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Die Geheimnisse älterer Damen (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
336 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99912-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Geheimnisse älterer Damen -  Cristina Sánchez-Andrade
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»Es wird Zeit, dass wir verschwinden.« Mit diesen Worten beginnt die letzte Reise der Witwe Olvido Fandiño und ihres Dienstmädchens Bruna. In einem klapprigen VW-Käfer-Cabrio und mit einem großen ominösen Gegenstand, den die beiden Achtzigjährigen hinten ins Auto wuchten, machen sie sich auf den Weg - Doña Olvido am Steuer, die stolze Besitzerin des ersten Führerscheins, der in Santiago de Compostela jemals an eine Frau vergeben wurde; die stets mäkelnde Bruna auf dem Beifahrersitz, in ihrem alten Brautkleid, das nie zum Einsatz kam, weil ihr Verlobter nicht zur Hochzeit erschien. Die beiden Frauen, die ihr ganzes Leben zusammen verbracht haben und trotz ihrer ständigen Streitereien unzertrennlich sind, verbindet ein dunkles Geheimnis. Es hat nicht nur mit Olvidos verstorbenen Ehemann und dessen äußerst exzentrischer Familie zu tun - zu der ein Schaufensterpuppen sammelnder Bruder und eine Mutter mit einem Putztick zählte -, sondern auch mit den geheimen Liebschaften Brunas, die als junge Frau ins Haus der Familie Fandiño kam. Auf ihrer Reise über Galiciens Landstraßen reihen sich kuriose Ereignisse und düstere Erinnerungen aneinander. Denn der Weg dieser beiden mysteriösen Damen ist mit Leichen gepflastert - Kollateralschäden des Lebens, wenn man so will - und endet schließlich an einem Bergsee, in dessen stillen Wassern der Grund für alles ruht ...

Eines Morgens im November betrat Bruna im Nachthemd mit schlurfenden Schritten, zerzaustem Haar und starrem Blick das Schlafzimmer ihrer Herrin. Obwohl das Haus riesig war, schlief Doña Olvido Fandiño in einer kleinen, kaum zu belüftenden Kammer mit nackten Wänden, eisernem Bettgestell, Kruzifix und einem Nachttisch mit einem Fach für den Nachttopf. In dem Zimmer herrschte ein ganz eigener Geruch – eine Mischung aus dem öligen Duft von Magnolien, Gesichtspuder, Medizin und alter ­Wäsche. Das betagte Dienstmädchen schaltete die Nachttischlampe ein und legte sich, ohne ein Wort neben ihre Herrin ins Bett, zog die Decke bis unters Kinn und löschte dann wieder das Licht. So lagen die beiden alten Frauen stumm nebeneinander und staunten den Mond an, dessen schimmernder Glanz durchs Fenster fiel und lange Schatten warf.

Das Zusammenspiel von Licht und Schatten ließen die eine Hälfte von Brunas rundlicher Gestalt dunkel und hart wie Pappelholz erscheinen, während die dem Fenster zugewandte Seite leuchtete wie von einem Heiligenschein umgeben. Doña Olvido wollte gerade wieder die Augen schließen, als sie plötzlich noch einmal aufschreckte, den Arm ihres Dienstmädchens packte und sagte:

»Meine Füße sind nass und kalt, Bruna. Ich bin schon zu lange auf dem Grund des Sees gelaufen. Es wird Zeit zu gehen.«

Sie sprach ganz ruhig, doch ihre Hand hielt den Arm des Dienstmädchens umklammert, und in ihrer Stimme schwang der seltsam drängende Ton eines Vorgefühls. Sie lebten nun seit beinahe sechzig Jahren zusammen. Die eine konnte kaum sehen, war verschrumpelt wie eine alte Kartoffel und ihre Vorstellung von der Zukunft war wie die eines Huhns; die andere hatte Gedächtnislücken, nur noch eine Niere und ihre Knie knarrten wie rostige Türangeln. Dennoch lebten sie allein.

Sie teilten das Essen miteinander, das Fernsehprogramm, gute und schlechte Nachrichten, die Schmerzen in der Blase, ihre Marotten und ihre Erinnerungen. Sogar den Geruch von Trostlosigkeit, der das ganze Haus durchzog. Doña Olvido wusste, dass die falschen weißen Zähne ihres Dienstmädchens an einigen Stellen abgebrochen waren wie die Fliesen im Bad. Und das Dienst­mädchen kannte jede Falte der mittlerweile riesengroßen Ohren ihrer Herrin, die immer noch weiter zu wachsen schienen und ­deren Ohrläppchen mit der Zeit mehr und mehr erschlafften.

Bruna befreite sich von der eisernen Klaue ihrer Herrin und sah sie aus glasigen Augen traurig an.

»Heute?«, fragte sie. »Aber ich habe die Bohnen eingeweicht …«

Sie hatten schon oft darüber gesprochen, über die große Reise, wie sie es nannten, doch immer ganz allgemein, so wie man über den Flug der Zugvögel redete oder die Pilgerfahrt der Jungfrau Egeria ins Heilige Land.

Außerdem schien nie der richtige Moment zu kommen. Entweder hatte ein Termin beim Arzt dagegen gesprochen oder die letzte Folge einer spannenden Telenovela, die sie gerade im Fernsehen sahen, oder eben die für das Mittagessen eingeweichten Bohnen. Und schließlich hatten sie jede Menge Zeit, all die Zeit, die ihnen noch blieb, ja. Aber was, wenn eine von ihnen unterdessen starb?

Das war ihre größte Sorge: der Tod, der sie gleichzeitig erschreckte und faszinierte.

Bruna setzte einen Fuß auf den Boden, dann den anderen, rieb sich mit den Händen energisch durchs Gesicht und stand auf. Sie ging zur Tür, wobei sie die Haarnadeln in ihrem zerzausten Dutt feststeckte, als ihre Herrin, die sich bereits einen Schal über das hochgerutschte Nachthemd gewickelt hatte und in Wollstrümpfen und mit wirrem Haar, den Abdruck des Kissens noch auf ihrer Wange, auf dem Bett saß, erneut das Wort ergriff.

»Sag der Milchfrau, dass wir heute nichts brauchen«, meinte sie.

Bruna zuckte mit den Schultern und antwortete nicht. Sie hatte ihr Gebiss noch nicht im Mund. Man hätte ihr Alter schwer schätzen können: Ein paar Jahre jünger als Doña Olvido vielleicht, doch ihr Gesicht wirkte, als wäre die Zeit irgendwann stehen geblieben. Ihr drahtiges graues Haar ließ die dunkle Farbe von einst noch erahnen, und ihr immer noch glattes Gesicht hatte irgendwann die Konsistenz von altem Leder angenommen.

»Geh eine Reisetasche holen, eine kleine«, fuhr Doña Olvido fort. »Und sieh nach, ob du eine gebügelte Bluse für mich findest. Und du, zieh den Kittel aus und dein Sonntagskleid an. Und kämm dich mal«, fügte sie nachdrücklich hinzu, wobei sie mit dem Finger ärgerlich in Brunas Richtung stach. »Hier muss alles sauber und ordentlich sein, damit die Leute uns nicht für Schmutzfinken halten. Hast du den Philodendron gegossen?«

Das Dienstmädchen legte die Hand auf die Türklinke.

»So gegen elf machen wir uns auf den Weg«, meinte ihre Herrin.

Bruna wandte sich um. Ihre Augen leuchteten kurz auf, bevor sie wieder dunkel wie trübes Tümpelwasser wurden. »Aber ich habe die Bohnen …«, begann sie. »Ach was!«, sagte sie dann und verließ die Schlafkammer.

 

Und genau so begann es. Die große Reise. An einem windstillen grauen Morgen, an dem nicht einmal ein Vogel zu sehen war.

 

»Bruna, kommst du jetzt?! Du bist nun schon seit drei Stunden da drin zugange«, rief Doña Olvido. »Was machst du denn so lange? Bist du fertig?«

Aus der Küche war das Klappern von Kesseln zu hören. Die Geräusche von Tiegeln und Töpfen. Von Wasser, das aus dem Hahn lief. Öl, das in der Pfanne zischte. Unverständliches Murren und Brummen. Bruna murmelte ununterbrochen vor sich hin, wobei ihre Lippen von gegenwärtigen und vergangenen Dingen ­sprachen. In der Küche hatte sie sich stets geborgen gefühlt; sie mochte die warmen Dämpfe, das saftige Fleisch oder die ­feuchten Innereien der Fische. Die Küche war ihr Universum, und um sechs Uhr morgens kochte bereits das Wasser für den Tintenfisch, wurden die Zwiebeln in der Pfanne mit frischem Öl angebraten. Hier verbrachte sie den größten Teil des Tages. Ganz allein für sich sprach sie leise vor sich hin, schnitt die harte Rinde vom Brot ab, lutschte Feigen oder knabberte geröstete Kastanien.

Jetzt erschien sie mit einem Messer, einem Stößel und einem riesigen Kessel im Arm und brummte:

»Ich hab uns Empanadas mit Schnetzelfleisch gemacht, zum Mitnehmen.«

Den Kessel hatte sie mit einem Paket Kaffee, Milch, Schinken, ein paar Empanadas, einer Dose Sardinen, Tetilla-Käse, Würsten, Brot, einem Glas Diät-Erdbeermarmelade und einer Handvoll bereits weicher Bohnen gefüllt. Sie stellte ihn auf den Tisch in der Eingangshalle und ging, um noch mehr Dinge zu holen. Emsig wie eine Ameise, eilte sie hin und her, während sie unablässig mit sich selbst redete, trug Kisten mit Fotos, Kerzen, ein Grammophon, eine mit Intarsien versehene Truhe, einen Besen und allen möglichen Krempel heran und stapelte alles neben dem Kessel auf.

Wie ein kleines Mädchen schleppte sie all das heran, was sie mitnehmen wollte. Hin und wieder legte sie den Kopf in den ­Nacken und blickte ins Leere. So verharrte sie nachdenklich wie eine Maus, die, von einem Geräusch aufgeschreckt, mit nervös ­bebenden Nasenflügeln innehält, bevor sie die Suche fortsetzt.

Doña Olvido trat näher und warf einen mitleidigen Blick auf das Sammelsurium. Dann ging sie ein wenig in die Knie, bis sie sich auf gleicher Höhe wie ihr Dienstmädchen befand, und wies mit dem Kinn auf den Reißverschluss ihres Rocks, der sich in dem halb hochgeschobenen Nachthemd verklemmt hatte. Bruna tastete nach dem Reißverschluss und zog daran, bis er sich löste. Doña Olvido knackten die Knie, doch nach mehreren Versuchen war der Reißverschluss endlich zu.

»Du weißt ganz genau, dass wir all das nicht mitnehmen werden.« Sie blickte auf den Kessel und das andere Zeug. »Hast du der Milchfrau Bescheid gesagt?«, fragte sie, während sie sich mit einem leisen Stöhnen streckte. »Und was, um Himmels willen, willst du mit dem Messer?«

»Na, was wohl?«

»Also – was?«

»Ihnen unterwegs die Augen ausstechen!«

Es war nicht das erste Mal, dass sie darüber sprachen, was sie mitnehmen würden. Sie hatten es all die Jahre über getan, von dem Moment an, seit sie den Plan gefasst hatten, und sie waren nie übereingekommen, vor allem, weil Bruna nur unnütze Dinge einfielen.

»Verstehst du denn nicht?«, meinte Doña Olvido. »Wozu brauchst du einen Koffer voller Fotos? Oder Conchitas uraltes kaputtes Grammophon, zumal du niemals Musik hörst? Warum willst du einen Berg an Wurstbroten mitnehmen, die niemand essen wird? Oder willst du ein Wurstbrot essen? Ich jedenfalls nicht!«

Viele Nachmittage über hatten sie sich gezankt, wobei es vordergründig darum gegangen war, was sie mit auf die große Reise nehmen würden, doch der wahre Grund war ein anderer: Diese Zankereien weckten den alten egoistischen Argwohn in ihren Seelen, und beide nutzten die Gelegenheit, um sich für irgendein genauso eingebildetes wie dämliches Unrecht zu rächen.

»Und wenn Sie plötzlich Hunger kriegen?«, gab Bruna jetzt postwendend zurück. »Erinnern Sie sich nicht, wie furchtbar es ist, Hunger zu leiden?«

»Ich habe niemals Hunger gelitten, Bruna. Du schon. Und das ist der Unterschied. Der Unterschied zwischen dir und mir.«

»Ach was«, beschwerte sich Bruna.

»Was heißt hier ›ach was‹?«, fragte Doña Olvido.

»Einfach nur ›ach was‹. Ich habe einfach nur ›ach was‹ gesagt.«

»Was wir dagegen unbedingt mitnehmen sollten, ist …«, fuhr Doña Olvido fort, und das war der Moment, in dem Bruna – nur damit die Señora nicht erwähnte, was sie unbedingt mitnehmen mussten –, mit ihrer Litanei begann, wie schön es doch gewesen war, als sie noch in ihrem...

Erscheint lt. Verlag 1.4.2021
Übersetzer Anja Rüdiger
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Alter • Frauen • Spanien
ISBN-10 3-492-99912-3 / 3492999123
ISBN-13 978-3-492-99912-0 / 9783492999120
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