Wanderungen mit Robert Walser (eBook)
250 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-76762-7 (ISBN)
Carl Seeligs Wanderungen mit Robert Walser prägen das Weiterleben von Robert Walsers Werk bis heute. Sie zeigen den von 1933 bis 1956 in Herisau internierten, für die Welt ?verstummten? Dichter als einen bei aller Zurückhaltung höchst selbstbewussten Autor und hellwachen Zeitgenossen. Auf langen Spaziergängen und an gut gedeckten Tischen entfalten die Wanderungen eine Freiheit der Bewegung, der Gedanken und der Sprache, wie sie Walsers Werk von Anfang an bestimmt.
Die vorliegende Neuausgabe bringt den Text in seiner ursprünglichen Gestalt von 1957. Sie zeigt, dass Seelig weit mehr ist als Walsers ?Vormund? - nämlich ein international vernetzter Herausgeber und Publizist, der zur Zeit des Nationalsozialismus auch Emigranten wie Alfred Polgar oder Robert Musil unterstützt.
Carl Seelig (1894-1962) war ein Zürcher Kulturjournalist, Schriftsteller und unermüdlicher Unterstützer von Autorinnen und Autoren, insbesondere zur Zeit des Exils ab 1933. In seinem Nachlass befinden sich über 9000 Briefe von Persönlichkeiten aus Kunst, Kultur und Wissenschaft. Als Freund und Vormund von Robert Walser begleitete er den Schriftsteller nach dessen Internierung in die Psychiatrie auf zahlreichen Spaziergängen (Wanderungen mit Robert Walser) und gab sein Werk neu heraus.
Unsere Wanderungen
Wie übel ist uns unter den großen Maschinenrädern der jetzigen Welt zumute, wenn wir nicht unserem persönlichen Dasein eine eigentümliche, edle Weihe geben!
Jacob Burckhardt
26. Juli 1936
Unsere Beziehungen leiteten einige nüchterne Briefe ein; kurze, sachliche Fragen und Antworten. Ich wußte, daß Robert Walser anfangs 1929 als Geisteskranker in die bernische Heilanstalt Waldau eingeliefert worden war und seit Juni 1933 als Patient der kantonalen Heil- und Pflegeanstalt von Appenzell-Außerrhoden in Herisau lebte. Ich empfand das Bedürfnis, für die Publikation seiner Werke und für ihn selbst etwas zu tun. Unter allen zeitgenössischen Schriftstellern der Schweiz schien er mir die eigenartigste Persönlichkeit zu sein. Er erklärte sich einverstanden, daß ich ihn besuche. So fuhr ich an diesem Sonntag frühmorgens von Zürich nach St. Gallen, schlenderte durch die Stadt und hörte mir in der Stiftskirche die Predigt über Die Verschwendung des Talentes an. In Herisau läuteten die Kirchenglocken, als ich ankam. Ich ließ mich beim Chefarzt der Anstalt, Dr. Otto Hinrichsen, anmelden und erhielt von ihm die Erlaubnis, mit Robert spazieren zu gehen.
Nun kam der achtundfünfzigjährige Dichter in Begleitung eines Wärters aus einem Nebenhaus. Ich war frappiert über seine äußere Erscheinung. Ein rundes, wie durch einen Blitzschlag gespaltenes Kindergesicht mit rot angehauchten Backen, blauen Augen und einem kurzen, goldenen Schnurrbart. Die Schläfenhaare schon angegraut. Der ausgefranste Kragen und die Krawatte etwas schief sitzend; die Zähne nicht in bestem Zustand. Als Dr. Hinrichsen Robert den obersten Westenknopf zutun wollte, wehrte er ab: »Nein, er muß offen bleiben!« Er sprach in melodischem Bärndütsch, so, wie er es in Biel schon während der Jugendzeit gesprochen hat. Nach ziemlich abruptem Abschied vom Arzt schlugen wir den Weg zum Bahnhof Herisau und weiter nach St. Gallen ein. Es war ein sommerlich-heißer Tag. Unterwegs begegneten uns viele Kirchengänger, die freundlich grüßten. Roberts ältere Schwester Lisa hatte mich darauf aufmerksam gemacht, daß ihr Bruder ungewöhnlich mißtrauisch sei. Was sollte ich tun? Ich schwieg. Er schwieg. Das Schweigen war der schmale Steg, über den wir uns entgegenkamen. Mit glühenden Köpfen wanderten wir durch die Landschaft, eine hügelige, undämonische Wald- und Wiesenlandschaft. Manchmal blieb Robert stehen, um sich eine »Maryland«-Zigarette anzuzünden und schnuppernd unter die Nase zu halten.
Mittagessen im Löchlibad. Erstes Auftauen bei blutrotem Bernecker Wein und Bier. Robert erzählt, daß er in Zürich vor der Jahrhundertwende bei der Schweizerischen Kreditanstalt und bei der Kantonalbank gearbeitet habe. Jedoch nur monateweise, um sich wieder zum Dichten freizumachen. Zwei Herren könne man nicht gleichzeitig dienen. Damals sei sein erstes Buch entstanden, Fritz Kochers Aufsätze, das der Inselverlag 1904 mit elf Zeichnungen seines Bruders Karl herausgebracht habe. Ein Honorar habe er für diese Arbeit nie gesehen, und als sie im Buchhandel liegen blieb, sei sie ziemlich rasch verramscht worden. Seine Abseitigkeit vom literarischen Cliquenbetrieb habe ihm finanziell überhaupt schwer geschadet. Aber der Göttischmus, wie er vielerorts gäng und gäbe sei, ekle ihn einfach an. Dadurch werde der Schriftsteller zum Schuhputzer degradiert. Ja, er fühle es, seine Zeit sei vorbei. Aber das lasse ihn kühl. Wenn man gegen die Sechzig gehe, müsse man sich auf ein anderes Dasein besinnen können. Er habe seine Bücher nicht anders geschrieben als wie ein Bauer, der säe und mähe, pfropfe, Vieh futtre und miste. Aus Pflichtgefühl und um etwas zum Fressen zu haben. »Sie war mir eine Arbeit wie eine andere auch.«
Die produktivste Zeit seines Schriftstellerlebens seien die sieben Jahre in Berlin und die folgenden sieben Jahre in Biel gewesen. Da habe ihn niemand gedrängt und niemand kontrolliert. Alles habe so ruhig wachsen können wie die Äpfel auf dem Apfelbaum. In der menschlichen Haltung sei die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg für die meisten Schriftsteller eine beschämende Zeit gewesen. Ihre Literatur habe einen giftscheißerischen, gehässigen Charakter angenommen. Die Literatur müsse aber Liebe ausstrahlen, gemütlich sein. Der Haß dürfe nicht zur treibenden Kraft werden. Haß sei ein unproduktives Element. Damals, inmitten dieser grämlichen Orgien, habe sein künstlerischer Abstieg begonnen … Man habe die Literaturpreise an falsche Heilande oder an irgendeinen Schulmeister verteilt. Nun gut, dagegen habe er nichts machen können. Aber bücken werde er sich deswegen bis zu seinem Tod vor niemandem. Das Cliquen- und Vetterliwesen erledige sich übrigens immer von selbst.
Zwischen diesen Gesprächen bewundernde Bemerkungen über Dostojewskijs Idiot, Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts und Gottfried Kellers männlichkühne Lyrik. Rilke hingegen gehöre auf den Nachttisch der alten Jungfern. Von Jeremias Gotthelf stehen ihm die beiden Uli-Bände am nächsten; manches andere sei für seinen Geschmack zu derbpolternd und moralisierend.
4. Januar 1937
Wanderung über St. Gallen und Speicher nach Trogen, das mir von meiner Kantonsschulzeit her vertraut ist. Mittagessen im Gasthof Schäfli. Zu Ehren meiner mütterlichen Vorfahren, die am rheintalischen Buchberg jahrhundertelang Reben besaßen, bestelle ich eine Flasche vom schweren Buchberger. Als unerwünschte Zugabe Radiogeschmetter; eine schwäbische Komödie. – Nachmittags bei melancholischer Schneestimmung auf den Gäbris, wo ich als Kadettenleutnant mit dem vom Dorfarzt geliehenen, mächtigen Säbel eine lächerliche Figur war. Zeitweise scharfer Ostwind. Robert ohne Überzieher. Auf der Rückfahrt im Zug: sein Gesicht ist jetzt geistig erhellt wie eine angezündete Fackel. Tiefe, schmerzliche Züge von der Nasenwurzel bis zum auffallend roten, fleischigen Mund. Der Bahnhofperron von St. Gallen funkelt von kleinen Kieselsteinen. Robert hat Tränen in den Augen. Heftiger, hastiger Händedruck.
Ausschnitte aus unseren Gesprächen:
Sein Aufenthalt in Zürich dauerte mit Unterbrüchen vom Herbst 1896 bis zum Frühjahr 1903; bald habe er auf dem Zürichberg, bald an der Spiegelgasse und an der Schipfe eine Bude gehabt, bald auch in Außersihl. – Sieben Jahre (von 1906 bis 1913) habe auch sein Aufenthalt in Berlin und weitere sieben Jahre sein zweiter Aufenthalt in Biel gedauert. Schon oft sei ihm aufgefallen, wie in seinem Leben die Zahl 7 periodisch wiederkehre.
In Berlin-Charlottenburg habe er zuerst gemeinsam mit seinem Bruder Karl eine Zweizimmerwohnung gehabt, dann allein. Schließlich weigerte sich der Verleger Bruno Cassirer, ihm finanziell weiterzuhelfen. An seiner Stelle habe während zwei Jahren eine edelherzige, reiche Dame für ihn gesorgt. Nach deren Tod sei er 1913 aus Not in die Heimat zurückgekehrt. Noch lange habe er an die stille Schönheit der märkischen Wälder denken müssen.
In Bern, wo er von 1921 an etwa acht Jahre lang lebte, sei das Althergebrachte für seine dichterische Produktion förderlich gewesen. Negativ habe sich hingegen die Verlockung zum Trunk und zur Behaglichkeit ausgewirkt. »In Bern war ich manchmal wie besessen. Ich jagte wie der Jäger hinter dem Wild den poetischen Motiven nach. Am fruchtbarsten erwiesen sich Promenaden durch Straßen und lange Spaziergänge in die Umgebung der Stadt, deren gedanklichen Ertrag ich dann zuhause aufs Papier brachte. Jede gute Arbeit, auch die kleinste, bedarf der künstlerischen Inspiration. Für mich steht fest, daß das Geschäft der Dichter nur in der Freiheit blühen kann. Meine günstigsten Arbeitszeiten waren der Vormittag und die Nachtstunden. Die Zeit vom Mittag bis zum Abend wirkte auf mich verdummend. Mein bester Kunde war damals die vom tschechischen Staat finanzierte ...
Erscheint lt. Verlag | 15.2.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 1930er • 1940er • 1950er • Appenzell Ausserrhoden • Ausflugsberichte • Berichte • Bibliothek Suhrkamp 1521 • BS 1521 • BS1521 • Dichterporträt • Dichtersprachrohr • doppelte Autorschaft • Erinnerungen • Fotografien • Freundschaft • Herisau • literarisches Zeitzeugnis • Literaturenthusiast • Memoiren • Nachwort • Neuausgabe • neu kommentiert • Nothelfer • Notizbücher • Register • Schweiz • Spaziergang • Spaziergänge • sprachrohr • Vita • Vormund • Zweistimmigkeit |
ISBN-10 | 3-518-76762-3 / 3518767623 |
ISBN-13 | 978-3-518-76762-7 / 9783518767627 |
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