Andy Weir war bereits im Alter von fünfzehn Jahren als Programmierer und später als Softwareentwickler für diverse Computerfirmen tätig, bevor er mit seinem Roman Der Marsianer einen internationalen Megabestseller landete. Seither widmet er sich ganz dem Schreiben und beschäftigt sich in seiner Freizeit mit Physik, Mechanik und der Geschichte der bemannten Raumfahrt - Themen, die sich auch immer wieder in seinen Romanen finden. Sein Debüt Der Marsianer wurde von Starregisseur Ridley Scott brillant verfilmt.
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»Was ist zwei plus zwei?«
Aus irgendeinem Grund ärgert mich die Frage. Ich bin müde. Beinahe schlafe ich wieder ein.
Ein paar Minuten vergehen, dann höre ich sie wieder.
»Was ist zwei plus zwei?«
Der leisen Frauenstimme fehlt jedes Gefühl, und der Tonfall ist genau derselbe wie beim letzten Mal. Es ist ein Computer. Ein Computer, der mich nervt. Meine Verärgerung wächst.
»Lsmchnr«, sage ich und staune. Eigentlich wollte ich sagen: »Lass mich in Ruhe«, was meiner Ansicht nach eine absolut verständliche Reaktion ist. Aus irgendeinem Grund kann ich nicht richtig sprechen.
»Nicht korrekt«, entgegnet der Computer. »Was ist zwei plus zwei?«
Zeit für ein Experiment. Ich will versuchen, »Hallo« zu sagen.
»Harch?«
»Nicht korrekt. Was ist zwei plus zwei?«
Was ist hier eigentlich los? Das wüsste ich wirklich gern, aber ich habe nicht viele Anhaltspunkte. Außer dem Computer kann ich nichts anderes hören. Ich kann nicht einmal etwas fühlen. Nein, das stimmt nicht. Ich spüre etwas. Ich liege auf etwas Weichem. Auf einem Bett.
Ich glaube, meine Augen sind geschlossen. Das ist gar nicht so schlecht. Ich muss sie nur öffnen. Ich versuche es, aber nichts passiert.
Warum bekomme ich die Augen nicht auf?
Öffnen.
Uuuuuund … öffnen!
Verdammt noch mal, geht auf!
Oh! Gerade hat etwas gezuckt. Die Augenlider haben sich bewegt. Das konnte ich fühlen.
GEHT AUF!
Ganz langsam gehorchen die Augenlider, gleißendes Licht fällt auf die Netzhäute.
»Nampf«, sage ich und halte mit größter Willenskraft die Augen offen. Alles ist grellweiß und tut weh.
»Augenbewegung entdeckt«, sagt meine Peinigerin. »Was ist zwei plus zwei?«
Das grelle Weiß schwächt sich ab. Meine Augen passen sich an die Helligkeit an. Ich erkenne Umrisse, die mir aber noch nichts sagen. Mal sehen … kann ich die Hände bewegen? Nein.
Die Füße? Ebenfalls nein.
Aber ich kann den Mund bewegen, oder? Ich habe etwas gesagt. Nichts Verständliches, aber immerhin.
»Vrrmp.«
»Nicht korrekt. Was ist zwei plus zwei?«
Allmählich schälen sich Umrisse heraus. Ich liege in einem Bett. Es ist … oval geformt.
Über mir strahlen LED-Lampen. Kameras in der Decke überwachen jede Bewegung. So unheimlich das auch auf mich wirkt, die Roboterarme machen mir noch viel größere Sorgen.
An der Decke hängen zwei Edelstahlausleger. Beide sind mit beunruhigenden, nach Penetration aussehenden Geräten bestückt, wo die Hände sein sollten. Ich kann nicht behaupten, dass mir der Anblick gefällt.
»Virch… ie… rrr«, stöhne ich. Ob das reicht?
»Nicht korrekt. Was ist zwei plus zwei?«
Verdammt. Ich raffe meine ganze Willenskraft und meine innere Stärke zusammen. Außerdem gerate ich allmählich in Panik. Na gut, auch das kann ich nutzen.
»Vvvvviiiierrr«, sage ich endlich.
»Korrekt.«
Gott sei Dank. Ich kann sprechen. Irgendwie.
Erleichtert atme ich aus. Moment mal – ich habe gerade meine Atmung kontrolliert. Ich hole noch einmal Luft. Absichtlich. Mein Mund brennt, die Kehle ist wie ausgedörrt. Aber es ist mein Brennen. Ich habe die Kontrolle.
Ich trage eine Atemmaske. Sie sitzt fest auf meinem Gesicht und ist mit einem Schlauch verbunden, der über meinem Kopf verschwindet.
Kann ich aufstehen?
Nein. Aber ich kann den Kopf ein wenig bewegen. Ich betrachte meinen Körper. Ich bin nackt und mit mehr Schläuchen verbunden, als ich zählen kann. Je einer steckt in den Armen und Beinen, einer in meiner Herrenausstattung, zwei führen unter dem Oberschenkel entlang. Vermutlich sitzt einer davon da, wo niemals die Sonne scheint.
Das verheißt nichts Gutes.
Außerdem bin ich mit Elektroden zugepflastert. Die Sensoren ähneln denen eines EKG-Geräts, aber sie sind überall. Na ja, wenigstens kleben sie auf der Haut und sind nicht in mich hineingebohrt.
»Wa…«, keuche ich. Ich versuche es noch einmal. »Wo bin ich?«
»Was ist die Kubikwurzel von acht?«, fragt der Computer.
»Wo bin ich?«, frage ich noch einmal. Es geht schon besser.
»Nicht korrekt. Was ist die Kubikwurzel von acht?«
Ich hole tief Luft und spreche betont langsam. »Zwei mal e hoch zwei-i-pi durch drei.«
»Nicht korrekt. Was ist die Kubikwurzel von acht?«
Meine Antwort war aber gar nicht falsch. Ich wollte nur sehen, wie schlau der Computer ist. Nicht besonders, wie mir scheint.
»Zwei«, antworte ich.
»Korrekt.«
Ich warte auf weitere Fragen, aber der Computer scheint zufrieden zu sein. Ich bin müde, und langsam dämmere ich weg.
Ich wache auf. Wie lange habe ich geschlafen? Anscheinend ziemlich lange, denn ich fühle mich ausgeruht. Ohne Schwierigkeiten öffne ich die Augen. Das ist ein Fortschritt.
Als Nächstes versuche ich, die Finger zu bewegen. Sie wackeln wie gewünscht. Alles klar. Das wird schon wieder.
»Handbewegung entdeckt«, stellt der Computer fest. »Bleiben Sie ruhig liegen.«
»Was? Warum …«
Die Roboterarme nähern sich. Sie sind sehr schnell. Im Handumdrehen haben sie mir die meisten Schläuche aus dem Körper gezogen. Ich habe überhaupt nichts gespürt. Meine Haut ist irgendwie taub.
Nur drei Schläuche sind noch da: eine Infusion im Arm, der Schlauch im Hintern und ein Katheter. Die letzten beiden wäre ich zwar gern so schnell wie möglich losgeworden, aber seiʼs drum.
Ich hebe den rechten Arm und lasse ihn wieder auf das Bett sinken. Dann noch einmal das Gleiche mit dem linken Arm. Sie fühlen sich ungeheuer schwer an. Ich wiederhole die Übung einige Male. Meine Arme sind kräftig. Das kann doch nicht sein. Es sieht ganz danach aus, als hätte ich ein größeres gesundheitliches Problem gehabt und eine Weile in diesem Bett verbracht, sonst hätten sie mich ja wohl kaum an dieses ganze Zeug angeschlossen. Aber hätten dabei nicht meine Muskeln schrumpfen müssen?
Sollten hier nicht auch Ärzte sein? Oder wenigstens die Geräusche, die man in einem Krankenhaus erwartet? Und was ist mit dem Bett los? Es ist nicht rechteckig, sondern oval, und ich glaube, es ist in der Wand verschraubt, statt auf dem Boden zu stehen.
»Nimm …« Ich muss noch einmal ansetzen, ich bin immer noch müde. »Nimm die Schläuche raus.«
Der Computer reagiert nicht.
Ich hebe noch einige Male die Arme und wackle mit den Zehen. Ja, es wird allmählich besser.
Dann bewege ich die Füße. Sie gehorchen. Als Nächstes ziehe ich die Knie an. Auch meine Beine sind muskulös. Nicht so muskulös wie bei einem Bodybuilder, aber immer noch viel zu kräftig für jemanden, der offensichtlich dem Tode nahe war. Andererseits kann ich nicht genau sagen, wie dick sie eigentlich sein sollten.
Ich stemme die Hände flach auf das Bett und drücke mich hoch. Mein Oberkörper hebt sich. Ich kann mich tatsächlich aufrichten! Es erfordert meine ganze Kraft, aber ich lasse nicht locker. Sobald ich den Kopf weit genug gehoben habe, sehe ich, dass das Kopf- und das Fußende des ovalen Betts an stabilen Verankerungen in der Wand hängen. Es ist eine Art starre Hängematte. Eigenartig.
Kurz danach sitze ich auf dem Schlauch in meinem Hintern. Kein sehr angenehmes Gefühl, aber wann wäre so ein Schlauch schon einmal angenehm gewesen?
Jetzt kann ich mehr erkennen. Es ist kein gewöhnliches Krankenzimmer. Die Wände sehen aus, als wären sie aus Plastik, und der Raum ist rund. Aus den LED-Leuchten in der Decke strahlt grelles Licht.
An den Wänden sind noch zwei weitere Hängemattenbetten verankert, in denen Patienten liegen. Wir sind in einem Dreieck angeordnet, und die Folterarme sind zwischen uns an der Decke angebracht. Ich nehme an, sie kümmern sich um uns drei Patienten. Von meinen Leidensgenossen kann ich nicht viel erkennen, sie sind so tief im Bett versunken, wie ich es war.
Eine Tür gibt es nicht. Nur eine Leiter, die zu einer … ist das eine Luke? Sie ist rund und hat in der Mitte ein Handrad. Ja, es muss eine Art Luke sein. Wie auf einem U-Boot. Ob wir drei eine ansteckende Krankheit haben? Vielleicht ist dies ein Quarantänezimmer? Hier und da entdecke ich kleine Lüftungsgitter in den Wänden, und ich spüre einen leichten Luftstrom. Es könnte eine kontrollierte Umgebung sein.
Ich schiebe ein Bein über die Bettkante, worauf die Liege wackelt. Die Roboterarme rasen auf mich zu. Ich zucke zusammen, doch sie halten kurz vor mir inne und schweben in der Luft – bereit, mich aufzufangen, falls ich stürze.
»Vollständige Körperbewegung entdeckt«, sagt der Computer. »Wie heißen Sie?«
»Ist das dein Ernst?«, frage ich.
»Nicht korrekt. Zweiter Versuch: Wie heißen Sie?«
Ich öffne den Mund und will antworten.
»Äh …«
»Nicht korrekt. Dritter Versuch: Wie heißen Sie?«
So langsam dämmert es mir. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich erinnere mich an rein gar nichts.
»Ähm«, mache ich.
»Nicht korrekt.«
Schlagartig werde ich müde. Es ist sogar ganz angenehm. Anscheinend hat mich der Computer über die Infusion betäubt.
»… haaaalt …«, murmle ich noch.
Die Roboterarme legen mich sachte auf das Bett.
Wieder wache ich auf. Einer der...
Erscheint lt. Verlag | 10.5.2021 |
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Übersetzer | Jürgen Langowski |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Project Hail Mary |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | Aliens • Der Marsianer • eBooks • Hard-SF • Raumfahrt • Romanverfilmung • Ryan Gosling • Ryland Grace • Science-fiction • Sci-fi • SciFi • The Martian |
ISBN-10 | 3-641-27283-1 / 3641272831 |
ISBN-13 | 978-3-641-27283-8 / 9783641272838 |
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