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Die nicht sterben (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
272 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-26382-9 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die nicht sterben - Dana Grigorcea
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Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2021, ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2022!
»Ihre Prosa ist wie mit dicken Pinselstrichen gemalt, draufgängerisch, genüsslich, üppig und humorvoll.« Anne-Catherine Simon, Die Presse

B. ist eine kleine Stadt in den Bergen, an der Grenze zu Transsilvanien. Eine junge, in Paris ausgebildete Künstlerin verbringt hier ihre Sommerferien in der Villa ihrer Großtante. Sie liebt die Natur, die bukolische Landschaft und das einfache Leben der Einheimischen. Was sie lange Zeit nicht wahrhaben will, sind die sozialen Abgründe, die Perspektivlosigkeit und die Verzweiflung ihrer Freunde. Das Unheil aber kommt mit dem Fund einer Leiche - übel zugerichtet vom Fürsten der Finsternis.

Schaurig, tiefgründig, archaisch: Ein atemberaubend atmosphärischer Roman über Rache und Extremismus und die Sehnsucht nach der starken Hand, nach einem gestrengen, grausamen Richter - wie Dracula.

Dana Grigorcea wurde 1979 in Bukarest geboren, sie ist Germanistin und Nederlandistin und lebt seit vielen Jahren mit ihrer Familie in Zürich. Die Werke der rumänisch-schweizerischen Schriftstellerin wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Ihr Roman »Die nicht sterben« wurde 2021 für den Deutschen Buchpreis nominiert und 2022 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Dana Grigorcea ist Trägerin des rumänischen Kulturverdienstordens im Rang einer Ritterin.

I

Johnny und sein Tod


Ich kann nicht umhin, diese Geschichte zu erzählen, zumal ich sie aus nächster Nähe erlebt habe und alle Berichterstattung darüber als falsch erkenne. Über die Gründe – Zeitmangel bei der Recherche, journalistische Inkompetenz, Sensationslust und, ganz offensichtlich, private Interessen – werde ich mich nicht länger auslassen, weil mich dabei eine Resignation befällt, die meinem Erzählen abträglich wäre. Auch werde ich den Ort, an dem sich alles abgespielt hat, einfach nur B. nennen – zum einen, weil ich seinen zweifelhaften Ruhm nicht zusätzlich befördern will, zum anderen, weil die Geschichte sinnbildlich ist für unsere walachische Moral, wenngleich sie sich freilich an vielen Orten auf der Welt hätte abspielen können.

Als Orientierung für diejenigen unter Ihnen, die von der Sache nichts mitbekommen haben, muss ich anführen, dass B. eine kleine Ortschaft in der Walachei ist, südlich von Transsilvanien gelegen, am Fuß der Karpaten. Die Bukarester und die Kronstädter, die hier Ferienhäuser besaßen, bezeichneten die Ortschaft schlicht als Dorf, die Einheimischen allerdings sprachen trotzig von einer Stadt, weil am Fluss früher eine große Weberei stand, in der viele Bauern zu Arbeitern umfunktioniert wurden; für die Meinen war B., ganz versöhnlich, ein wundervoller Kurort. Dieser Ort also – darüber immerhin ist man sich einig – wurde bis zu den Ereignissen, über die hier zu berichten sein wird, weder mit Dracula noch mit anderen Vampirgeschichten in Verbindung gebracht.

Vor der politischen Wende im Jahr 1989 konnte man hier in B. für die Ferien ganze Villen mieten. Wir haben stets dieselbe gewählt, jene am Waldrand. Die Villa Diana, nach der auch hier wohlbekannten Jagdgöttin benannt, war ein Haus wie eine Burg, allerdings unförmig geworden durch die vielen schlecht ausgeführten Umbauten im Laufe der Zeit. Sie verfügte über eine große Galerie mit halbhohen Säulen im ersten Stockwerk, wirkte insgesamt aber nüchtern, weiß angestrichen, wie sie war. Die Schatten der umliegenden Bäume zeichneten sich darauf ab, wenn sie im Wind hin und her streiften und sich, im Wechsel von Tages- und Mondlicht, bizarr um alle Ecken des Hauses bogen.

Wir reisten mit erweiterter Familie und Freunden in mehreren Autos aus der Hauptstadt an, beladen mit dem Haushalt meiner Großtante Margot: mit Bettbezügen, Kissen, silbernen Kerzenständern, dem großen Perserteppich für das Wohnzimmer, mit Ikonen, unzähligen orthodoxen Ikonen, einem großen Spiegel in silberner Fassung und allerlei türkischen Säbeln und arabischen Tellern für die hohen Wände.

Binnen eines Tages wurde die Villa leer geräumt vom unsäglichen Kommunistenkitsch, wie ihn Margot nannte. Sie empfand eine besondere Freude daran, einzelne Makramees mit spitzen Fingern hochzuhalten und uns allen zu zeigen, »Schaut euch mal das hier an«, sodass wir einstimmig riefen: »O nein, bitte nicht!«

»Aber schaut euch diesen Fischer-Bibelot mit dem Glasbarsch an der Schnur an«, und wieder sagten wir: »O nein, bitte nicht!«

Meine Mutter mahnte uns zur Vorsicht, wir sollten doch bitte nichts kaputt machen, schließlich wollten wir wieder herkommen dürfen, während sie alles vorsichtig in Holzkisten packte, den gerollten Wandteppich mit der Entführung aus dem Serail, das ausgestopfte Eichhörnchen, auch alle Lampen.

»Wollt ihr wirklich bei Kerzenlicht sitzen?«

»Ja, besser als im Licht solcher Lampen!«

Sie brachte alles in den Keller.

Möbelstücke, die Margot besonders missfielen, mussten in weiße Bezüge eingehüllt werden; man tat dann lachend so, als wären sie durch Zauberei unter dem Tuch verschwunden.

Zu guter Letzt und im Jubel der Freunde ging Margot mit einem Suppenlöffel herum, in dem Weihrauch schwelend brannte, damit die Geister der Basse-Classerie ausgeräuchert und zumindest für die Dauer unserer Ferien vertrieben würden.

Schließlich war alles so eingerichtet, dass Margot sich an die Villa ihres Vaters erinnert fühlte, also daran, wie es früher einmal hier ausgeschaut hatte, vor der Enteignung, die Margot damit rückgängig gemacht hatte für die Zeit unseres Aufenthalts.

Von den Millets und den kleinteiligen Glas-Bibelots befreit, wurde jetzt der Ibach-Flügel geöffnet, und wer sich aufs Klavierspielen verstand, durfte vortragen, den Radetzkymarsch oder eine possierliche Stelle aus den Rumänischen Rhapsodien, wobei die gellenden Töne des verstimmten Flügels uns im lauten Rufen und Akklamieren befeuerten.

Und dann saßen wir um den großen Tisch, auf Stühlen und Hockern, müde, aneinandergelehnt und wie erstarrt in unseren Gedanken – ein Bild in Chiaroscuro. Unwillkürlich kommt mir nun, da ich dies erinnere, Rembrandts Gemälde Die Anatomie des Dr. Tulp in den Sinn: eine für das anatomische Theater feierlich gekleidete Gesellschaft, die Blicke nachdenklich in alle Richtungen schweifend, auf dem Tisch aber, statt der obduzierten Leiche, ein Haufen Kekse, mehrheitlich Löffelbiskuits, die ich so mochte. Ich pflegte sie in rote Himbeerlimonade mit Sodawasser zu tunken, während die Umbra mortis abseits lauerte, hinter den Messingtellern an den hohen Wänden.

»Schau dich um, Liebes«, sagte Margot ergriffen, »es ist fast so wie früher.«

»So schön!«, sagte ich ihr zuliebe mit Inbrunst – vielleicht auch nur, um mir Mut zu machen. Denn ich meinte, im Augenwinkel so manches verhüllte Möbelstück kaum merklich von seinem neuen Platz abrücken zu sehen.

Am meisten schreckten mich das knarrende Parkett, ein dumpfes Knarzen unter dem Teppich und das widersinnige Verstummen dieses Knarzens, wenn wir uns fortbewegten.

Außerdem erinnere ich mich gut an die Kälte in der Villa, an den modrigen Geruch, an den süßlichen Weihrauch, der sich mit den Damenparfüms vermengte; auch daran, dass das Kerzenlicht durch einen Luftzug oder wegen der Possen unserer Gäste öfters ausging. Die Gäste waren beruhigend laut, sprachen und lachten ausgiebig, gingen überall im Haus umher, kochten nachts Tee und spielten Karten, bevor sie zu mitternächtlichen Spaziergängen aufbrachen, um bald zurückzukehren, in großem Gelächter und mit ostentativen »Pssst«-Rufen: »Pssst! Wir machen zu viel Lärm.«

»Zitti, zitti«, hob dann einer zu singen an, und die anderen konnten sich vor Lachen kaum noch halten.

Dieses »Zitti, zitti« ging auf die Anekdote eines unserer Gäste zurück, Geo, Bariton bei der Bukarester Oper. Geo hatte erzählt, wie man den Chorsängern für die nächtliche Entführungsszene in Rigoletto eine viel zu schwere Leiter über die Bühne zu tragen aufgab, sodass ihnen schon vor dem Singen der Atem ausging. Und als sie dann die leise Arie »Zitti, zitti, moviamo a vendetta« intonierten, mussten sie, verzweifelt, ihre letzten Kräfte aufbringen, worauf es nur so aus ihnen herausplatzte, schallend laut: »Zitti, zitti – still, still, schreiten wir zur Rache.« Das Publikum schreckte vom überlauten »still, still« auf und brach sogleich in Gelächter aus.

Ein bevorzugter Streich von Margot und unseren Gästen war es denn auch – neben dem Ausblasen der Kerzen –, sich aneinander heranzuschleichen und aus vollem Hals »Still, still, schreiten wir zur Rache« zu singen.

Und dann war da natürlich auch noch der Fluss, der sich hinter der Villa durch den Wald zog und gelegentlich rot eingefärbt war, der nahen Weberei wegen. Prompt streckte jemand auf der Galerie im ersten Stockwerk die Hand aus und rief mit bebender Stimme: »Und sehet, alles Wasser im Strom wurde in Blut verwandelt.«

Im Nachhinein muss ich sagen, dass wir uns zu jener Zeit gut amüsierten, unsere Gäste waren zu Scherzen aufgelegt und unentwegt dabei, einander zum Lachen zu bringen. Lachen schien ebenso Gäste- wie vornehme Gastgeberpflicht zu sein.

Vom Hof aus führte ein kleiner Pfad zu einem Tennisplatz, auf dessen rotem Sand wir sehr oft spielten; in meiner Erinnerung scheint auf diesem Platz immer die Sonne. Ich spielte mit hiesigen Freunden unserer Familie, es kamen auch Leute aus dem Ort hinzu. Wir übten uns im Doppel. Margot verpasste kein Spiel, immer ganz in Weiß, so wie sie auch mich kleidete. Damals besaßen wir Tennisschläger aus Holz, und jemand hatte mein schwarz lackiertes Racket am oberen Teil des Rahmens mit einem Leukoplaststreifen beklebt, damit das Holz nicht splitterte, wenn ich mit dem Schläger den Belag streifte. Ich höre noch dieses satte Ploppen des Tennisballs auf dem Racket, den verzögerten Rhythmus von Schlag und fernem Gegenschlag.

Den ganzen Sommer über und auch manche Wintertage lang blieb ich hier in B., gemeinsam mit meiner Großtante Margot, die, obwohl erst im Alter meiner Mutter, das altherrschaftliche Gehabe meiner Großmutter, ihrer Schwester aus Urgroßvaters erster Ehe, an den Tag legte. Ich nannte sie zeitweilig Mamargot.

Da ist in meinem Kopf noch immer dieses eine überbelichtete Bild von uns auf der Gartenbank vor der Villa: Mamargot hält den Kopf hoch, sodass die scharfe Linie ihres Kinns das Licht glatt vom Schatten trennt. Mit ihren weißen Händen umfasst sie meine Taille, wobei ich, vielleicht siebenjährig, fast schon mager und mit verzogener Miene zur Sonne schielend, mit ihren Ketten, Ringen und Ohrringen schwer behangen bin.

»Bei mir darfst du alles«, hatte mir Mamargot gesagt und mir einen konkreten Vorschlag gemacht, was ich mir an Kühnheit leisten könnte: »Selbst wenn du dir eine Augenbraue abrasieren wolltest, dürftest du das.« Ich soll mir dann tatsächlich die linke Augenbraue rasiert haben, mir fehlt aber...

Erscheint lt. Verlag 1.3.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Angst • Autokraten • autoritäre Politik • Blut • Diktatur • Dracula • eBooks • Emanzipation • Korruption • Longlist Deutscher Buchpreis 2021 • Nacht • Opferkult • Osteuropa • Rache • Selbstfindung • Sexualität • SWR Bestenliste • Traum • Vlad der Pfähler • Zwielicht
ISBN-10 3-641-26382-4 / 3641263824
ISBN-13 978-3-641-26382-9 / 9783641263829
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