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Die Telefonzelle am Ende der Welt (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021
352 Seiten
btb Verlag
978-3-641-26321-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Telefonzelle am Ende der Welt - Laura Imai Messina
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Der internationale Bestseller ? Inspiriert von einer wahren Geschichte
Eine Tagesfahrt von Tokio entfernt steht in einem Garten am Meer einsam eine Telefonzelle. Nimmt man den Hörer ab, kann man dem Wind lauschen - und den Stimmen der Vergangenheit. Viele Menschen reisen zu dem Telefon des Windes, um mit ihren verstorbenen Angehörigen zu sprechen und um ihnen die Dinge zu sagen, die zu Lebzeiten unausgesprochen blieben. So kommt eines Tages auch Radiomoderatorin Yui an den magischen Ort. Im Tsunami von 2011 verlor sie ihre Mutter und ihre kleine Tochter. Yui lernt in dem Garten den Arzt Takeshi kennen, auch er muss ein Trauma verarbeiten. Die beiden nähern sich an, gemeinsam schöpfen sie neuen Mut. Und erlauben sich zum ersten Mal, dem Leben einfach seinen Lauf zu lassen. Ganz gleich, was es für sie vorgesehen hat ...

Laura Imai Messina wurde in Rom geboren. Mit dreiundzwanzig Jahren zog sie nach Japan. Ihr Studium an der University of Foreign Studies schloss sie mit dem Doktortitel ab, mittlerweile arbeitet sie als Dozentin an verschiedenen Universitäten. Sie lebt mit ihrem Mann und zwei Kindern in Tokio. Ihr Roman »Die Telefonzelle am Ende der Welt« stand in Italien und Großbritannien wochenlang auf der Bestsellerliste und wurde in 25 Länder verkauft. Laura Imai Messinas Romane zählen zu den meistübersetzten italienischen Büchern weltweit.

Prolog


Der Wind peitschte auf die Pflanzen des großen, an einem Hang gelegenen Gartens von Bell Gardia ein.

Instinktiv nahm die Frau den Arm vors Gesicht, um sich zu schützen, und beugte sich nach vorn. Doch dann richtete sie sich wieder auf, stemmte sich der Witterung entgegen.

Kurz vor Morgengrauen war sie gekommen, hatte zugesehen, wie es hell wurde, noch bevor die Sonne aufging. Sie hatte große Säcke aus dem Auto geladen: fünfzig Meter aufgerollte, dicke Plastikfolie, mehrere Packungen Isolierband, zehn Schachteln Nagelringe für die Befestigung im Boden sowie einen Hammer mit Damengriff. Bei Conan, dem großen Baumarkt, hatte ein Verkäufer sie gebeten, ihm ihre Hand zu zeigen, er wolle lediglich ihre Größe für den Griff messen, doch sie zuckte zusammen und blieb ihm eine Antwort schuldig.

Mit schnellen Schritten näherte sie sich jetzt der Telefonzelle, die ihr unendlich zerbrechlich erschien, wie aus Zuckerwatte und Baiser gemacht. Schon jetzt war der Wind zu einem Sturm angewachsen, und die Zeit wurde knapp.

Gut zwei Stunden arbeiteten beide ohne Unterlass dort auf dem Hügel von Ōtsuchi: sie – die nicht nur die Zelle, sondern auch die Bank, das Schild am Eingang und den kleinen Bogen, der als Wegweiser diente, in Plastikplanen wickelte – und der Wind, der nicht einen Augenblick lang aufhörte, sie zu umtosen. Ab und zu schlang sie unwillkürlich die Arme um sich, als wollte sie sich selbst umarmen, so wie sie es seit Jahren tat, wenn ihre Gefühle sie überwältigten, doch jedes Mal richtete sie sich wieder auf, streckte den Rücken und stemmte sich erneut trotzig der Wolkenbank entgegen, die mittlerweile den gesamten ­Hügel einhüllte.

Erst als sie mit allem fertig war, als sie sogar glaubte, den Geschmack des Meeres im Mund zu haben, als wäre die Luft von unten aufgestiegen und die Welt stünde Kopf, hielt sie endlich inne. Erschöpft ließ sie sich auf die Bank sinken, die unter ihrer dicken Plastikhülle aussah wie eine Seidenraupe, ihre Schuhsohlen dick verkrustet von Lehm.

Wenn die Welt jetzt unterginge, so sagte sie sich, dann würde sie eben mit ihr untergehen. Doch sollte auch nur die geringste Möglichkeit bestehen, sie auf den Beinen zu halten, selbst in einem ungelenken Gleichgewicht, dann würde sie auch das letzte Körnchen Energie aufbringen, um ihr zu helfen.

Die Stadt unter ihr schlief noch immer. In manchen Fenstern brannte bereits Licht, doch in Erwartung des Taifuns hielten die meisten Menschen die Fensterläden geschlossen und vernagelten sie mit Brettern. So mancher hatte gar Sandsäcke vor seinem Haus gestapelt, um den Wind in seinem Wüten davon abzuhalten, die Barrikaden zu durchbrechen und den Wassermassen Tür und Tor zu öffnen.

Doch Yui schien den Regen gar nicht zu bemerken, den Himmel, der bis zu ihren Schuhen herabgesunken war. Sie betrachtete ihr Werk, die dicken Schichten aus Plastikfolie und Isolierband, in die sie alles eingewickelt hatte: die Tele­fonzelle, die Holzbank, die akkurat aufgereihten Steinplatten, die den Weg formten, den Bogen am Eingang und das Schild mit der feierlichen Aufschrift: »Telefon des Windes«.

Alles war mit einer Schicht aus Erde und Regentropfen bedeckt. Selbst wenn der Taifun etwas wegrisse oder gar mit sich forttrüge – Yui würde bleiben, um es zurückzuholen.

Das Augenscheinlichste in diesem Moment kam ihr gar nicht in den Sinn – nämlich, dass die Dinge nicht so hinfällig sind wie das Fleisch. Materielles kann immer repariert oder ersetzt werden, der Körper hingegen ist irreparabel; wenngleich er auch stärker ist als die Seele, für die es keine Heilung gibt, wenn sie erst einmal in Stücke gegangen ist, so ist er doch schwächer als das Holz, das Blei, das Eisen. Dass sie selbst in Gefahr war, war ihr nicht einen Augenblick bewusst.

»Es ist schon September«, flüsterte Yui und betrachtete die schwarze Himmelswand, die sich aus Osten näherte. Nagatsuki 長月, der »Monat der langen Nächte«, der Name, den man ihm schon in uralten Zeiten gegeben hatte. Sie erinnerte sich, dass sie damals genau diesen Satz jeden Monat gesagt hatte. Es ist schon Oktober, November, Dezember. Es ist schon April, hatte sie gesagt, und dann war es Mai und so weiter, während ein Tag auf den anderen folgte, seit jenem 11. März des Jahres 2011.

Jeder Tag, jede Woche war ein Kampf, jeder Monat einfach nur angehäufte Zeit, gesammelt und eingemottet für eine aufgeschobene Zukunft, von der Yui gar nicht wusste, ob sie jemals eintreffen würde.

Yui hatte langes rabenschwarzes Haar, das nur an den Spitzen blond war, als wäre der Ansatz von unten nach oben nachgewachsen. Seit ihre Mutter und ihre Tochter in den Mahlstrom des Meeres gesogen worden waren, hatte sie ihr Haar nicht mehr gefärbt. Stattdessen hatte sie es nur ab und zu ein Stückchen abgeschnitten und ansonsten wachsen lassen, wie eine Aureole, die langsam nach unten wanderte. So kam es, dass die Farbe ihres Haares, genauer der Abstand zwischen dem fahlen Gelb von früher und dem ursprünglichen Schwarz, von der Dauer ihrer Trauer erzählte. Sie war zu einer Art Kalender geworden.

Ihr Überleben hatte sie vor allem diesem Garten zu verdanken, dieser weißen Zelle mit der Schiebetür und dem schwarzen Telefon auf der Ablage, dem Spiralheft da­neben. Sie wählte eine beliebige Nummer auf der Wählscheibe, hielt sich den Hörer ans Ohr und ließ ihre Stimme hinein­fallen. Manchmal weinte sie, aber manchmal musste sie auch lachen, weil das Leben so komisch sein kann, auch wenn etwas Schreckliches geschieht.

Jetzt war er fast über ihr, der Taifun. Yui hörte, wie er sich näherte.

In dieser Gegend waren Wirbelstürme nichts Ungewöhnliches, besonders im Sommer. Sie brachten Chaos, deckten Dächer ab und verstreuten die Dachziegel wie Samen­körner in der Landschaft, und jedes Mal beschützte Suzuki-san, der Hüter von Bell Gardia, den Garten mit der liebevollen Fürsorge, die ihm zu eigen war.

Dieses Mal jedoch kündigte sich ein besonders furchterregender Taifun an, und Suzuki-san war nicht da. Das Gerücht, er sei krank, hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Wie schlecht es wirklich um ihn bestellt sein mochte, wusste niemand, nur, dass er im Krankenhaus war.

Wenn er diesen Ort nicht schützte, wer dann?

Yui kam dieser Taifun wie ein kleines, boshaftes Kind vor, das einen Eimer Wasser auf die Sandburg eines anderen Kindes schütten wollte, welches in seiner Unschuld nicht damit rechnete; er beobachtete es aus der Ferne, hinter einem Felsen verschanzt, und wartete auf seine Gelegenheit zuzuschlagen.

Die Wolken am Himmel veränderten ständig ihre Position, alles dort oben raste, und das Licht zog sich rasch in Richtung Westen zurück. Von Minute zu Minute senkte es sich ein wenig mehr über sie herab, legte sich wie eine dunkle Hand auf die Stirn des Hügels, als wollte es prüfen, ob sie wirklich heiß war oder das Fieber nur vortäuschte.

Als das Gebrüll des Windes über den Garten hereinbrach, schien sich alles unter seinem Wüten zu ducken. Tu mir nicht weh, schien es zu flüstern.

Yuis Haare öffneten sich wie die Fangarme einer Qualle, sanken schlaff in sich zusammen, fächerten sich wieder auf. Man musste sich nur den Kopf dieser Frau anschauen, um zu erahnen, welche Partitur der Wind spielte, dieses unheimliche Pfeifen, kurz bevor er die Pflanzen aus der Erde riss: die higan-bana, die Spinnenlilie mit ihren scharlachroten Dolden, die Blume des Nirwana, die Toten­blume, die Hortensie, die all ihrer Blütenblätter beraubt und wieder zum nackten Strauch wurde, oder die weißen Blüten der fūsen-kazura mit ihren grünen Früchten, die die Kinder zum Klingeln brachten wie Glöckchen.

Obwohl es ihr mittlerweile Mühe bereitete, sich auf den Beinen zu halten, ging Yui noch ein letztes Mal in die Hocke, um sich zu vergewissern, dass alles geschützt war. Mal schleppte sie sich über den Boden, mal stemmte sie sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen jene Wand aus Luft, bis sie schließlich die allerletzte Steinplatte des Weges erreicht hatte. Noch einmal prüfte sie die Haken, mit denen sie die Planen um die Telefonzelle festgesteckt hatte, pflügte mit beiden Armen durch den Wind, als wollte sie schwimmen.

Eine einzige Platte des Weges knirschte wie mürbe unter ihren Füßen, und Yui fiel ein, wie ihre Tochter die Steinplatten über der Abwasserrinne bei ihrem Haus immer Kekse genannt hatte.

Sie lächelte, dankbar dafür, dass sie sich daran wieder erinnert hatte.

Als Kind nimmt man das Glück als Ding wahr. Eine Spielzeugeisenbahn, die aus einem Karton hervorlugt, die Folie, mit der ein Stück Torte eingewickelt ist. Oder vielleicht auch ein Foto, das das Kind als Mittelpunkt einer Szene zeigt, bei der sich alle Augen auf diesen kleinen Menschen richten.

Als Erwachsener wird das alles komplizierter. Glück – das ist Erfolg, die Arbeit, das sind ein Mann oder eine Frau, alles Dinge mit vielen Nuancen, schwer zu erreichen. Und wenn dieses Glück dann da ist – und auch wenn es nicht da ist –, wird es vor allem das: ein Wort.

Genau, dachte Yui jetzt, aber die Kindheit lehrt uns etwas anderes: nämlich dass es genügt, die Hand in die richtige Richtung zu strecken, und schon ist es zum Greifen nah.

Dort unter der gräulich-matschigen Masse des Himmels blieb eine Frau von etwa dreißig Jahren trotz allem aufrecht stehen. Sie dachte darüber nach, wie wesenhaft Glück sein kann, verlor sich in ihren Gedanken, so wie sie sich früher in Büchern verloren hatte, in den Geschichten anderer, die ihr schon als kleines Mädchen stets...

Erscheint lt. Verlag 15.3.2021
Übersetzer Judith Schwaab
Sprache deutsch
Original-Titel Quel che affidiamo al vento
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte eBooks • Hoffnung • Italienische Gegenwartsliteratur • Japan • Roman • Romane • Tokio • Trauma • Tsunami
ISBN-10 3-641-26321-2 / 3641263212
ISBN-13 978-3-641-26321-8 / 9783641263218
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