Marx, Wagner, Nietzsche (eBook)
720 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00860-1 (ISBN)
Herfried Münkler, geboren 1951, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa «Die Deutschen und ihre Mythen» (2009), das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, sowie «Der Große Krieg» (2013), «Die neuen Deutschen» (2016), «Der Dreißigjährige Krieg» (2017) oder «Marx, Wagner, Nietzsche» (2021), die alle monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste standen. Zuletzt erschien «Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert», ebenfalls ein «Spiegel»-Bestseller. Herfried Münkler wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung und dem Carl Friedrich von Siemens Fellowship.
Herfried Münkler, geboren 1951, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa «Die Deutschen und ihre Mythen» (2009), das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, sowie «Der Große Krieg» (2013), «Die neuen Deutschen» (2016), «Der Dreißigjährige Krieg» (2017) oder «Marx, Wagner, Nietzsche» (2021), die alle monatelang auf der «Spiegel»-Bestsellerliste standen. Zuletzt erschien «Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert», ebenfalls ein «Spiegel»-Bestseller. Herfried Münkler wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung und dem Carl Friedrich von Siemens Fellowship.
Einleitung: Licht und Schatten
Marx, Wagner, Nietzsche – zu ihnen allen sind intensive, große Debatten geführt worden. Entsprechend unüberschaubar ist die vorliegende Forschungsliteratur, die sich nicht nur mit dem jeweiligen Leben und Werk beschäftigt, sondern ebenso mit den Wirkungen auf das 20. Jahrhundert: Jeder der drei ragte auf seine Weise in seinem Gebiet heraus, in Gesellschaftstheorie, Musik und Philosophie, alle drei waren Sterne, die einen langen rotglühenden Schweif hinter sich herzogen, der immer noch am Funkeln ist beziehungsweise nach zwischenzeitlichem Verblassen im 21. Jahrhundert erneut zu funkeln begonnen hat. Offenbar ist so manches, was von ihnen behandelt und angestoßen wurde, nach wie vor oder auch von neuem relevant. Um es anzudeuten, ohne es auszuführen: Wagners Idee des Gesamtkunstwerks etwa für die Herangehensweise im Film und in aufeinanderfolgenden Staffeln von Serien, in denen auseinanderlaufende Erzählungen wechselnder Personen oder einschneidende Charakterwechsel der Protagonisten durch poetische wie musikalische Leitmotive zusammengehalten werden; Marx’ Gesellschaftsanalyse, nachdem die neoliberale Ära des Kapitalismus die alten Ungleichheiten erneuert und neue soziale Spaltungen hervorgebracht hat; Nietzsches Vorstellung von individueller Freiheit als Wille zum Ausleben der Bedürfnisse und Neigungen unter, wie viele meinen, ständig wachsenden massengesellschaftlichen Einschränkungen und Reglementierungen. Unverkennbar weisen diese Gegenwartsbezüge mitsamt der darin enthaltenen Kritik nicht in dieselbe Richtung – wie sie das auch zu Lebzeiten der drei nicht getan haben. In ihrer Zeit wie in unserer Gegenwart stehen sie für unterschiedliche Blickweisen auf Gesellschaft und Kultur. Das macht es so instruktiv und spannend, sie vergleichend zu betrachten.
Die gewaltige Wirkung, die Marx, aber auch Wagner[1] und Nietzsche[2] im 20. Jahrhundert hatten, der Umstand, dass sich politische und kulturelle Bewegungen nach ihnen benannt, dass sie Sichtweisen geprägt und Erwartungen gelenkt haben, macht die Beschäftigung mit ihnen freilich nicht einfacher. Sie müssen erst wieder aus den Überformungen gelöst werden, die sich im Gefolge der gleichnamigen Bewegungen und Sichtweisen an ihr Werk angelagert haben – aus dem Marxismus, dem wagnerisme (hier hat sich die französische Bezeichnung eingebürgert) und dem Nietzscheanismus als spezifische Lesart von Nietzsches Philosophie.
Dabei möchte ich der reichen, immer spezieller gewordenen Forschung[3] keine Einzelstudien hinzufügen, sondern die drei vergleichend betrachten, auf Ähnlichkeiten hin wie auch auf Unterschiede: Marx, Wagner und Nietzsche als Beobachter, Kritiker und Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts – ein Jahrhundert, das eines des Umbruchs war, und zwar stärker noch in mentaler als in materieller Hinsicht. Alle drei haben diesen Umbruch verfolgt, doch die Schlussfolgerungen, die sie daraus zogen, waren sehr unterschiedlich: Marx wollte den Umbruch nutzen, steuern und bestimmte Ziele erreichen; Wagner wollte ihn in großen Teilen rückgängig machen, um zu früheren Verhältnissen zurückzukehren, solchen zumal, die eher moralökonomisch geprägt waren, als dass sie den Gesetzen des Marktes unterlagen; Nietzsche dachte in noch weiter gespannten Zusammenhängen, und die «Umwertung aller Werte», auf die er hinauswollte, sollte zu einer vorchristlichen Werthaltung zurückführen.
Dies ist jedoch nur eine ungefähre, stark vereinfachende Richtungsanzeige, die der ausgeprägten Vieldeutigkeit im Denken von Marx, Wagner und Nietzsche nicht wirklich gerecht wird. Sie strebten das Genannte tatsächlich an, aber in mancher Hinsicht mitunter auch dessen Gegenteil oder zumindest etwas, das damit unvereinbar war. Keiner der drei ist leicht auszudeuten, lässt sich einfach über einen Kamm scheren.
Bei dem so eingeschlagenen Weg gibt es mehreres zu beachten, gewissermaßen als Leitplanken für das ganze Unternehmen. So ist – erstens – das Werk der drei zu großen Teilen unter Vermittlung von «Erben» auf die Nachwelt gekommen: Im Fall von Marx war es sein politischer Weggefährte und kongenialer Mitstreiter Friedrich Engels, der dafür sorgte, dass aus den disparaten Schriften, die Marx hinterließ, ein geschlossenes Werk geformt wurde.[4] Engels war in wissenschaftlicher Hinsicht weniger skrupulös als Marx, fügte mit leichter Hand zusammen, was sich für Marx nicht fügen wollte und was zu biegen er vermieden hatte. Ohne Engels wäre Marx womöglich nur einer der vielen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts geblieben, die sich an dieser Ära des Umbruchs abgearbeitet haben und zu keinem eindeutigen Ergebnis gekommen sind. Das heißt aber auch, dass Engels der Erste in einer langen Reihe von Interpreten war, die das Werk eindeutiger machten, als Marx es hinterlassen hatte. Ob er damit dessen Anliegen gerecht wurde, ist eine immer wieder kontrovers diskutierte Frage.
Bei Wagner kümmerte sich seine Frau Cosima darum, dass die zu Lebzeiten nur zweimal veranstalteten Festspiele zur alljährlichen Veranstaltung avancierten.[5] Sie hatte, zunächst als Privatsekretärin, dann als Ehefrau, einen Großteil des Briefwechsels übernommen und Wagner bei der Durchführung seines Riesenprojekts unterstützt. Wie Engels bei Marx war sie mit dem Vorhaben eng vertraut und dabei keineswegs nur eine «helfende Hand», sondern die treibende Kraft: Es mag dahingestellt bleiben, ob sie das Projekt der Festspiele gegen ihren zögernden, mitunter widerstrebenden Mann überhaupt erst durchgesetzt hat,[6] aber es steht außer Frage, dass ohne sie die Festspiele mit Wagners Tod zu Ende gewesen wären. Zugleich hat Cosima eine nahezu vollständige Zensur über Wagner ausgeübt und dafür gesorgt, dass lediglich das überliefert wurde, was sie überliefert wissen wollte. Das begann mit ihren Tagebüchern, in denen sie (nur) die ihr wichtigen Äußerungen Richard Wagners festhielt, und endete mit dem Verbrennen von Briefen, von denen sie nicht wollte, dass sie der Nachwelt bekannt wurden.[7]
Bei Nietzsche übernahm seine Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche die Werkedition, zusammen mit Heinrich Köselitz, von Nietzsche Peter Gast genannt, der ihm in den letzten Jahren wegen seiner gravierenden Sehschwäche ein unentbehrlicher Helfer gewesen war.[8] Köselitz/Gast gehörte zu den wenigen, die Nietzsches Handschrift lesen konnten, aber Elisabeth drängte ihn schon bald an den Rand und dirigierte das Editionsvorhaben allein. Elisabeth Förster-Nietzsche griff stark in das Werk ihres Bruders ein, ja verfälschte es regelrecht. Sie hat sich im buchstäblichen Sinn ihres Bruders bemächtigt, auch dadurch, dass sie das Nietzsche-Archiv in Weimar ausbaute und so entscheiden konnte, wer an Nietzsches Nachlass herankam und wer nicht.[9] Hat Cosima ihren Ehemann zensiert, so hat Elisabeth das Werk ihres Bruders den eigenen Vorstellungen angepasst und entsprechend «redigiert».
Das Werk der drei ist in den letzten Jahrzehnten neu erschlossen und in erheblich veränderter Form der Öffentlichkeit dargeboten worden – bei Marx und Nietzsche durch Neueditionen, die sich an wissenschaftlichen Standards orientieren, bei Wagner durch Neuinszenierungen auch und gerade in Bayreuth, also am Ort der Traditionswahrung selbst. Bei den Neueditionen sind die nachträglichen Bearbeitungen rückgängig oder zumindest sichtbar gemacht worden. Was zum Vorschein kam, war kein gänzlich anderes, aber doch deutlich verändertes Werk.
Bei Marx ist neben die noch in DDR-Zeiten fertiggestellte Ausgabe der Marx-Engels-Werke (MEW) die in Ostberlin und Moskau begonnene und seit 1993 an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften weitergeführte Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) getreten,[10] die zwar noch nicht abgeschlossen, aber recht weit fortgeschritten ist. Sie relativierte die zuvor herausgehobene Stellung des Kapitals insofern, als sie die ökonomischen Schriften von Marx (und Engels) in einer eigenen Abteilung zusammenfasste, wodurch das Kapital zu einem Schritt in der Arbeit an ökonomischen Fragen wurde.[11] Weiterhin präsentierte sie die von Marx hinterlassenen Fragmente zu den Bänden zwei und drei des Kapitals neben den von Engels fertiggestellten und veröffentlichten Fassungen, womit das partielle Scheitern, jedenfalls Ins-Stocken-Kommen des großen Vorhabens sichtbar gemacht wurde. Die Zweite Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe läuft auf eine «Entmonumentalisierung» des Kapitals hinaus. Auch die Begründungsschrift des Historischen Materialismus, die Deutsche Ideologie, ist das Produkt von Textkompilationen im 20. Jahrhundert: Marx und Engels hatten die Manuskripte im Rahmen zeitgenössischer Debatten verfasst, in denen sie unveröffentlicht blieben, später als Produkte der Selbstverständigung gewertet und der «nagenden Kritik der Mäuse» überlassen. Erst jüngst wurden diese Textfragmente in ihrer authentischen Form in der Marx-Engels-Gesamtausgabe ediert. Außerdem bietet diese Gesamtausgabe den ganzen Umfang von Marx’ ethnologischen Studien, mit denen sich die Frage verbindet, inwieweit darin eine Revision seiner zeitweise durchscheinenden deterministischen Sicht der Geschichte angelegt ist.[12] Die MEGA hat den zur Ikone...
Erscheint lt. Verlag | 14.8.2021 |
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Zusatzinfo | Mit Abbildungen |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • 48er-Revolution • Achtundvierzigerrevolution • Allzumenschliches • Bildungsbürgertum • Bürgerliches Zeitalter • bürgerliche Welt • Bürgertum • Deutschland • die Deutschen • Epochenporträt • Erlösung • Extreme • Friedrich Nietzsche • Kapital • Karl Marx • Kulturgeschichte • Menschliches • Mentalitätsgeschichte • Moderne • Moderne Welt • Nationalsozialismus • neunzehntes Jahrhundert • Richard Wagner • Ring |
ISBN-10 | 3-644-00860-4 / 3644008604 |
ISBN-13 | 978-3-644-00860-1 / 9783644008601 |
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