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Im Strom der Steine (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
656 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2678-5 (ISBN)
Systemvoraussetzungen
18,99 inkl. MwSt
(CHF 18,55)
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Eine der spannendsten Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur. Wladimir Medwedew erzählt die packende Geschichte eines Geschwisterpaares im zentralasiatischen Tadschikistan Anfang der 1990er Jahre. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetmacht gerät das Land in den Strudel von Bürgerkrieg und regionalen Machtkämpfen. Der Vater von Sarina und Andrej, ein tadschikischer Arzt, wird ermordet. Auch seine russische Frau und seine Kinder werden bedroht und daraufhin von Onkel und Großvater in ihr Heimatdorf im Pamir geholt. Doch der Vater hatte dort noch eine zweite Frau, eine Tadschikin. Und die Auseinandersetzungen zwischen den Familien könnten nicht größer sein. Ein atemberaubender, vielschichtiger Gesellschafts- und Familienroman - mit dem sich Wladimir Medwedew an die Spitze der russischen Gegenwartsliteratur geschrieben hat. 'Einer der wenigen Romane, bei dem alles das richtige Maß hat: die opulente Story, die farbenreiche Struktur, die originellen Charaktere, die gute Sprache, eine kluge Mischung von jüngster Vergangenheit und Fiktion!' Gorki.media



Wladimir Medwedew wurde in Transbaikalien geboren und verbrachte den größten Teil seines Lebens in Tadschikistan, wo er als Monteur, Helfer einer Geologentruppe, Dorflehrer, Fotojournalist, Patentfachmann in einem Konstruktionsbüro, Sporttrainer und Redakteur in Literaturzeitschriften tätig war. Heute lebt er in Moskau. 'Im Strom der Steine' ist sein erster Roman, der vielfach ausgezeichnet wurde und mit dem Medwedew zweifellos zu den spannendsten Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur zu zählen ist. Helmut Ettinger ist Dolmetscher und Übersetzer für Russisch, Englisch und Chinesisch. Er übersetzte Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, Gusel Jachina, Sinaida Hippius, Polina Daschkowa, Mary L. Longworth, Michail Gorbatschow, Henry Kissinger und viele andere ins Deutsche.

Wladimir Medwedew wurde in Transbaikalien geboren und verbrachte den größten Teil seines Lebens in Tadschikistan, wo er als Monteur, Helfer einer Geologentruppe, Dorflehrer, Fotojournalist, Patentfachmann in einem Konstruktionsbüro, Sporttrainer und Redakteur in Literaturzeitschriften tätig war. Heute lebt er in Moskau. „Im Strom der Steine“ ist sein erster Roman, der vielfach ausgezeichnet wurde und mit dem Medwedew zweifellos zu den spannendsten Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur zu zählen ist. Helmut Ettinger ist Dolmetscher und Übersetzer für Russisch, Englisch und Chinesisch. Er übersetzte Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, Gusel Jachina, Sinaida Hippius, Polina Daschkowa, Mary L. Longworth, Michail Gorbatschow, Henry Kissinger und viele andere ins Deutsche.

Andrej


Tief stieß ich den Spaten in die Erde und hob einen großen Klumpen aus.

Ach du meine Fresse! Ein Schädel.

Von einem Menschen.

Ich ging in die Hocke und schaute mir das Ding an. Noch nie hatte ich eine Leiche gesehen. Aber das hier war keine Leiche. Nur Knochen. Ein Kürbis mit schiefen Zähnen und Löchern für die Augen … Und doch überkam mich Mitleid. Der ist bestimmt bei einem krummen Ding in die Klemme geraten, dachte ich bei mir. Haben ihn umgelegt, den Kopf abgeschnitten, auf diesem Hof verbuddelt.

»Was hockst du da?«, hörte ich von oben.

Ich hob den Kopf. Am Grubenrand sah ich Flipflops von Nike und ein paar nackte Zehen. Darüber eine gestreifte Pyjamahose und ein Kugelbauch. Noch weiter oben am Morgenhimmel eine feiste Visage: Chakberdyjew, der hier das Sagen hatte. Garantiert steckte er hinter der Sache. Schließlich war das sein Hof.

Dreckskerle wie ihn hasste ich. Er war nicht mein Chef, ich schuftete nur für ihn. Beim Hausbau. Doch er glotzte mich an, als sei ich sein Eigentum.

»Warum arbeitest du nicht?«

»Hab einen Schädel gefunden«, knurrte ich. »Was ist denn das hier – ein Friedhof?«

Er warf mir einen prüfenden Blick zu. Dann tönte er wichtig: »Wie heißt es doch? Unter dem Abdruck jedes Pferdehufs sind zweihundert Augen begraben.«

Na, so ein Schlauberger! Das Sprichwort kannte in Tadschikistan nun wirklich jeder. So viele Generationen sind vor uns über diese Erde gezogen, meinte er wohl, dass man überall hundert Mann finden kann, wenn man nur ein bisschen gräbt. Ein tolles Alibi!

Doch er fragte mit drohendem Unterton: »Verstanden?« Und zeigte mit dem Finger. »Her mit dem Ding!«

Befehlen ließ ich mir von dem schon gar nicht. Ich war doch nicht sein Köter, der mit einem Knochen in der Schnauze zu ihm aus der Grube springt. Ich stand auf und warf ihm den Schädel wie beim Basketball zu. Erstaunlich geschickt fing er ihn auf. Dann mit einem schiefen Blick: »Schachte gefälligst weiter …«

Beim Weggehen drehte er sich noch einmal um.

»Arbeite ordentlich. Schließlich bist du Murodows Sohn. Wirst deinem Vater doch keine Schande machen wollen.«

Und schlurfte in seinen Flipflops davon.

Ich schaute ihm nach, wie er über sein Anwesen tappte, den Schädel an die Hüfte gedrückt wie einen Ball. Du elender Basmatsche1, dachte ich bei mir. Zum Teufel mit dir! Ich spuckte aus, kletterte aus der Grube und ging in die Ecke des Hofs, wo Rawil und Karl die Verschalung für das Fundament zimmerten. Ich drückte den Bauch heraus und schlurfte in meinen Turnschuhen wie der Hausherr mit den Plastiklatschen auf sie zu.

»He, warum geht das hier so langsam?«, knurrte ich. »Wenn ihr weiter so müde hämmert, gibt’s eins auf die Rübe!«

Rawil schlug noch einmal auf einen Nagel, hob den roten Schopf und fragte: »Was hast du dem da eben zugeworfen?«

»Die Birne von deinem Vorgänger, dem, der das alte Haus gebaut hat.«

Ich berichtete ihnen von dem Schädel. Karl fragte interessiert: »Wie sieht er aus? Sind noch Fleisch und Haare dran?«

»Ganz glatt.«

Karl kannte sich mit allem aus.

»Dann hat er mindestens zwanzig Jahre lang in der Erde gelegen. Nicht weniger.«

Rawil warf ein: »Warum nicht gleich tausend?«

»Kann durchaus sein. Der Boden hier ist sehr trocken.«

Rawil zwinkerte mir zu.

»Wie wäre es mit einer Million? Andrej, du hast einen Urmenschen ausgegraben. Oder gar das Grab vom alten Adam gefunden.«

Karl tippte sich an die Schläfe.

»Du denkst wohl, weil Watan eine Kreisstadt ist, muss das Paradies hier gewesen sein?«

Rawil schnalzte mit der Zunge.

»Ach, Bruder, was hast du nur im Kopf? Scheinst überhaupt nicht zu checken, wo du lebst. Hier bei uns hat es alles gegeben. Das Paradies. Alexander von Mazedonien. Und den Genossen Saidakram Mirsoresojew vom Ministerrat, den hat’s auch gegeben. Du lebst im Mittelpunkt der Welt.«

Meinte der dieses elende Nest Watan? Eine Kreisstadt würde ich es nicht nennen. Nicht einmal zum Spaß. Bloß weg von hier, so schnell ich konnte. Nur wusste ich nicht, wohin. Nach Russland? Dafür reichte das Geld nicht. Und in Tadschikistan hatten wir schon das zweite Jahr Bürgerkrieg. Ringsum nichts als Geschäftemacher und Banditen.

»Hör mal«, fragte ich Rawil. »Was denkst du, warum hat er den Schädel fortgeschleppt?«

»Wer?«

»Na, der … Basmatsche …, Chakberdyjew.«

»Frag mich was Leichteres. Vielleicht will er ihn begraben. Das machen die hier gern. Dafür erlässt Allah ihnen Sünden.«

»Nee, hier geht es um mehr. Ich wette, der will einen Beweis vernichten. Ein Bandit ist er.«

»Ach was! Höchstens ein Schieber.«

»Für mich sind alle Schieber Banditen.«

Rawil schmunzelte.

»Was dir so einfällt, Andrej. Am besten, du suchst gleich noch die restlichen Knochen zusammen.«

»Du hast mir gar nichts zu sagen«, gab ich zurück.

Der kam sich auch schon vor wie ein großer Chef.

Wieder in der Grube, ging mir durch den Kopf: Der Schädel mag ja uralt sein, aber der Basmatsche ist trotzdem ein Ganove. Weshalb hatte er so hässlich gegrinst, als er von meinem Vater redete? Der wollte mir auch etwas sagen. Als ich gestern die Internationale entlangging, kam er mir entgegen. In weißem Hemd und akkurat gebügelter schwarzer Hose wie immer. Frisch rasiert. Die Schuhe so blank, als hätte er eben noch im Operationssaal gestanden. Und warf mir nebenbei hin: »Andrej, Söhnchen, lass diese Arbeit sein.«

»Warum? Ist doch ’ne gute Arbeit. An der frischen Luft. Fast wie Sport. Und Geld krieg ich auch noch dafür.«

»Es ist mir peinlich vor den Leuten. Die werden sagen: Um seine Kinder sorgt sich der Doktor überhaupt nicht. Und das bei meiner Stellung …«

So war das also! Ich brummte nur: »Meine Sache, für wen ich arbeite. Aber Sie …, Sie denken nicht an uns …, Ihnen geht es nur um Ihre Stellung!«

So grob war ich ihm noch nie gekommen. Aus Ärger war es mir herausgerutscht, für mich selber unerwartet. Er merkte überhaupt nicht, wie sehr es mich zu ihm zog. Als gäbe es mich gar nicht. Ab und zu warf er mir ein paar Worte hin wie dem Hund einen Knochen. Früher habe ich deswegen sogar nachts geheult. Aber wenn es ihn selbst betraf, dann hieß es mit einem Mal: »Andrej, Söhnchen …«

Ich wusste natürlich, es war nicht richtig, ihn so anzublaffen. Das war die Sache gar nicht wert. Irgendwie kümmerte er sich ja um uns. Um Mama, um mich und Sarina. Ohne ihn hätten wir in diesem Bürgerkrieg, der seit einem Jahr tobte, nicht überlebt. Zwar wurde in unserem Ort bisher nicht geschossen und auch niemand umgebracht, aber es gab nichts zu fressen. Mama bekam in der Bibliothek kein Gehalt mehr. Den Tadschiken fiel es leichter – jeder hatte einen Garten oder seine Sippe auf dem Dorf. Aber wir? Wären verhungert, hätte Vater uns nicht unterstützt. Dass Rawil mich in seine Brigade aufnahm, war noch nicht lange her …

Ich dachte, meinem Vater platzt der Kragen. Aber er meinte nur: »Wir haben schwere Zeiten, Andrej. Vergiss nicht, es ist Krieg. Man muss sehr vorsichtig sein. Vieles verstehst du noch nicht. Weißt du, für welche Art Leute du dort arbeitest? Die nutzen jeden Vorwand, um mir zu schaden.«

»Sie haben mich nicht einmal nach meinem Namen gefragt …«

Doch Vater hörte mir gar nicht zu.

»Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Heute Abend …« Und weg war er.

Das sollte nun ein Gespräch zwischen Vater und Sohn gewesen sein. Ich wartete bis zum späten Abend und fühlte mich nur noch tiefer gekränkt. Es war wie immer. Selbst Mama wurde ärgerlich und fragte: »Hat er denn wirklich gesagt, dass er kommt?«

Sie hatte Piroggen mit Kartoffelfüllung gebacken. Sie ist überzeugt, dass er sie mag. Dabei weiß ich, dass er Kartoffeln nicht ausstehen kann. Mama schlug den Teller in ein frisches Handtuch ein, damit die Piroggen warm blieben. Aber sie sind trotzdem kalt geworden.

Beim Graben zerbrach ich mir den Kopf darüber, was mein Vater mir sagen wollte. Ganz bestimmt etwas über den Geschäftemacher. Er hatte doch nicht umsonst gefragt, ob ich weiß, für wen ich arbeite. Doch heute hatte ich einen Schädel ausgegraben. Mit meinen eigenen Händen. Das war ja wie in einem Krimi! Sollte Vater heute Abend wieder nicht kommen, dann musste ich zu ihm gehen und ihn fragen, was er mir sagen wollte. Obwohl er es gar nicht mochte, wenn man ohne Vorwarnung … Bei dem Gedanken stieg erneut Wut in mir auf.

Da hupte auf der Straße vor dem Haus einer wie wild und schrie: »Andrej! He, Andrej!«

Ich kletterte aus der Grube und lief zum Zaun. Was war denn nun schon wieder los? Da stand ein weißer Krankenwagen. Am Steuer ein dürrer braungebrannter Teufel mit Schnurrbart. Ali, der Kraftfahrer des Krankenhauses. Wir kennen uns. Er war es, der da rief: »Steig rasch ein, Andrej! Wir müssen los!«

Bei dem brannte es immer irgendwo. Der kannte nichts anderes als: Mach schon! Geht’s nicht schneller? Mir reichte das allmählich. Gestern hatte Vater keine Zeit für mich, und heute schickte er mir sogar einen Wagen. Söhnchen sollte alles stehen und liegen lassen und auf der Stelle bei ihm erscheinen. So schnell wie möglich!

»Hast du Feuer unterm Arsch...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2021
Nachwort Arne C. Seifert
Übersetzer Helmut Ettinger
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Original-Titel ЗАХХОК
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Dorfleben • Geschwisterliebe • Gesellschaftlicher Umbruch • Gewalt • Machtkämpfe • Tadschikistan • Tradition • Tschingis Aitmatow • Vorwort von Nino Haritischwili • Zusammenbruch der Sowjetunion
ISBN-10 3-8412-2678-7 / 3841226787
ISBN-13 978-3-8412-2678-5 / 9783841226785
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