Count Zero (eBook)
352 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-12112-4 (ISBN)
William Gibson, geboren 1948 in South Carolina, wanderte mit 19 Jahren nach Kanada aus, um der Einziehung zum Vietnamkrieg zu entgehen. 1972 ließ er sich in Vancouver nieder, wo er noch heute mit seiner Familie lebt. Bekannt wurde er mit seinem 1984 erschienenen und vielfach preisgekrönten Roman Neuromancer, in dem er erstmals den Begriff »Cyberspace« prägte. 2019 wurde ihm der Damon Knight Memorial Grand Master Award für sein Lebenswerk verliehen.
William Gibson, geboren 1948 in South Carolina, wanderte mit 19 Jahren nach Kanada aus, um der Einziehung zum Vietnamkrieg zu entgehen. 1972 ließ er sich in Vancouver nieder, wo er noch heute mit seiner Familie lebt. Bekannt wurde er mit seinem 1984 erschienenen und vielfach preisgekrönten Roman Neuromancer, in dem er erstmals den Begriff »Cyberspace« prägte. 2019 wurde ihm der Damon Knight Memorial Grand Master Award für sein Lebenswerk verliehen.
1 Startschuss
In Neu-Delhi setzten sie auf Turner einen Killerhund an, der auf seine Pheromone und seine Haarfarbe programmiert war. Der Hund fand ihn in einer Straße, die Chandni Chauk hieß, und kam durch einen Wald nackter brauner Beine und Rikscharäder auf seinen gemieteten BMW zugeschossen. Sein Kern bestand aus einem Kilo rekristallisiertem Hexogen und TNT in Flockenform.
Turner sah ihn nicht kommen. Das Letzte, was er von Indien sah, war die rosa Stuckfassade des Khush-Oil-Hotels.
Da er einen guten Agenten hatte, hatte er einen guten Vertrag. Da er einen guten Vertrag hatte, war er eine Stunde nach der Explosion in Singapur. Zum größten Teil zumindest. Der holländische Chirurg witzelte, ein gewisser Prozentsatz von Turner sei beim ersten Flug vom Palam International nicht mehr mitgekommen und habe die Nacht dort in einem Schuppen in Nährlösung verbringen müssen.
Der Holländer und sein Team brauchten drei Monate, um Turner wieder zusammenzustoppeln. Sie klonten ihm einen Quadratmeter Haut, die sie mithilfe von Collagenplättchen und Haiknorpel-Polisacchariden heranzüchteten. Augen und Genitalien kauften sie auf dem freien Markt. Die Augen waren grün.
Einen Großteil der drei Monate verbrachte er in der ROM-generierten Simstim-Konstruktion einer Bilderbuchkindheit im Neuengland des vorigen Jahrhunderts. Die Visiten des Holländers waren graue Morgenträume, Albträume, die verblassten, wenn der Himmel über seinem Zimmer im zweiten Stock hell wurde. Nachts konnte man den Flieder riechen. Turner las im Schein einer 60-Watt-Birne unter einem mit Klipperschiffen bedruckten Pergamentschirm Conan Doyle. Er masturbierte in die frisch duftende Bettwäsche und dachte dabei an Cheerleader. Der Holländer öffnete eine Tür in sein Hinterhirn und spazierte hinein, um Fragen zu stellen, aber am Morgen rief ihn seine Mutter zu Cornflakes, Rühreiern mit Schinken und Kaffee mit Milch und Zucker herunter.
Und eines Morgens erwachte er in einem fremden Bett. Der Holländer stand an einem Fenster mit tropischem Grün davor; das hereinfallende Sonnenlicht tat seinen Augen weh. »Sie können nach Hause, Turner. Wir sind fertig mit Ihnen. Sie sind so gut wie neu.«
Er war so gut wie neu. Wie gut war das? Er hatte keine Ahnung. Er nahm die Sachen, die der Holländer ihm gab, und floh per Flugzeug aus Singapur. Sein Zuhause war das nächste Flughafen-Hyatt.
Und das nächste. Und so fort.
Er flog weiter. Sein Kreditchip war ein spiegelndes schwarzes Rechteck mit Goldrand. Die Leute hinter den Schaltern lächelten und nickten, wenn sie den Kreditchip sahen. Türen öffneten sich für Turner und schlossen sich wieder hinter ihm. Räder hoben vom Stahlbeton ab, Drinks wurden gebracht, das Abendessen wurde serviert.
In Heathrow löste sich ein großer Brocken Erinnerung aus der leeren Himmelskuppel über dem Flughafen und stürzte auf ihn herab.
Er kotzte im Gehen in einen blauen Plastikbehälter. Als er den Schalter am Ende des Korridors erreichte, änderte er sein Ticket um.
Er flog nach Mexiko.
Und erwachte vom Scheppern von Blechkübeln auf Fliesen, dem feuchten Wischen von Schrubbern und der Wärme eines weiblichen Körpers an seiner Haut.
Der Raum war eine hohe Höhle. Kahler, weißer Putz warf jeden Laut überdeutlich zurück; durch das Geklapper der Hausmädchen im morgendlichen Innenhof drang von irgendwoher das Rauschen von Brandung. Die Bettwäsche, an der er sich festklammerte, war aus grobem, vom häufigen Waschen weichem Batist.
Turner erinnerte sich ans Sonnenlicht in einer riesigen, getönten Scheibe. Eine Flughafenbar, Puerta Vallarta. Er hatte vom Flugzeug aus zwanzig Meter gehen müssen und dabei die Augen vor der Sonne zusammengekniffen. Er erinnerte sich an eine tote Fledermaus, die platt gedrückt wie ein dürres Blatt auf dem Rollfeldbeton gelegen hatte.
Er erinnerte sich an eine Busfahrt, eine Bergstrecke, den Auspuffgestank, die postkartengroßen Heiligenhologramme in Blau und Pink um die Windschutzscheibe herum. Sein Interesse hatte nicht der bergigen Landschaft gegolten, sondern einer Kugel aus pinkfarbenem Acrylharz, in der Quecksilber schwabbelte. Sie krönte den krummen Schaltknüppel, war etwas größer als ein Baseball und umschloss eine zusammengekauerte, aus klarem Glas geblasene Spinne, die halb mit Quecksilber gefüllt war. Das Quecksilber hopste und kullerte, wenn der Fahrer den Bus durch Serpentinen jagte, und schwappte und zitterte auf den geraden Strecken. Der Knauf war lächerlich, handgemacht, unheilvoll; er hatte den Zweck, Turner wieder in Mexiko willkommen zu hießen.
Unter dem runden Dutzend Mikrosofts, die der Holländer ihm gegeben hatte, war eins, mit dessen Hilfe er halbwegs fließend Spanisch sprechen konnte, aber in Vallarta hatte er hinterm linken Ohr herumgefummelt und stattdessen einen Staubschutz eingesetzt, der Buchse und Stecker unter einem rechteckigen, hautfarbenen Mikropor-Pflaster verbarg. Ein Fahrgast ziemlich weit hinten im Bus hatte ein Radio. Der Sprecher unterbrach die blecherne Popmusik in regelmäßigen Abständen mit einer Litanei zehnstelliger Ziffern, den Gewinnzahlen des Tages in der Staatslotterie.
Die Frau neben ihm bewegte sich im Schlaf.
Er stützte sich auf den Ellbogen und sah sie an. Ein fremdes Gesicht, das jedoch keineswegs den Erwartungen entsprach, die aus seinem Leben in Hotels resultierten. Er hätte die übliche Schönheit erwartet, ein Produkt aus billiger Wahlchirurgie und dem gnadenlosen Darwinismus der Moden, einen archetypischen Extrakt aus den wichtigsten Mediengesichtern der letzten fünf Jahre.
Ein Zug Mittelwesten im Kinn, archaisch und amerikanisch. Die blaue Bettdecke war über die Hüften hochgerutscht; die Sonne, die durch die Holzjalousien hereinfiel, zauberte ein goldenes Streifenmuster auf ihre langen Oberschenkel. Die Gesichter, neben denen er in den Hotels der Welt erwachte, sahen aus wie Gottes ureigenste Kühlerhaubenbemalungen. Schlafende Frauengesichter, identisch und einsam, nackt, ins Nichts gerichtet. Dieses Gesicht jedoch war anders. Irgendwie hatte es bereits eine Bedeutung. Eine Bedeutung und einen Namen.
Er setzte sich auf und schwang die Beine aus dem Bett. Die Fußsohlen registrierten körnigen Strandsand auf den kühlen Fliesen. Es roch schwach nach den allgegenwärtigen Insektiziden. Nackt und mit schmerzendem Schädel stand er auf. Er setzte seine Beine in Gang. Ging durchs Zimmer, probierte die erste der zwei Türen, sah weiße Kacheln und noch mehr weißen Putz, einen klobigen, verchromten Duschkopf an einem rostfleckigen Eisenrohr. Aus den beiden Hähnen am Waschbecken kam das gleiche blutwarme Rinnsal. Eine Uralt-Armbanduhr lag neben einem Plastikbecher, eine mechanische Rolex mit hellem Lederband. Die Fensterläden im Bad waren geschlossen, und die Fenster hatten keine Scheiben, sondern ein feines grünes Plastikgitter. Turner lugte durch die Hartholzstäbe hinaus, zuckte angesichts der heißen, grellen Sonne zusammen und sah einen ausgetrockneten Brunnen mit geblümten Kacheln und das rostige Wrack eines VW Golf.
Allison. So hieß sie.
Sie trug ausgefranste Kakishorts und eins seiner weißen T-Shirts. Ihre Beine waren sehr braun. Die mechanische Rolex mit dem matten rostfreien Stahlgehäuse und dem Schweinslederband saß an ihrem linken Handgelenk. Sie gingen am Strand spazieren, folgten dem Verlauf der Bucht Richtung Barra de Navidad. Sie blieben auf dem schmalen Streifen oberhalb der Wasserlinie, wo der Sand nass und fest war.
Schon hatten sie eine gemeinsame Geschichte; er erinnerte sich, wie sie an jenem Morgen an einem Stand unter dem Eisendach des Mercado der kleinen Stadt einen großen Tonbecher Filterkaffee in beiden Händen gehalten hatte. Mit seiner Tortilla Eier und Salsa von dem gesprungenen weißen Teller auftunkend, hatte er den Fliegen bei ihrem Tanz um die dünnen Sonnenstrahlen zugeschaut, die durch ein Patchwork aus Palmblättern und Wellblechwänden hereinfielen. Sie hatte von ihrem Job in einer Anwaltskanzlei in Los Angeles und ihrem Single-Leben in einer der klapprigen Pontonstädte vor Redondo erzählt. Er hatte ihr erklärt, dass er im Personalsektor arbeitete. Bisher jedenfalls. »Vielleicht seh ich mich mal nach ’nem neuen Job um …«
Aber das Reden schien bei dem, was zwischen ihnen war, keine so große Rolle zu spielen, und jetzt stand ein Fregattvogel über ihnen, kreuzte gegen den Wind, glitt zur Seite, drehte ab und war weg. Seine Freiheit, sein unbekümmertes Dahingleiten ließen sie beide erschauern. Sie drückte Turners Hand.
Eine blaue Gestalt kam am Strand auf sie zugestapft, ein Militärpolizist auf dem Weg in die Stadt. Die blitzblank polierten schwarzen Stiefel wirkten irreal auf dem weichen, hellen Strand. Als der Mann vorbeiging – das Gesicht hinter der verspiegelten Brille dunkel und starr –, bemerkte Turner den Steiner-Optic-Laser im Karabinerformat mit Fabrique-Nationale-Visier. Die blaue Uniform war makellos sauber und hatte messerscharfe Bügelfalten.
Turner war selber die meiste Zeit seines Ewachsenenlebens Soldat gewesen, obwohl er nie eine Uniform getragen hatte. Ein Söldner im Dienst großer Konzerne, die insgeheim um die Kontrolle ganzer Wirtschaftssysteme kämpften. Er war Spezialist im Abwerben von Spitzenleuten aus Management und Forschung. Die Multis, für die er arbeitete, würden nie zugeben, dass es Leute wie ihn gab.
»Hast dich gestern Abend fast durch ’ne ganze Flasche Herradura gekämpft«, sagte sie.
Er nickte. Ihre Hand lag warm und trocken in seiner. Er beobachtete, wie sich ihre Zehen beim...
Erscheint lt. Verlag | 13.2.2021 |
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Reihe/Serie | Die Neuromancer-Trilogie | Die Neuromancer-Trilogie |
Übersetzer | Reinhard Heinz, Peter Robert |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Alpha Centauri • Armitage • Band 2 • Blade runner • Bobby Newmark • Chiba • Chloë Grace Moretz • Computer • Cyberpunk • Cyberpunk 2077 • Cyberspace • Cyborgs • Dystopie • Hacker • Johnny Mnemonic • Jonathan Nolan • Keanu Reeves • KI • Konsolencowboy • Kult • Künstliche Intelligenz • Lady 3Jane • Marly Krushkhova • Matrix • Molly Millions • Neo • Ninja • Peripherie • Punk • Shuriken • SimStim • Sprawl • The Peripheral • Trilogie • Turing • Turner • Virtual Reality • Virtuelle Realität • westworld • Wetware • Wintermute • Zukunft |
ISBN-10 | 3-608-12112-9 / 3608121129 |
ISBN-13 | 978-3-608-12112-4 / 9783608121124 |
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Größe: 2,3 MB
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