Ich baue mich drohend auf und brülle erneut.
»Geh zurück in den eiskalten Abgrund, aus dem du gekrochen bist!«, faucht Ora und kommt näher, lässt drohend die Peitsche wippen. Ich fauche zurück, senke den Kopf und mache langsam ein paar Schritte in Richtung Käfig. Ora hebt effektvoll die Hände, gestikuliert ausdrucksstark. Noch einmal bäume ich mich auf. Ora gestikuliert heftiger. Schließlich setze ich einen Fuß nach hinten, begebe mich zurück in mein Gefängnis.
Ora stürzt auf den Käfig zu und windet schwere Eisenketten um die Gitterstäbe. Er verschließt sie mit einem noch größeren Schloss als jenem, das ich zuvor geöffnet habe. Dann seufzt er gespielt erleichtert auf, wischt sich imaginären Schweiß von der Stirn und macht eine ausschweifende Verbeugung.
Jubel breitet sich aus. Keine faulen Eier. Nicht heute. Vielleicht liegt es an der berühmten Vidunner Zurückhaltung. Oder ich hatte einfach Glück. Unauffällig macht Ora das Zeichen, mich mitsamt meinem Käfig wieder hinter den Vorhang zu karren.
Eduard eilt herbei und tut, wie ihm geheißen. »Großartig, Louise«, flüstert er mir noch zu, dann huscht er wieder in die Manege, um alles für Vincents Pferdedomptur aufzubauen.
Ich lege meinen Kopf in die Hände und atme tief durch. Hier, in dem kleinen Bereich zwischen den beiden Vorhängen, ist es dunkel. Die Dunkelheit tut meinen Augen gut, und ich kann augenblicklich spüren, wie mein Körper sich entkrampft. Als Ora zu reden beginnt, ziehe ich eine weitere Haarnadel aus meiner hochgesteckten Frisur. Eine zu viel, denn mein Haar löst sich und fließt mir weiß glänzend über die Schultern. Doch es stört mich nicht. Ich stecke die Haarnadel in das Schloss an der Eisenkette und suche den Widerstand, der den Mechanismus öffnet. Ein leises Klicken erklingt und das Schloss springt auf. Noch eine Sache, wegen der Ora mich schelten wird. Eigentlich soll ich auf ihn warten, bis er kommt, um aufzuschließen. Er behauptet, dass die Schlösser zu schnell kaputt gehen, wenn ich sie zu oft aufbreche. Das stimmt nicht. Ich weiß, was ich tue. Doch Ora, der immer recht haben muss, beharrt felsenfest darauf.
Dies kümmert mich im Moment nicht. Oras Sermon zwischen meinem Part in der Vorstellung und Vincents Auftritt dauert eine halbe Ewigkeit. Ora füllt die Zeit mit langen Reden darüber, wie er Maku, Dorothea und mich auf seinen langen Reisen gefunden hat. Alles davon ist schamlos erlogen, wie etwa die Geschichte darüber, dass Maku von Wölfen aufgezogen wurde oder ich mit meinem Blick Menschen versteinern kann. Ich kenne jede einzelne von Oras Lügengeschichten seit Ewigkeiten auswendig und will nicht länger warten. Zuvor, als Eduard mich in die Manege karrte, konnte ich Stimmen aus dem kleinen, abgetrennten Bereich für die Artisten hören. Ich glaube, dass Elis Stimme darunter war und dass er wütend klang.
Dieser Sache muss ich unbedingt nachgehen, denn Eli klingt nur selten wütend, eigentlich niemals. Irgendetwas muss ihn furchtbar aufgeregt haben.
Achtlos lasse ich Kette und Schloss zu Boden fallen und steige aus meinem verhassten Käfig. Der Schein der Karbidlampen dringt durch den zweiten Vorhang, hinter dem der Bereich für die Artisten liegt. Ich rümpfe die Nase. An den Geruch der Lampen werde ich mich niemals gewöhnen; sie stinken nach Knoblauch. Außerdem sind sie viel zu grell. Doch Ora ist ganz vernarrt in die Lampen. Wenn man ihn auf sie anspricht, schwillt seine Brust vor Stolz, und er verliert sich in langen Vorträgen darüber, dass kein anderer Zirkus der Welt eine so moderne transportable Beleuchtungstechnik besitzt wie der Zirkus Ora; weder in Luzerien noch in Vena. Die anderen Zirkusse können entweder in Gebäuden auftreten, in denen es Gasleitungen gibt, oder mit ihrem Zelt herumreisen und Vorstellungen geben, solange das Licht des Tages von oben ins Zelt scheint. Nur der Zirkus Ora besitzt sowohl ein Zelt als auch die notwendige Beleuchtung, um bei Dunkelheit Aufführungen zu geben. Oras gute Kontakte zu den Chemikern in Leburg haben ihm die Lampen verschafft. So behauptet er es zumindest; aber man darf ihm wahrlich nicht alles glauben, wie an seinen Lügengeschichten über meinen Todesblick unschwer zu erkennen ist. Ich kneife die Augen ein wenig zusammen, wappne mich für das gleißende Licht, das mir gleich entgegenstrahlen wird, und öffne den zweiten Vorhang.
Sofort kann ich spüren, dass etwas in der Luft liegt. Maku und Dorothea sitzen in dem kleinen, abgetrennten Bereich hinter dem Vorhang auf Bänken. Dorothea hat tröstend einen Arm um Maku gelegt. Maku hält ein Tuch gegen seine Wange und starrt Eli aus großen Augen an. Eli hat die Stirn gerunzelt und wandert mit langen Schritten vor ihm auf und ab. Als mein Blick auf ihn fällt, rauft er sich gerade die ohnehin schon wirren Locken, die um einiges länger sind, als es der Mode entspricht.
»Es ist nicht so schlimm, Eli«, sagt Maku soeben kleinlaut.
Eli hält inne und sieht Maku an.
Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, schließe ihn jedoch wieder. Noch weiß ich nicht, um was es geht. Ich habe jedoch eine gewisse Ahnung.
Elis Blick wird traurig. Er kniet sich vor Maku hin und berührt sanft die Wange, die Maku gerade nicht mit seinem Tuch abreibt. »Es tut mir leid«, sagt er erstickt. »Ich wollte nicht … Natürlich rede ich nur mit Ora, wenn du nichts dagegen hast. Aber es...
Erscheint lt. Verlag | 1.4.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | 18. Jahrhundert • Dämonen • Dark Diamond • Dark Fantasy • Dark Romantasy • Fantasy 18tes Jahrhundert • Fantasy Romane • fantasy steampunk • Fantasy viktoriansches Zeitalter • Freakshow • Liebesgeschichte • Liebesromane für junge Frauen • österreiche Fantasy • Romane für Jugendliche • Romane für junge Erwachsene • Romantasy • Romantasy Steampunk • Steampunk Roman • Viktorianisches Zeitalter |
ISBN-10 | 3-492-98789-3 / 3492987893 |
ISBN-13 | 978-3-492-98789-9 / 9783492987899 |
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