Polarkreis und Umgebung (eBook)
136 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-1355-6 (ISBN)
Anton Christian Glatz, geb. 21. Februar 1956, Schriftsteller in Graz. Seit seinem 17. Lebensjahr verfasst er literarische Texte mit den Schwerpunkten erzählende Prosa und Essays. A. Ch. Glatz fühlt sich der Fantastik sowie der Gesellschaftskritik verpflichtet.
Die Tasche des Franzosen
Es steht immer noch vor meinen Augen, als sei es gerade vorgestern gewesen ... Kompromisslos wie der Zeigefinger Gottes stach sich der erste Strahl der Morgensonne seinen Weg durch finstere Wolkengebirge. Bald würde uns die Frühlingssonne wärmen. Viele von uns brauchten es allerdings nicht mehr, denn sie lagen tot auf matschiger Erde, im Schützengraben, verrenkt im Stacheldraht oder irgendwo zwischen unserer Linie und der der Franzosen. Zerfetzt, ausgeblutet, Uniformen beider Seiten vom Regen, der soeben aufgehört hatte, durchnässt. Noch rauchten die Läufe der Maschinengewehre und der Gestank des abgeschossenen Pulvers reizte Nase und Lunge. Mir dröhnte der Kopf von den Schüssen, den Schreien, den Explosionen, den Befehlen, auch von denen, die ich selbst gebrüllt hatte, einer Sinfonie des Lärms. Manch einen der Verwundeten hörten wir um Hilfe rufen und stöhnen, bis er endlich leiser wurde und zu guter Letzt verstummte.
Am Eingang zu meinem Unterstand saß Fritz, unser Telefonist, mit offener Feldbluse in einer Pfütze. Seine Eingeweide quollen aus dem aufgeschlitzten, blutverschmierten Bauch. Mit zittrigen, dreckigen Fingern versuchte er sie zurückzustopfen. Als er mich sah, deutete er mit einer Kopfbewegung auf die Pistole in meiner rechten Hand und keuchte: „Um Gottes Willen, Herr Leutnant, bitte machen Sie ein Ende. Mir ist die Munition ausgegangen.“
Ich rief nach dem Sanitäter, aber der war weit weg, wo es jede Menge Fälle von ebensolcher Dringlichkeit zu versorgen galt. Ich tat Fritz den Gefallen.
Tagelang waren wir beschäftigt, die Verwundeten zu versorgen, Schäden zu reparieren und Neulinge einzuquartieren. Für mich als Kommandant bedeutete das eine Menge organisatorischer Arbeit. Die Verlustmeldungen wollten geschrieben sein, viele Soldaten mussten ersetzt werden, die Neulinge galt es einzuweisen.
Mitten in diesen Arbeiten befand unser Oberkommando, es sei Zeit, einen Gegenangriff zu starten. Auf meinen Einwand hin, wir wären dafür noch nicht gerüstet, war mir die Auskunft erteilt worden, gerade, weil der Feind ebenso dächte, sei der Zeitpunkt günstig. Es gelte, das Überraschungsmoment zu nützen, das Unerwartete zu tun, eine strategische Raffinesse, mit der ich als einfacher Leutnant freilich überfordert schien.
Ab vier Uhr früh beschoss unsere Artillerie die gegnerische Linie für über zwei Stunden. Wir warteten unterdessen im Graben. Ich machte die Runde und überprüfte sporadisch die Ausrüstung der neuen Soldaten, die gerade einmal wussten, wo die Latrine lag. Mit dem neuen Telefonisten, einem Grünschnabel von vielleicht 17 Jahren, dem ich persönlich keine drei Monate Überlebenszeit gab, hielt ich ständig Kontakt.
Nach der Taktik der Feuerwalze sollten wir uns im Gefolge unseres Artilleriefeuers so weit wie möglich an die feindlichen Stellungen heranmachen, während die Franzosen in ihrer Deckung verharren mussten. Bei Abbruch unseres Artilleriebeschusses sollte es für die feindlichen Soldaten zu spät sein. Soweit die theoretische Überlegung, eine Hoffnung, die sich in meinem Frontabschnitt jedenfalls nie erfüllte; weder für unsere Seite, noch die der französischen.
Das Heulen der Granaten über unseren Köpfen war noch voll im Gange, als das Feldtelefon klingelte. Der Grünschnabel hob ab und meldete sich vorschriftsmäßig. Mit einem „Zu Befehl!“ legte er wieder auf. Es war soweit! Auf mein Kommando pflanzte die Mannschaft die Bajonette auf. Ich zog die Pistole, Typ Parabellum 08, dann kletterten wir aus dem Graben und stürmten los ...
Unser Artilleriefeuer brach zu früh ab, die Franzosen fluteten wieder in ihre Stellungen zurück. Sofort schlug uns heftiges Infanteriefeuer entgegen, wütend ratterten die französischen Maschinengewehre. Ihre Salven sägten sich durch unsere Reihen. Die Handgranaten flogen hin und her, explodierten mal da, mal dort.
Auf halbem Weg zu den Franzosen stolperte ich und fiel in einen der unzähligen Krater. Als ich wieder aufspringen wollte, ließ mich ein stechender Schmerz im linken Knöchel zusammenfahren. Ein Granatsplitter hatte mich gestreift. Verdammt – was tun? Der Linie der Franzosen entgegenhumpeln, hoffen, nicht im Wege zu stehen und dabei ein leichtes Ziel bieten? Lächerlich ... Taktisch schien es mir am klügsten, zu warten bis Hilfe kam. Spätestens in der Nacht wollte ich mich zu meinen Stellungen zurückschleichen. Unter Tag wäre ich bloß eine Beute der feindlichen Scharfschützen geworden. Es heißt, in einen Krater schlüge nicht noch einmal eine Granate ein, was natürlich purer Aberglaube ist. Dennoch vermittelt dieser Unsinn die Illusion eines Rückzugsortes, just da, wo es genau genommen keinen gibt. Glücklicherweise war der Krater tief genug, mich vollständig darin zu verbergen.
Wie ich vermutet hatte dauerte es nicht lange, bis unsere Soldaten wieder am Rückzug waren. Erwartungsgemäß hatte dieser Angriff nicht einen Quadratmeter Geländegewinn gebracht, ebenso wenig wie die zahlreichen anderen, die ich schon erlebt hatte. Nach Jahren des Krieges fand ich mich jenseits aller Illusionen. Ich rief, aber im Tosen der Schüsse, Maschinengewehrsalven, Explosionen, im allgegenwärtigen Schreien und Rufen ging meine Stimme unter. Einzig einer meiner Soldaten hörte mich. Er drehte sich um und fiel im nächsten Moment infolge eines Treffers durch die Schläfe ins rechte Auge.
Die Franzosen setzten nach. Obwohl keineswegs mit voller Stärke, verfolgten sie dennoch meine Soldaten bis nahe an unsere Linie. Sie liefen an mir vorbei, der ich regungslos, in einer absichtlich leicht verrenkten Stellung am Boden lag und dadurch vorschützte, tot zu sein. Aber auch sie traten wenig später den Rückzug an, zahlenmäßig dezimiert.
Plötzlich kamen mir Bedenken, ob ich, abgeschnitten von meiner Truppe, für einen länger andauernden Kampf ausreichend gerüstet war. Wie für Offiziere üblich führte ich kein Gewehr mit mir. Ich blickte mich um. Ha, in Griffweite ragte der Kolben einer Schusswaffe in meinen Krater! Da bedankt man sich eben beim Schicksal. Ich zog die Waffe an mich, ein Gewehr der französischen Armee, das Bajonett aufgepflanzt.
Die Freude erwies sich als verfrüht, denn ich musste feststellen, dass der Verschluss klemmte. Keinen einzigen Schuss würde ich damit abgeben, verdammt! Möglicherweise würde sich das Bajonett als nütz... Da warf sich jemand in meine Grube! Haarscharf glitt die Schneide eines Bajonettes an meinem Hals vorbei. Der Soldat allerdings war mit der Brust in mein Bajonett gefallen und kam mit einem Schrei auf der gegenüberliegenden Seite des Kraters zu liegen. Das Gewehr mit dem Bajonett voran steckte tief in seiner Lunge in der Herzgegend. Ich zog es heraus. Erst jetzt gewahrte ich, dass es sich um einen Franzosen handelte.
In einem ersten Impuls wollte ich auf meinen Feind einstechen, der sich stöhnend an die Brust griff, aber etwas hielt mich zurück ... Ich ließ ihn in Ruhe. War das Zufall gewesen oder ein Angriff? Vermutlich letzteres. Wahrscheinlich war dem Franzosen die Munition ausgegangen. Ich wollte wissen, ob ich die Lage richtig einschätzte und überprüfte seine Waffe sowie Magazin – tatsächlich keine Patrone mehr. Sei's drum. Ich hatte mich beruhigt und er war keine Gefahr mehr, das war offensichtlich. Abgesehen davon lag er ohnehin bereits im Sterben. Dunkles Blut durchnässte rasch den Mantel. Seinem Lächeln, in dem eine Mischung aus Verachtung und Resignation lag, zufolge hatte er begriffen, wie es um ihn stand.
Krieg ist nichts Persönliches. Der Feind stürmt auf einen zu, man schießt nach Kräften, in der Hoffnung ihn getroffen zu haben, bevor es einen selbst erwischt. Ganz einfach. Man sagt, wehe, der Krieg bekommt ein Gesicht. So eines vielleicht, wie das des Soldaten neben mir: glatt rasiert, dunkelblonde Haare, kurz geschnitten, graue Augen. Eigentlich sah er gar nicht so aus, wie man sich einen Franzosen vorstellt. Eine schlecht verheilte, fingerbreite Wunde zog sich quer über das Kinn, vermutlich ein Streifschuss ... Ja, der Krieg. Wehe, er bekommt ein Gesicht. Aus dem Feind wird zuerst der Gegner, dann der Mensch, dann ... Bei allem Verständnis sagte ich mir: Besser er als ich.
Apropos „er“ – wer war „er“ denn? Er röchelte, als ich ihm seine Umhängetasche aus dunkelbraunem Leder von der Schulter nahm. Argwöhnisch sah er mir zu, doch ließ er es geschehen. Er war sowieso außerstande, sich zu wehren. Ich entnahm ein paar persönliche Habseligkeiten: Laut Wehrdienstbuch handelte es sich um den Infanteristen Caporal Maurice Albert Tesscoffier, geboren 1885. Ein leicht verknittertes Hochzeitsfoto mit einer jungen, brünetten Frau, zwei Briefe. Der eine wies als Absender Marie Tesscoffier aus, wohnhaft in Toulouse, Rue Joliment. Der andere war an eben diese Person gerichtet. Ein kümmerlicher Rest einer vertrockneten Hartwurst, in Fettpapier gewickelt, ein bisschen Verbandszeug. Aufregend war das nicht, andererseits: Was hatte ich erwartet?
Als ich wieder hochsah, hatte Caporal Tesscoffier aufgehört zu atmen,...
Erscheint lt. Verlag | 10.3.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Literatur ► Märchen / Sagen | |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Abakus • Erster Weltkrieg • Geschlechterthemen • Satiren |
ISBN-10 | 3-7534-1355-0 / 3753413550 |
ISBN-13 | 978-3-7534-1355-6 / 9783753413556 |
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