Der Sommer aller Sommer (eBook)
352 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99909-0 (ISBN)
Thomas Montasser arbeitete als Journalist und Universitätsdozent und war Leiter einer kleinen Theatertruppe. Mit den Romanen »Ein ganz besonderes Jahr« und »Monsieur Jean und sein Gespür für Glück« wurde er über Nacht international bekannt. Als Vater von drei Kindern lebt er mit seiner Familie in München, wo er mit seiner Frau eine kleine, aber feine Literaturagentur betreibt. Er liebt Swing, alte Bücher und Frühstück im Freien. Es gibt für ihn nichts Erholsameres, als ein gutes Buch zu lesen (außer natürlich: eines zu schreiben).
Thomas Montasser arbeitete als Journalist und Universitätsdozent und war Leiter einer kleinen Theatertruppe. Mit den Romanen "Ein ganz besonderes Jahr" und "Monsieur Jean und sein Gespür für Glück" wurde er über Nacht international bekannt. Als Vater von drei Kindern lebt er mit seiner Familie in München, wo er mit seiner Frau eine kleine, aber feine Literaturagentur betreibt. Er liebt Swing, alte Bücher und Frühstück im Freien. Es gibt für ihn nichts Erholsameres, als ein gutes Buch zu lesen (außer natürlich: eines zu schreiben).
Erstes Kapitel
Vielleicht wären sie sich nie begegnet.
Vielleicht hätten sie nie ein Wort gewechselt.
Doch der Himmel schien sich entschieden zu haben,
in das Rad des Schicksals zu greifen. Und so traten
zwei Menschen ins Leben des jeweils anderen,
die füreinander geschaffen waren.
Der Sommer aller Sommer
Es war nicht mehr als die Entdeckung eines alten, nun gut: eines sehr alten Kinderspielzeugs, die die Geschicke der kleinen Gemeinde Anghiari in der Nähe von Arezzo völlig auf den Kopf stellte. Ein seltsames Objekt, das seit vielen Generationen weitergereicht wurde und mit dem niemand so recht etwas anzufangen wusste, das aber wegzuwerfen sich niemand überwand. Denn obwohl ganz offensichtlich völlig nutzlos, übte es auf seine Betrachter – die Großen übrigens wie die Kleinen – einen eigenartigen Zauber aus, dem man sich nur schwer entziehen konnte.
Und hätte nicht durch puren Zufall ein dem Vernehmen nach ebenso schüchterner wie durchaus begabter Ingenieur Zuflucht vor einem Unwetter unter der Türschwelle der alten Signora Tedeschi gesucht, hätte sie ihm nicht in einem für sie selbst überraschenden Anfall von Menschenfreundlichkeit Schutz unter ihrem Dach angeboten (nun, von Signora Tedeschi wird noch zu reden sein), wäre nicht ihre schmachvoll geschiedene Tochter Vittoria wieder bei ihr eingezogen, weil sie sich keine eigene Wohnung mehr leisten konnte – alles wäre anders gekommen. Entscheidend war freilich, dass der junge Mann, Fabio Contagno, alsbald tat, was er immer tat: Er zeichnete. Dankbar und rücksichtsvoll in einer Ecke der Küche sitzend, um das Unwetter draußen abzuwarten, kritzelte er bei der ihm angebotenen Tasse Kaffee geometrische Figuren in sein Notizbuch.
Vittoria staunte nicht wenig, als sie ihm ein paar selbstgebackene Cantuccini anbot und dabei eine Form entdeckte, die sie kannte. »Interessant, dass Sie das zeichnen.«
»Den Rhombenkuboktaeder?«
»Ich hatte keine Ahnung, wie es heißt«, erwiderte Vittoria und lachte. »Und bei dem Namen wird sich das auch nicht ändern.«
Der junge Mann blickte auf seine Zeichnung und lächelte. »Eine sehr komplexe und faszinierende Form.«
»Finden Sie? Ja, komplex sieht sie aus, das stimmt. Ich fand sie vor allem immer sehr nutzlos.«
»Das Gegenteil ist der Fall, Signorina«, sagte der unerwartete Gast. »Sie ist durch ihre Struktur außergewöhnlich stabil und findet vielfache Anwendung vor allem in Stahlkonstruktionen. Genau genommen hatten wir sogar die ursprünglichen Pläne für die Stahlstreben …« Er unterbrach sich. »Entschuldigen Sie, ich möchte Sie nicht mit unseren technischen Problemen langweilen.«
Vittoria stellte den Teller mit Gebäck auf den Tisch und setzte sich neben ihn. »Dass es zu irgendetwas nützlich sein könnte, hätte ich nicht gedacht. Wir haben es immer nur als Spielzeug betrachtet.«
Fabio Contagni zögerte und entschied sich dann, zuzugreifen. Ein Fehler! Denn in seinem Heißhunger stieß er gegen die Kaffeetasse und verschüttete etwas davon. »Entschuldigung. Das ist mir ausgesprochen peinlich.«
»Ach, kein Problem … warten Sie.« Sie sprang auf und nahm eine kleine Stoffserviette zur Hand, mit der sie zuerst auf den Ärmel seines Jacketts tupfte, um dann über den Tisch zu wischen.
»Danke schön. Sehr liebenswürdig.« Etwas verlegen griff der junge Mann nochmals zum Gebäck –
diesmal natürlich, ohne ein Malheur anzustellen – und
konnte nicht umhin, es zu loben: »Mhhh, köstlich! Vielen Dank!« Um Augenblicke später zu keuchen: »Ist das scharf! Ent…schuldi…gung…!«
»Oh!« Vittoria brach ein Stückchen von einem der kleinen Gebäcke ab und probierte. »Vermutlich Cayenne-Pfeffer«, stellte sie dann fest, als sei es das Normalste auf der Welt.
»Cayenne-Pfeffer?« Fabio schüttete den Kaffee hinterher und verbrannte sich den Mund. »In … Cantuccini?«
»Scusi. Meine Mutter hat sehr eigenwillige Rezepte.«
Der Ingenieur nickte, räusperte sich, räusperte sich nochmals und heftete dann seinen Blick auf die Zeichnung. Ein kurzes befangenes Schweigen. Dann fand er die Sprache wieder: »Als Spielzeug habe ich es noch nie gesehen.«
»Ich kann es holen«, erklärte Vittoria, die sich ärgerte, dass sie so aufgelöst aussah – ein paar Strähnen ihres zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haars hatten sich selbstständig gemacht. Und auch sonst fühlte sie sich in ihrer Putzkleidung reichlich unaufgeräumt. »Vorausgesetzt, ich finde es.«
Sie fand es. Auch wenn es mehrere Cantuccini lang dauerte, was den unerwarteten Gast so wenig störte wie die grau getigerte Katze, die ihm zwischenzeitlich um die Beine strich, sich ebenfalls einige Gebäckkrümel erbettelte und ihn aus großen grünen Augen betrachtete. Es war ein unscheinbares Objekt aus Holz, eine Konstruktion aus mehreren quadratischen und einigen dreieckigen Rahmen, die zusammen etwas bildeten, was wie eine Kreuzung aus Kugel und Würfel wirkte. »Die Quadratur des Kreises«, murmelte Fabio.
»Scusi?«
»Es muss sehr alt sein. Es sieht aus, als wäre es … ich weiß auch nicht. Sehr, sehr alt.« Behutsam nahm er es in die Hand und drehte es vor seinen Augen. Kleine Metallklammern hielten die ineinander gefügten Hölzer zusammen.
»Wir haben alle damit gespielt. Als kleine Kinder, meine ich«, erklärte Vittoria, die sich über die Ehrfurcht wunderte, mit welcher ihr Gast das Objekt betrachtete.
»Und wer ist wir?«
Er hat neugierige Augen, dachte Vittoria. Als wollte er alles ganz genau durchblicken. »Nun … ich, meine Mamma, ihre Schwestern, ihr Papa und so weiter. Ich weiß nicht, wer alles. Es müssen schon einige Generationen sein …«
»Faszinierend«, murmelte Fabio und stellte das kleine Meisterwerk auf den Tisch. »Wissen Sie, wer diese Form erfunden hat?«
Vittoria zuckte die Schultern. »Wissen Sie es denn?«
Er nickte ernst und blickte ihr in die Augen. »Leonardo.«
»Da Vinci?«
»Kein Geringerer.«
»Lustig, dass Sie das sagen. Er soll einmal in diesem Haus zu Gast gewesen sein.«
***
Als das Unwetter endlich vorüber war, hatten beide –
Vittoria Tedeschi und der junge Ingenieur – Erstaunliches gelernt. Denn was für die einen ganz gewöhnlich erscheint (etwa, dass man einen unzweifelhaft ziemlich nutzlosen Gegenstand als Kinderspielzeug benutzt), erweist sich für den anderen als ungeheuerlich. Und was für den anderen eine eher banale naturwissenschaftliche Betrachtung ist (etwa, dass es für die Stabilität der Konstruktion keineswegs in erster Linie auf die Dicke der benutzten Streben ankommt, sondern vielmehr auf die Winkel, in denen sie zueinander stehen), wirkt für die einen kaum vorstellbar.
Als der Ingenieur der Regenfront durch die schmale Gasse vor dem Haus hinterherblickte, entdeckte er noch einen Regenbogen, der sich wie ein zauberhaftes Omen über Anghiari wölbte. Auch Vittoria, die vergeblich die Serviette suchte, mit der sie den Kaffee vom Tisch gewischt hatte, erblickte dieses Wetterphänomen und dachte zu ihrer eigenen Überraschung an den Prismaeffekt, als sie aus dem Fenster ihrer Dachkammer schaute. Sie konnte die Schritte des jungen Mannes auf dem alten Kopfsteinpflaster hören, sehen konnte sie ihn von hier aus nicht. Aber sie hatte das Gefühl, als wäre an diesem gewöhnlichen Dienstagnachmittag etwas ganz Außergewöhnliches geschehen, etwas, das ihr Leben womöglich verändern würde! Wie sehr sie mit diesem Gefühl recht hatte, hätte sie allerdings nie für möglich gehalten. Denn es änderte sich nicht nur ihr Leben – und dies auf mannigfache Weise –, sondern auch das Leben des ganzen Dorfes. Doch dazu später.
Fabio Contagno lenkte seine Schritte nicht, wie beabsichtigt, an den Ort, den er eigentlich hätte aufsuchen wollen, sondern nach der Gemeindebibliothek hin, wo ihn eine Frau mittleren Alters wortkarg und mit skeptischem Blick empfing.
»’Giorno.«
»Buon giorno, Signora«, erwiderte Fabio. »Ich bin froh, dass Sie geöffnet haben.«
Die Bibliothekarin blickte ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an, fühlte sich aber nicht bemüßigt, darauf zu reagieren.
»Sicher haben Sie allerlei Literatur über Leonardo.«
»Leonardo? Welchen?«
»Den Leonardo, Signora.«
Sie nickte, offenbar zufrieden, dass er nicht einen amerikanischen Schauspieler meinte oder einen Spieler des AS Rom. Also gewährte sie ihm eine vollumfängliche Auskunft: »Si.«
»Etwas zum technischen Werk vielleicht?«, versuchte es Fabio, der sich gleichzeitig überlegte, ob er nicht besser den Weg nach Florenz auf sich nehmen und in den dortigen, reich bestückten Archiven nach Informationen über den Rhombenkuboktaeder suchen sollte.
»Es gibt ein paar Bücher«, stellte die Bibliothekarin klar und deutete mit ihrer Linken in einen düsteren Winkel des Lesesaals (wobei der Saal insgesamt kaum größer war als eine mittlere Speisekammer), ohne sich die Mühe zu machen, dem Besucher die besagten Werke genau zu zeigen.
»Grazie«, sagte Fabio und wandte sich dem Regal zu. Er war der einzige Besucher, den die kleine Gemeindebücherei an diesem Nachmittag hatte, und vielleicht – so zumindest ging es ihm durch den Kopf, während er die Buchrücken studierte – der einzige seit längerer Zeit. Lag es nicht nahe, dass Menschen, die täglich Stunden damit zubrachten, auf Besucher zu warten, etwas sonderbar wurden? Dass die Umgangsformen einrosteten und die Eloquenz nachließ?
Leonardos Zeichnungen. Er nahm den Band heraus, der schon einige Jahrzehnte alt und ziemlich abgegriffen war und von allein etwas jenseits der Mitte aufklappte. Fabio wusste nicht, ob er amüsiert oder empört sein sollte: Es war eine Doppelseite mit anatomischen...
Erscheint lt. Verlag | 23.2.2021 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Italien • Leonardo • Liebe • Museumsshop |
ISBN-10 | 3-492-99909-3 / 3492999093 |
ISBN-13 | 978-3-492-99909-0 / 9783492999090 |
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