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Die Socke im Brunnen -  Hage Becker

Die Socke im Brunnen (eBook)

Wie Dorfkinder den Klapperstorch beerdigten

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
420 Seiten
TWENTYSIX (Verlag)
978-3-7407-2243-2 (ISBN)
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Beim Anblick einer roten Socke fällt dem in einem Hunsrückdorf geborenen Autor ein aufregender Tag aus seiner Kindheit ein. Im Buch läßt er auch delikate Erinnerungen aus den 50er- und 60er Jahren aufleben, erinnert sich an sein erwachendes Interesse am weiblichen Geschlecht, an die aus heutiger Sicht derben Ausdrücke und Sitten und dass er und seine Kumpels selbst herausfinden mussten, dass der Klapperstorch auch nur ein Weihnachtsmann ist. Irgendwo zwischen Günter Grass´ "Blechtrommel" und Rosemarie Nitribitt, werden erste Erfahrungen gemacht, die in die reale Welt einsortiert werden müssen. Alles zwischen dem traditionellen Umfeld der Adenauer-Epoche - mit Oma, einer Kriegerwitwe, dem jüngeren Bruder, dem Onkel (der andere Dingen erzählt als der Pfarrer), Konfirmation, Politik und Schule. Auf dem Weg in eine Zukunft, die weit hinter dem Mond zu liegen schien. Es geht um den Freund, Arschlöcher, kluge Mädchen, Omas Leidenschaft für J.F.K., Klaus (dem fast der Finger abgebissen wurde), Ilse mit Fusseln zwischen den Zehen, Frauen mit Hinterbacken wie Kutschenpferde und Haarbüschel wie Handfeger unter den Achselhöhlen, die Frage, ob Wichsen dumm macht oder die Anzahl an "Schüssen" limitiert ist, und die "uralten Menschen", die damals jünger waren als der Autor heute.

Hage Becker wurde 1951 in einen Hunsrückdorf geboren. Der Bauernhof seines Großvaters und die kunsthandwerkliche Goldschmiedewerkstatt seines Vaters, haben seine Kindheit und Jugend begleitet. Das Arbeit der Bauern für das tägliche Brot zu sorgen auf der einen Seite und das, was das Leben schön macht - die Kunst und edler Schmuck auf der anderen Seite, prägten seine Lebenswahrnehmung. Der Hunrück - rau im Winter, aber übers Jahr eine sanfte Heimat. Bauernland und Künstlerland. Die Sprache - Dialekt. Gramatik nicht nach den Regeln des Dudens, aber es ist seine Sprache in Kindheit und Jugend. Der Autor ist verheirat, Vater von drei Kindern. Beruflich war er Leiter einer Verwaltungsdienststelle und Jahrzehnte parallel dazu Geschäftsführer einer Krankenhaus gGmbH

Prolog


Donnerstag, 10. April 2014

Die ZEIT raschelt leise, als ich umblättere. Ein leichtes Kribbeln huscht über meine Kopfhaut. Dieses Zeitungsrascheln liebe ich, seit ich meine erste Zeitung las – nein, schon seit ich meinen Zeitung lesenden Vater beobachten konnte. Zeitung lesen war seit dieser Zeit immer mit einem angenehmen Gänsehautgefühl verbunden.

Nachdem ich die Zeitung glatt gestrichen hatte, fing mich die Schlagzeile Schwesig will Erlaubnispflicht für Bordelle ein. Für jede Pommesbude gelten strengere Regelungen als für Bordelle, klagte sie. Sie plane härtere Regelungen, etwa bei Bordellneueröffnungen.

Ein Grinsen macht sich bei mir breit. Härter ist in diesem Zusammenhang gut formuliert, finde ich. »Ohne Härte kein Leben«, hörte ich meinen Onkel vor mehr als fünfzig Jahren sagen. Warum fällt mir das jetzt ein? Weiß nicht, ohnehin ist heute ein Weiß-nicht-Tag. Bordellbetreiber müssen nach den Plänen dieser gut aussehenden blonden Ministerin in Zukunft eine Erlaubnis beantragen, wenn sie eine Prostitutionsstätte eröffnen wollen. Prostitutionsstätte? Ein Wort, das mich berührt. Tolle Formulierung ohne Zweifel. Alle Achtung, junge Frau, denke ich. »Mit Verlaub«, verehrte Frau Ministerin, »mir fällt dazu spontan ein«, spreche ich in Richtung Zeitung, »Familienbildungsstätte, Frau Familienministerin, oder Produktionsstätte.« Besser Gewerbestätte für das älteste Gewerbe der Welt. Ob sie auch Vorschriften erlassen wird über den Härtegrad der Matratzen, oder ob dafür Brüssel zuständig ist? Puff. Puff ist kurz und klar, das versteht jeder, aber Prostitutionsstätte? Ich schüttele leicht den Kopf. Ein altes und stets aktuelles Thema ohne Zweifel.

Ich lasse die Zeitung auf meinen Schoß sinken und versuche im Kopf einen Gedanken einzufangen. Wann wurde ich zum ersten Mal mit der Sache konfrontiert? Da war doch was, ganz weit hinten in meinem Kopf. Ja, es drängt sich in mein Bewusstsein: der Vater, ein Wurstbrot und Senf.

»Was ist eine Nitribit?« Meine Frage führte damals am Tisch zu einem Bewegungsstillstand. Vater bremste sein Wurstbrot kurz vor dem bereits weit geöffneten Mund ab und schaute die Mutter an. »Wir essen«, sagte diese. Vater nickte und biss nun herzhaft in sein Brot. Während er kaute, betrachtete er eine Fliege, die am Fliegenfänger zappelte, der an der Lampe über dem Tisch hing. Bald würde sie Ruhe geben. Wieder einmal so eine Frage, die weder während des Essens noch danach eine Antwort erhalten würde. Das wusste ich sofort, als meine Mutter sagte: »Wir essen.« Also biss auch ich in mein Wurstbrot, das ebenfalls dünn mit Senf bestrichen war.

Eine Ewigkeit her, diese Frage zu der Nitribit. Jetzt, mehr als fünfzig Jahre später, sitze ich auf der Terrasse meines Hauses mit einer Grußkarte in der Hand – oder ist es eine Glückwunschkarte, gar nur eine Abschiedskarte? Vor zwei Tagen wurde ich verabschiedet. Mein Berufsleben war innerhalb weniger Augenblicke geschrumpelt wie ein ausgemergelter Penis. Noch fünf Zentimeter schlaffes Leben, so empfand ich meine neue Situation. Leeres Leben, leerer Sack, schlaffer Schwanz. Hoher PSA-Wert.

Ich schaue wieder auf meine Zeitung. Die ZEIT wird nun wohl wöchentlich Teil meiner Zeit werden. Ein Gähnen reißt mir den Mund auf.

»Wie schmeckt der Ruhestand?« Die fröhliche Stimme der Nachbarin erreicht mein Bewusstsein.

»Weiß es noch nicht«, rufe ich zurück, »heute Abend werde ich etwas davon kosten. Meine Frau hat ihn als Auflauf im Backofen. Ich sage dir Bescheid.«

Rosemarie, meine Nachbarin, lacht und ruft: »Guten Appetit, Peter. Knusprige Oberfläche ist das Geheimnis eines guten Auflaufs.«

Ich schaue ihr nach, wie sie dynamisch in Richtung Geräteschuppen stolzierte. Ihre Pobacken scheinen sie zu verfolgen, als ob sie Rosemarie überholen wollen. Rosemarie, die Fröhliche, so präsentiert sie sich, seit ich sie kenne. War sie aber nicht. Als Nachbar kriegt man eben so Manches mit. Eine Nitribit war sie aber auch nicht. Nitribit – hieß die nicht auch Rosemarie? Natürlich, jetzt fällt es mir ein. Diese Rosemarie Nitribit war tot. Ich überlege, wann das gewesen sein könnte. Ende der Fünfzigerjahre? 1957 oder war es 1958? Ich überlege. Es war 1957, da bin ich mir plötzlich sicher.

Egal, die Nachbarin Rosemarie lebt – und wie sie lebt. Fünfzig plus, also gut zehn Jahre jünger als ich. Ihr Gewicht? Ich versuche, es einzuschätzen. Achtzig Kilo plus? Gut möglich, davon aber mindestens zwanzig Kilo an Brüsten und Hinterbacken.

Rosemarie verschwindet im Geräteschuppen und ich widme mich nun wieder meiner Karte, auf der in lila Buchstaben zu lesen ist: Zum Abschied. – Mein Blick schweift über den Garten. Was war das denn? Ich schaue noch einmal: Wie eine in Stein gemeißelte Statue steht der Vogel auf dem First des Gartenhauses. Er hält seinen Kopf leicht geneigt; ich kann erkennen, dass er den Gartenteich im Visier hat. Ich lasse nun meinen Blick ebenfalls zum Teich wandern und beobachte, dass die Fische weiterhin gelassen ihre Runden drehen, die existenzielle Gefahr ist ihnen nicht bewusst. Sollte ich eingreifen? Fressen und gefressen werden, so war das doch. Also nein, nicht eingreifen. Der Kormoran bewegt sich keinen Deut. Katja … oder ist es ein Karl, der gelblich-weiß gefärbte Koi, der so menschlich schmatzt, wenn meine Frau mit dem Futtereimer am Teichrand auftaucht? Sollte ich nicht einen Warnruf aussenden? Bin ich nicht dazu verpflichtet? Der Koi und ich sind so etwas wie Freunde geworden.

Im gleichen Augenblick höre ich meine Frau brüllen: »Du Mistvieh!«

Knapp an meinem Kopf vorbei fliegt der neben der Terrassentür liegende Handfeger in Richtung Gartenhaus. Er trifft den Vogel nicht, aber der Kormoran erhebt sich in die Luft, dreht noch eine Ehrenrunde und ist weg. Der Handfeger landet im Gartenteich direkt neben dem Koi, der nicht einmal wegtaucht. Cool, cool, staune ich.

»Verdammt«, stöhnt meine Frau. »Entschuldigung, Leben retten ist mit Risiko verbunden. Hoffentlich habe ich dich nicht verletzt.«

»Nein«, beruhige ich meine Frau.

Karl hatte sich inzwischen abgesenkt, wohl weil der Handfeger auf der Wasseroberfläche heftig hin und her schaukelte.

»Du hättest eingreifen müssen«, entrüstet sich meine Frau.

»Ich hatte ernsthaft darüber nachgedacht«, entgegne ich, »aber da kam bereits dein Handfeger aus dem Hinterhalt.«

»Den du nun bitte aus dem Teich holen solltest«, beauftragt sie mich und fügt hinzu: »Meine Fische sind keine Fresspakete für Kormorane.«

Ein leichter Blubb lässt uns beide in Richtung Gartenteich blicken.

»Nein«, stöhnt meine Frau.

Wir sehen, dass sich Kater Arthur einen Goldfisch aus dem Wasser geschlagen hat und dabei ist, ihn mit Appetit zu fressen; er hat ihm gerade eben den Kopf abgebissen.

»Arthur!«, schreit meine Frau.

Arthur macht einen Buckel, faucht und stellt den Schwanz auf.

»Wenigstens nicht der Koi«, seufzt meine Frau. »Im Übrigen, zu deiner Information: Ich koche heute Fisch. Eine Flasche Wein sollte von dir beigesteuert werden.« Sie grinst mich an. »Heute ist Freitag, also Fischtag.«

Hat wohl der Kormoran auch gedacht, geht es mir durch den Kopf. »Seelachs?«

»Nein, Kabeljau.« Sie geht zurück ins Haus.

Ob Goldfische essbar sind? Alles ist essbar, denke ich. Wie oft hatte ich als Kind gehört: Im Krieg frisst du alles.

Die Karte ist zu Boden gefallen. Ich nehme sie wieder zur Hand. Zum Abschied … Ich lese zum wiederholten Mal die lila Buchstaben. Lila – bin ich etwa so einer? So kommt mir wieder mein Onkel in den Sinn. »Jeder«, sagte er, »ist ein bisschen lila. In der Kriegsgefangenschaft bekam ich einmal eine Erektion, als ich einen rosigen Arsch durch eine Hecke blitzen sah. Ich dachte: Ob ich jemals wieder einen nackten Frauenarsch zu sehen bekomme? Ja, das dachte ich, mein Lieber, als ich diesen weißen Arsch sah und meine Erektion genoss. Die fiel aber sofort wieder in sich zusammen, als ich unter den Backen den ausgemergelten Hodensack baumeln sah. Nein«, sagte er, »seit der Zeit bin ich mir absolut sicher, dass ich nicht lila bin.« Mein Onkel, der Geschichtenerzähler. Nun ist er schon eine Ewigkeit unter der Erde. Die Karte mit den lila Buchstaben hätte ihn amüsiert.

Ich schlage die Karte auf und buchstabiere jedes Wort, so als wäre es der erste eigene Versuch, einen kleinen Text zu lesen und zu verstehen: Lieber Peter, willkommen im neuen Lebensabschnitt. Ab heute wird die Zeit neu gezählt. Ab vorgestern, korrigiere ich in Gedanken. Es beginnen die Tage ohne Arbeitsstress. Dein Geld wird von einer anonymen Kasse überwiesen und deine einzige Verpflichtung...

Erscheint lt. Verlag 17.2.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur
ISBN-10 3-7407-2243-6 / 3740722436
ISBN-13 978-3-7407-2243-2 / 9783740722432
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