Am Leben bleiben (eBook)
240 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00954-7 (ISBN)
Wolfram Gössling, Jg. 67, wurde in Bielefeld geboren. Vor mehr als 20 Jahren zog er mit seiner Frau nach Boston, er hat vier Kinder. Gössling ist praktizierender Onkologe und Krebsforscher. Im Herbst 2013 erkrankte er selbst an Krebs, im Herbst 2020 erlitt er einen Rückfall. Inzwischen arbeitet er wieder als Chefarzt der gastroenterologischen Abteilung am Massachusetts General Hospital. Zudem leitet er einen Studiengang an der Harvard Medical School und forscht Im Bereich der Prävention und Therapie von Leberkrebs.
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Wolfram Gössling, Jg. 67, wurde in Bielefeld geboren. Vor mehr als 20 Jahren zog er mit seiner Frau nach Boston, er hat vier Kinder. Gössling ist praktizierender Onkologe und Krebsforscher. Im Herbst 2013 erkrankte er selbst an Krebs, im Herbst 2020 erlitt er einen Rückfall. Inzwischen arbeitet er wieder als Chefarzt der gastroenterologischen Abteilung am Massachusetts General Hospital. Zudem leitet er einen Studiengang an der Harvard Medical School und forscht Im Bereich der Prävention und Therapie von Leberkrebs.
Auf der Kippe
Ich erhielt meine erste Krebsdiagnose an einem Montagmorgen, am 4. Februar 2013, als ich gerade mitten in der Vorlesung vor Medizinstudenten der Harvard Medical School war. Ich erinnere mich genau an den Tag, es war ein kalter, sonniger Februarmorgen, minus sechs Grad, der Beginn einer aufregenden Woche: Ich leitete den Kurs «Einführung in die klinische Medizin» mit dreißig Studierenden, die hier lernen sollten, wie man mit Patienten spricht, ihre Symptome und Beschwerden erkennt, die Krankheitsgeschichte aufnimmt und sie untersucht. Der Kurs dauert drei Monate und ist interdisziplinär ausgerichtet, zahlreiche Lehrende verschiedener Fachrichtungen sind daran beteiligt. Ich hielt die Einführungsveranstaltung am ersten Tag und gab einen Überblick darüber, wie man eine Anamnese erstellt.
Ich hatte ungefähr zehn Minuten gesprochen, als sich mein Klinik-Pager meldete – ein Gerät, das ich schon fünfzehn Jahre lang an meinem Gürtel trug, damit ich im Notfall erreichbar wäre, falls bei einem meiner Patienten irgendein Problem auftauchte. Ich hatte den Pager immer bei mir, er weckte mich mitten in der Nacht, unterbrach die Mahlzeiten mit der Familie oder die Gespräche mit Kollegen. Wenn sich der Pager meldet, schaue ich hin, ich kann gar nicht anders. So warf ich auch jetzt einen Blick darauf, ohne die Vorlesung zu unterbrechen.
Dieses Mal drehte sich die Nachricht allerdings nicht um einen meiner Patienten. Dieses Mal betraf sie mich. Ich war der Patient. «Bitte ruf deinen Hautarzt an. Es ist dringend.» Mir sank das Herz. Eine Woche zuvor hatte mein Dermatologe eine Biopsie, eine Gewebeprobe, von einem dunkelroten Knötchen auf meiner rechten Wange, knapp unter dem Auge, entnommen. Ich hatte der Biopsie nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, sogar beinahe den Termin verpasst, weil ich mit dem Stationsdienst in der Gastroenterologie im Krankenhaus zu sehr beschäftigt war. Dieser Pickel nervte mich schon seit ein paar Monaten. Nach der Pubertät könnte man eigentlich erwarten, mit solchen Dingen abgeschlossen zu haben.
Besorgt war ich nicht, ich fand es nur lästig. In den letzten beiden Monaten hatte ich mehrmals meinen Hautarzt aufgesucht, der mir erst Antibiotika verschrieb und es dann mit Kortisonspritzen versuchte. Doch statt kleiner zu werden, wuchs der Pickel. Schließlich, beim Termin in der Woche zuvor, hatte der Arzt gemeint: «Wir müssen eine Biopsie machen. Um einen neoplastischen Prozess auszuschließen.»
Neoplastischer Prozess. Unter Medizinern ist dieser Begriff ein Synonym für Krebs. Er bedeutet, dass sich neues Gewebe bildet.
Und nun diese Nachricht. Ich blickte noch mal auf den Pager und fing an zu zittern, entschuldigte mich bei den Studierenden und verließ den Saal. Es gilt als absolut akzeptabel, jede Art von Meeting und jede Vorlesung zu unterbrechen, wenn sich der Pager meldet. Genauso wie er jede Mahlzeit, den Schlaf und jedweden anderen Vorgang des Privatlebens unterbricht.
Nun stand ich da, im Flur des Krankenhauses, in dem ich meine Facharztausbildung gemacht hatte und mittlerweile arbeitete. Ich gab mir einen Ruck und nahm mein Mobiltelefon aus der Kitteltasche. Es war ein ganz normaler, geschäftiger Montagmorgen. Die Menschen hasteten vorbei. Patienten, Ärzte, Pflegekräfte eilten durch den Flur, ihr Ziel fest im Kopf. Und ich stand dort, mit dem Telefon, allein, fröstelnd, angsterfüllt, und rief meinen Arzt an. «Wir haben das Resultat der Biopsie», sagte er. «Ich habe schlechte Nachrichten: Du hast ein Angiosarkom. Aber ich bin mir sicher, dass du genug Spezialisten finden kannst, die dir helfen können.» Dann begann er zu schluchzen.
Krebs? Meine Gedanken rasten. Meine Aufgabe besteht darin, Krebs zu behandeln – aber doch nicht, selbst daran zu erkranken!
Ein Thema meiner Vorlesung, die ich gerade unterbrochen hatte, betraf die Art, wie man mit Patienten spricht, auf sie zugeht, und auch, wie man schlechte Nachrichten überbringen soll, nämlich mitfühlend und teilnahmsvoll. Es gibt jede Menge nützliche Bücher und Artikel dazu. Die Empfehlung lautet, eine möglichst ruhige Umgebung zu wählen, den Patienten anzuschauen, ihn gegebenenfalls zu berühren, ihm volle Unterstützung zuzusichern. Doch wie auch immer man vorgeht, eine schlechte Nachricht bleibt letztlich genau das: eine schlechte Nachricht. Es gibt keine Möglichkeit, sich davor zu verstecken oder zu fliehen. Und nun das. Niemals hätte ich mir vorstellen können, meine eigene Krebsdiagnose am Telefon in einem zugigen Krankenhausflur zu erhalten.
Ich hielt das Telefon in der Hand, hörte meinen Arzt weinen und war mit einer Diagnose konfrontiert, mit der ich nicht gerechnet hatte, geschweige denn, dass ich sie in diesem Moment verstand.
Meine Studierenden! Noch immer saßen sie im Hörsaal und warteten darauf, dass es weiterging. Darauf hatten sie einen Anspruch, ein Recht, sagte ich mir. Konnte ich hineingehen und weitermachen? Würde ich auch nur eine ihrer Fragen beantworten können zu dem Thema: «Wie sage ich’s dem Patienten?» Was sollte ich jetzt tun?
Ich tat das, was mir in diesem Moment als das einzig Sinnvolle erschien – ich ging zurück in den Hörsaal und brachte die Vorlesung zu Ende. Ich klickte mich durch meine vorbereiteten Folien, erzählte den Studenten, was einen guten Zuhörer auszeichnet, wie man Blickkontakt mit den Patienten hält, dass man offene Fragen stellt, und zwar nicht nur zu den Symptomen, sondern auch zu den verschiedenen Aspekten ihres Lebens, zu ihrem Beruf, zur Familie, zu den Hobbys, den Vorlieben. Weil es darum geht, ein schlüssiges und möglichst komplettes Bild des Patienten als Menschen zu erhalten, eines Menschen mit Träumen, Sorgen, Ambitionen – und mit einer Zukunft.
Es war sicher nicht der beste Unterricht meines Lebens, aber ich kam irgendwie durch, Folie für Folie, Schritt für Schritt. Auch wenn ich es damals noch nicht wissen konnte: Dieses Vorgehen war prototypisch für den Weg, den ich bei der Bekämpfung meines Krebses gehen sollte. Schritt für Schritt, einen Tag nach dem anderen, eine Behandlung nach der anderen.
Wir wissen nicht, was das Leben und eine ferne Zukunft für uns bereithalten, wir wissen nicht, wie wir die Krankheiten, die uns treffen, die uns quälen, unter Kontrolle bekommen. Doch was wir sehen können, das ist das unmittelbar vor uns Liegende, der nächste Schritt, der getan werden muss, um die Herausforderungen zu bestehen. Meine Studierenden lernten an diesem Morgen, wie sie ein Gespräch mit einem Erkrankten führen sollten. Und in den folgenden drei Monaten begannen sie damit, sich in der Praxis zu bewähren. Sie saßen am Bett der Patienten, ermittelten ihre Krankheitsgeschichte, untersuchten sie und lieferten eine schlüssige Einschätzung, die vor jeder Diagnose und jedem Behandlungsplan steht. Dann setzten sie ihr Studium fort und schlossen es Jahre später als Arzt ab. Sie absolvierten eine Prüfung nach der anderen, Schritt für Schritt. Viele von ihnen sind heute meine Kollegen, und ich bin unglaublich stolz auf sie. Damals, in meinem Kurs über Patientenuntersuchung und -kommunikation, lernte ich selbst etwas Neues, ohne dass die Studierenden es hätten merken können: Ich begann zu lernen, ein Patient zu sein und was es bedeutet, wenn das Leben urplötzlich auf der Kippe steht.
Als ich meine erste Diagnose erhielt, arbeitete ich bereits seit über zehn Jahren als Onkologe. Ich hatte meine Ausbildung in einem der besten Krebszentren des Landes absolviert, am Dana-Farber Cancer Institute; hier hatte ich meine wöchentliche klinische Ambulanz für Leberkrebspatienten. An dieser Einrichtung war ich umgeben von internationalen Experten, und ich hatte immer versucht, so viel wie möglich von ihnen zu lernen. Doch bis zu diesem Moment hatte ich noch nie einen Patienten vor mir gehabt, bei dem ein Angiosarkom festgestellt worden war.
Mir war klar, dass es nichts Gutes zu bedeuten hatte, wenn mein Hautarzt zu weinen anfing. Ich fühlte mich jetzt so, wie sich meine Patienten fühlen mussten, wenn sie mit einer Krebsdiagnose konfrontiert wurden. Wenn ihnen lateinische oder griechische Wörter präsentiert wurden, denen sie nicht einmal im Ansatz den Ernst der Lage und die Bedeutung der zugrunde liegenden Diagnose entnehmen konnten. Ich brauchte Hilfe. Jemanden, der diese Nachricht für mich übersetzte und mir erklärte. Ich brauchte einen kompetenten Kollegen. Ich brauchte einen Freund.
Ich schickte Andy eine Nachricht, er solle mich anrufen. Andy Wagner und ich hatten gemeinsam unseren Facharzt gemacht, wir sind beide Onkologen und waren nach unserer Facharztausbildung zusammen ein Jahr als «Chief Residents» für die Ausbildung von rund zweihundert Assistenzärzten zuständig gewesen – das schweißt zusammen. Als unsere Kinder kleiner waren, wohnten wir in unmittelbarer Nachbarschaft. Wir hatten zusammen Ausflüge unternommen, zusammengearbeitet, gemeinsam Geld für die Krebsforschung gesammelt. Wir sind wirklich sehr gute Freunde. Außerdem ist Andy ein herausragender und international bekannter Spezialist für Sarkome. Als er sich meldete, teilte ich ihm ohne Umschweife mit: «Andy, bei mir ist ein Angiosarkom diagnostiziert worden. Du musst mein Leben retten, Andy.» «Oh. Wolfram.» Mehr sagte er nicht. Es war mehr ein Seufzer als eine Antwort. Wenn ich es nicht vorher schon geahnt hätte, dann wäre mir in diesem Moment klar geworden, wie ernst die Diagnose war und wie gering die Aussicht auf Heilung. Mir stand ein steiniger Weg bevor. Mein Überleben war alles andere als gewiss. All das steckte in diesen beiden Wörtern, in dem mitfühlenden Tonfall, in dem er sie sagte. In Andys...
Erscheint lt. Verlag | 16.5.2023 |
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Übersetzer | Doris Mendlewitsch |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Angehörige • Angiosarkom • Angst • Bestrahlung • Chemotherapie • Heilung • Krankenhaus • Krebs • Krebsarzt • Krebs besiegen • Krebsdiagnose • Krebs Erfahrung • Krebs Erfahrungen • Krebs Heilung • Krebs Lebensmut • Krebspatient • Krebstherapie • Lebensmut • Mutmachgeschichte • naher Tod • Ohnmacht • Onkologe • Onkologie • Operation • Schicksal • Schicksalsschlag • Sterben • Überleben • Überlebenskampf |
ISBN-10 | 3-644-00954-6 / 3644009546 |
ISBN-13 | 978-3-644-00954-7 / 9783644009547 |
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