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Von den Nazis trennt mich eine Welt (eBook)

Tagebücher aus der inneren Emigration 1933-1939
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
448 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12086-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Von den Nazis trennt mich eine Welt -  Hermann Stresau
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Die literarische Wiederentdeckung: der hellsichtige Blick eines Intellektuellen auf die Jahre 1933-1939 »Es war vor allem nicht leicht, inmitten eines grandios aufgeblähten Machtsystems zu leben, inmitten eines geistigen Terrors, einer phantastischen Lügenhaftigkeit, innerlich abseits, bemüht, sich nicht blenden zu lassen, auch nicht von scheinbaren Vorzügen und Erfolgen.« Hermann Stresau arbeitet als Bibliothekar in Berlin, als 1933 die Machtergreifung durch die Nationalsozialisten erfolgt. In seinen Tagebüchern, die der in Amerika geborene Intellektuelle mit der Machtergreifung wieder aufnimmt, entfaltet sich ein intimes Bild der Vorkriegszeit. Ausnehmend klarsichtig schildert er, wie die neuen Machthaber mit der ihnen eigenen Mischung aus geschickt eingesetzter Propaganda, inszenierten Machtdemonstrationen, der skrupellosen Ausübung von Gewalt und einer gut organisierten Bürokratie die Herrschaft absicherten und Stück für Stück ausweiteten. Doch genauso sehr interessiert sich Stresau für sein Umfeld. Reflektiert beschreibt er das Verhalten derjenigen, die sich aus Überzeugung oder Karrieregründen dem System andienen, schildert das Mitläufertum ebenso wie die Gedanken der ihm Gleichgesinnten, die sich den neuen Verhältnissen verweigern. So entsteht ein unvergleichliches Zeitpanorama und Psychogramm der Deutschen. Die Tagebücher wurden von den Herausgebern Peter Graf und Ulrich Faure wiederentdeckt und reichen von 1933-1945. Ein zweiter Band, der die Kriegsjahre umfasst, erscheint im Herbst 2021. Die Herausgeber Peter Graf und Ulrich Faure zur Editionsgeschichte Die Originaltagebücher Hermann Stresaus werden gemeinsam mit seinem weiteren Nachlass im Literaturarchiv Marbach verwahrt. Es sind schmucklose schwarze Kladden, in die er handschriftlich seine Beobachtungen und Gedanken niedergeschrieben hat. Aber wer darin zu lesen beginnt, spürt sofort, dass dies keine rein privaten Aufzeichnungen sind; hier möchte jemand die Ereignisse zwischen 1933 und 1945 für die Nachwelt festhalten und Zeugnis ablegen. Und so veröffentlichte Hermann Stresau bereits 1948 unter dem Titel »Von Jahr zu Jahr« eine Auswahl seiner Tagebuchnotizen im Berliner Minerva Verlag. Zu früh, denn so kurz nach dem Krieg stießen seine Erinnerungen auf kein großes Echo. Und vielleicht kann dieses bedeutende literarische Zeitdokument auch erst mit dem heutigen Abstand von mehr als 80 Jahren gewürdigt werden. Die vorliegende Ausgabe vereint in einem ersten Band alle Eintragungen Stresaus und kommentiert sie, auch jene, die er in seiner Erstveröffentlichung aus Platzgründen weggelassen hat. Peter Graf, Ulrich Faure, Herbst 2020

Hermann Stresau, geboren am 19. Januar 1894 in Milwaukee, wuchs in Frankfurt am Main auf. Ab 1912 studierte er Germanistik und war zwischen 1929 und 1933 als städtischer Bibliothekar in Berlin tätig. Nach seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten arbeitete er als Schriftsteller, Lektor, Kritiker und Übersetzer und wurde zu einem angesehenen Intellektuellen der Nachkriegszeit. Davon zeugen unter anderem seine Mitgliedschaft in der Akademie für Sprache und Dichtung sowie das Ehrenpräsidentenamt des Schriftstellerverbandes Niedersachsen.

Hermann Stresau, geboren am 19. Januar 1894 in Milwaukee, wuchs in Frankfurt am Main auf. Ab 1912 studierte er Germanistik und war zwischen 1929 und 1933 als städtischer Bibliothekar in Berlin tätig. Nach seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten arbeitete er als Schriftsteller, Lektor, Kritiker und Übersetzer und wurde zu einem angesehenen Intellektuellen der Nachkriegszeit. Davon zeugen unter anderem seine Mitgliedschaft in der Akademie für Sprache und Dichtung sowie das Ehrenpräsidentenamt des Schriftstellerverbandes Niedersachsen. Peter Graf, geboren 1967, leitet den »Verlag Das Kulturelle Gedächtnis« und die Verlagsagentur »Walde + Graf«. Publizistisch begibt er sich vor allem auf die Suche nach vergessenen Texten, um sie heutigen LeserInnen neu zugänglich zu machen. Ulrich Faure, Jahrgang 1954, lebt als Herausgeber und Übersetzer aus dem Niederländischen, u. a. von Simon Carmiggelt, Thomas Heerma van Voss, Rob van Essen und Pieter Waterdrinker, in Düsseldorf.

30.9.​33


Preußens Entwurf zum neuen Strafgesetzbuch[21] sieht Bestimmungen zum Schutz der Rasse vor, die den Juden mit Negern und anderen Farbigen gleichstellen. Nicht nur, daß Ehen mit »Farbigen« unmöglich gemacht werden, schon der Verkehr, insbesondere der geschlechtliche Verkehr mit ihnen ist strafbar. Neues willkommenes Futter für Denunzianten. Die Unmenschlichkeit und Gemeinheit dieses Entwurfs – der ja nur auf die Juden abzielt, da es sonst kaum »Farbige« bei uns gibt – enthüllt sich erst recht bei Betrachtung konkreter Möglichkeiten der deutschen Juden oder von Mischlingen, die damit zu Parias werden. Davon abgesehen: der Wahnwitz wäre auch wert, vom antisemitischen Standpunkt aus angesehen zu werden. Eine künstliche und gewaltsame Ghettoisierung der Juden, die schon Schlimmeres überstanden haben, würde eine erneute Nationalisierung bedeuten, die durch die alte Traditionskraft des Judentums gestärkt und befördert werden könnte. Das Judentum könnte daraus Konsequenzen ziehen, wenn es die alte Kraft bewiese. Ich denke an die Rede, die Arnold Zweig im vorigen Jahre hielt und die wir in jener Versammlung Berliner Juden angehört haben: es war ein tiefer Eindruck für uns beide, als Zweig von dem religiösen Rückhalt des Judentums sprach. Und darüber wird sich doch niemand täuschen außer jenen blinden Maulwürfen, die dies Gesetz vom heiligen Ungeist des Rassengottes empfingen, daß hier zwei Gegner miteinander zu tun haben, von denen der eine über eine vieltausendjährige Erfahrung, der andere über gar keine zu verfügen hat. Es ist schließlich eine politische Dummheit ersten Ranges.

Morgen wieder ein Fest: Erntedankfest.

Seit Tagen ist uns bedrückt zumute. Man hat zu nichts Lust, nicht einmal zum Wandern, trotz des unbeschreiblich schönen Herbstwetters. Abends liegen die Nebel auf den Wiesen, wie weite Seen.

Der Gedanke, doch wieder mitarbeiten zu sollen, ist mir nun so zuwider wie nie zuvor. Ich beneide fast unseren Dr. Erich Müller, der sich bewußt fernhält, dies auch leichter tun kann, da er für niemand zu sorgen hat. Im übrigen kann es ja egal sein, wie man in den Abgrund marschiert. Wir neigen zu der Ansicht, daß nur ein Krieg uns wieder herausreißen kann – aber was für einer? Ein »Dreißigjähriger«?

Der Prozeßverlauf um den Reichstag erwies bisher nur, daß dieser schwachsinnige Holländer den Brand verursacht hatte, wiewohl es wunderbar anmutet, wie er allein, in 20 Minuten mit ein paar Servietten, einem alten Hemd und ähnlichen Utensilien den halben Reichstag ausbrennen konnte, wenn da nicht gründlich vorgesorgt worden ist. Sonst brachte die Verhandlung eine Menge Widersprüche zutage, die natürlich Dimitroff so lange ausnutzte, bis sie ihm den Mund zuhielten. Das Ganze macht einen kläglichen Eindruck, und mit dem Nachweis der Mitschuld der KPD scheint es so zu stehen, daß selbst die Prozeßleiter ihn aufgegeben haben.

Trübe Tage, mir ist sehr übel zumute. Und wenn man lautwerdende Gespräche im Publikum auffängt, so klingt meistens ein Ton äußerster Skepsis durch. Es ist wie mit den Snip-Zugaben in den Schachteln der Regie-Zigaretten[22]. Orakel, Orakel. Sie spielen damit, doch glauben tut keiner daran. Aber daß man erwachsenen Menschen so etwas zumutet, das sagt genug – ein unbeschreiblicher Verfall. Nur die Jugend, die Jugend. Ihr Kern ist gut. Man kann sie nicht sehen, ohne zu denken: was müssen die noch alles ausbaden …

Ich begann Schmidt-Rohrs Muttersprache[23] zu lesen. Ein verwegenes Unternehmen, kann man sagen, stellt dieses Buch dar. Soviel ich sehe, will S.-R. der Sprache sogar physische Einwirkung auf die körperliche Erscheinung einer Sprachgemeinschaft zuschreiben. Das scheint mir doch etwas weit gegriffen. Er fußt auf Fichteschen Gedankengängen, die mich jetzt beschäftigt haben. Fichte hat mich, nach anfänglichem Abstoßen, stark gepackt. Abstrus ist er, aber welche geistige Höhe im Vergleich zu den Rittern von heute! Nicht einmal das geistige Niveau ist entscheidend, das einen höheren und infolgedessen Überblick, eine größere Weitsicht erlaubt, sondern im Grund etwas anderes: die ursprüngliche Substanz dieses Mannes, der noch nicht einmal zu den besten Köpfen seiner Zeit gehört. Aus diesen Reden erzeugt sich das Bild einer ernsten Gestalt, einer großen Selbstverantwortung und Frömmigkeit, so abstrus er sich ausdrückt. Es ist kein Geschwätz, sondern zumindest etwas, bei dem er sich etwas Ernsthaftes und Unwiderrufliches dachte. Deshalb sind seine Gedanken revolutionär.

Gegen ihn gehalten sind die heutigen Vaterlandsführer samt und sonders Waschweiber. Womit ich den wirklichen Waschweibern nicht zu nahetreten möchte. Aber das Volk hat sie ja selbst gewählt und wollte es so.

1.10.​33


Sonntag, Erntedankfest[1]. Wir haben davon nicht viel gesehen: nachmittags verzogen wir uns über das Moor zum Apfelgarten, wo eine Menge Menschen saßen. Unsere Stimmung zeitweise sehr gedrückt. Dieser Gesetzentwurf geht einem in seiner ganzen Tragweite auf: neben der Unmenschlichkeit die enorme Dummheit des Verfahrens.

Das Wetter, wie zum Hohn, war prachtvoll.

2.10.​33


Es ist plötzlich kühl geworden. Heute morgen in aller Frühe erstaunlicherweise ein Gewitter. Regnerischer trüber Vormittag, den ich mit Arbeiten an meinen Kursen verbrachte.

Las nachmittags Zolas Bestie. Ein furchtbares Buch, und nur erträglich wird dieser scheußliche Stoff durch die unheimlich großartige Meisterschaft seines Bändigers. In welch unterirdischem Bezug übrigens die Technik (Eisenbahnen, Lokomotiven, Bahnhöfe) zu dem psychischen Teil dieses Romans steht, das kann man nur ahnen, aber es ist auf eine überzeugende Art richtig. Obwohl beide zuerst, auf den flüchtigen Blick hin, nichts miteinander zu tun haben. Die unterbewußten Zusammenhänge von sich bewegenden Maschinen und seelisch-körperlichen Angelegenheiten des Menschen: man denke an die fraglos lustbereitende Bewegung des Fahrens, Schaukelns und wahrscheinlich auch Fliegens. Für mich wenigstens liegt im Anblick eines mit großer Geschwindigkeit fahrenden Zuges ein nie versagender Reiz schwer vergleichbarer Art. Das Dämonische der doch sehr rationalen Welt der Technik mag nur dem so erscheinen, der nichts von ihr versteht und alles für wunderbar hält, was er nicht kennt – aber das ist der eigentliche Grund nicht, kann es nicht sein. Ein so gewissenhafter Mensch wie Zola bringt nicht nur aus Zufall die Eisenbahntechnik mit Blut und Mord und Wollust in einen Komplex. Ich glaube, erst eine spätere Zeit, vielleicht eine sehr späte, wird die Richtigkeit dieser Zolaschen Entdeckung auffinden. Ich meine, daß das Erstaunliche und Bedeutende dieses wüsten Romans gerade hierin zu suchen ist.

Jedenfalls dürfte derjenige sehr einfältig sein, der in der Welt des Technischen, des modern Technischen heißt das, das so viel mit Geschwindigkeiten zu tun hat, nur einen sauberen, nüchternen Komplex exakten Funktionierens suchte. Der Techniker mag sich das einbilden, und vielleicht von seiner Seite aus sogar mit Recht: denn er hat erfolgreich abreagiert. Aber daß dem Ganzen etwas Wüstes, Mörderisches zugrunde liegt, ist für mich außer allem Zweifel. Die untechnischen Zeiten hatten andere Orgien.

6.10.​33


Kam Mittwoch ziemlich elend zurück, Grete war bettlägerig, vorgestern blieb ich liegen. Heute gingen wir ein wenig spazieren, saßen in der überaus milden Oktobersonne am Waldrand auf einer verwitterten Bank und wärmten uns wie alte Leute. Ich werde wohl zum Kiefernspezialisten müssen.

Zur Feier unseres beiderseitigen Krankseins wurde gestern ein Huhn geschlachtet, und wir schwelgten mit Jackie in Hühnerfleisch.

Las Karsthans’[2] Die Bauern marschieren. Nicht schlecht, obwohl sicher nicht das beste Buch über den Bauernkrieg. Las abends in Goethes West-Östlichem, und wir bestaunten die himmlische Heiterkeit dieser Gedichte.

Las heute Shakespeares Sturm und Landauers Vortrag[3] dazu. L. hat recht: man muß an späte Werke Beethovens...

Erscheint lt. Verlag 13.3.2021
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Briefe / Tagebücher
Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Amerika • Berlin • Bibliothekar • Boschwitz • Drittes Reich • Gewalt • Göttingen • Kellner • Klemperer • Lektor • Macht • Machtergreifung • Mitläufer • Nationalsozialismus • Naziverbrechen • Propaganda • S. Fischer • Übersetzer • Wiederentdeckung • Zeitzeugnis
ISBN-10 3-608-12086-6 / 3608120866
ISBN-13 978-3-608-12086-8 / 9783608120868
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