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Eurotrash (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
224 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32125-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Eurotrash -  Christian Kracht
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Shortlist Deutscher Buchpreis 2021/ Schweizer Literaturpreis 2022 für im vergangenen Jahr erschienene literarische Werke. »I'll see you in twenty-five years.« Laura Palmer. »Also, ich musste wieder auf ein paar Tage nach Zürich. Es war ganz schrecklich. Aus Nervosität darüber hatte ich mich das gesamte verlängerte Wochenende über so unwohl gefühlt, dass ich unter starker Verstopfung litt. Dazu muss ich sagen, dass ich vor einem Vierteljahrhundert eine Geschichte geschrieben hatte, die ich aus irgendeinem Grund, der mir nun nicht mehr einfällt, ?Faserland? genannt hatte. Es endet in Zürich, sozusagen auf dem Zürichsee, relativ traumatisch.« Christian Krachts lange erwarteter neuer Roman beginnt mit einer Erinnerung: vor 25 Jahren irrte in »Faserland« ein namenloser Ich-Erzähler (war es Christian Kracht?) durch ein von allen Geistern verlassenes Deutschland, von Sylt bis über die Schweizer Grenze nach Zürich. In »Eurotrash« geht derselbe Erzähler erneut auf eine Reise - diesmal nicht nur ins Innere des eigenen Ichs, sondern in die Abgründe der eigenen Familie, deren Geschichte sich auf tragische, komische und bisweilen spektakuläre Weise immer wieder mit der Geschichte dieses Landes kreuzt. »Eurotrash« ist ein berührendes Meisterwerk von existentieller Wucht und sarkastischem Humor.

Christian Kracht, 1966 in der Schweiz geboren, zählt zu den modernen deutschsprachigen Schriftstellern. Seine Romane »Faserland«, »1979«, »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten«, »Imperium«, »Die Toten« und »Eurotrash« sind in über 30 Sprachen übersetzt. 

Christian Kracht, 1966 in der Schweiz geboren, zählt zu den modernen deutschsprachigen Schriftstellern. Seine Romane »Faserland«, »1979«, »Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten«, »Imperium«, »Die Toten« und »Eurotrash« sind in über 30 Sprachen übersetzt. 

Inhaltsverzeichnis

II.


Ich hatte immer gelebt in den Träumen, in den Gespenstern der Sprache. Nie habe ich verstanden, warum ich, als ich die Schweiz mit elf Jahren verlassen hatte, um ins kanadische Internat zu gehen, danach immer um die Welt ziehen mußte, meine Habe in Plastiktüten und Schalenkoffern dabei oder in verschiedenen Lagern irgendwo aufbewahrt. CDs, die man nicht mehr abhören konnte, da es keine CD-Spieler mehr gab. Schallplatten, die man nicht mehr auflegen konnte, da es keine Plattenspieler mehr gab. Bücher, die von Termiten und Feuchtigkeit zersetzt, und Kleidung, die unmodern und modrig geworden war.

Warum ich aus eigenem, aus gestörtem Antrieb heraus nach Bangkok und Florenz und Buenos Aires mußte, nach Kalifornien und Sri Lanka und Kenia und Indien und Kyoto, warum ich mal hier, mal dort jahrelang bleiben mußte, warum ich dort in der Ferne Häuser und Wohnungen mieten und kaufen mußte, warum ich ein Kind großzog, das sich erinnerte, Swahili verstanden zu haben, Italienisch verstanden zu haben, Hindi verstanden zu haben, Französisch verstanden zu haben, Schweizerdeutsch verstanden zu haben, Spanisch verstanden zu haben, und zwar das argentinische Kastilianisch verstanden zu haben, dieses weiche, kraftlose Spanisch mit den schsch- Lauten. Warum, ich wußte es nicht.

Ein Kind, das nicht nur seine Freude hatte am Italienischsprechen mit russischem Akzent, am Sächsischsprechen mit indischem Akzent, am Französischsprechen mit schottischem Akzent, sondern auch an den kaum noch wahrnehmbaren Farbverschiebungen der Sprache, am Hochdeutschen mit Basler Akzent, am Glaswegian mit Punjabi-Akzent, am Texanischen mit toskanischem Akzent, als sei in diesen Klangverästelungen, in diesen minimalen Veränderungen der Sprachmoleküle etwas aufzuspüren, zu erhorchen, das die Töne nach Wahrheit und Erdichtung separieren könnte, einordnen nach Original und Kopie.

Es war immer die Sprache selbst gewesen, die Befreiung und gleichzeitige Beherrschung der spastischen Zunge, es war das einzigartige Geheimnis gewesen, das in der korrekten Abfolge der Silben steckte. Und es war dann doch immer das Deutsch gewesen. Es war immer die deutsche Sprache gewesen. Es war immer die verbrannte Erde gewesen, das Leiden der geschundenen Erde selbst gewesen, der Krieg und die brennende Altstadt und die unfruchtbar gemachten Gemüsefelder davor, es war immer das mit dem Flammenwerfer gesäuberte Ghetto gewesen, es waren immer die taillierten hellgrauen Uniformen gewesen, die attraktiven Mundwinkelfalten an den mit Eiswürfeln gefüllten Rachen der flüsternden blonden Offiziere. Es waren immer die dunkelbraunen Mädchenhaare mit der seitlichen Spange oben links als Vorhang vor dem Gesicht gewesen, mit der Hand sanft zur Seite bewegt, es war immer die gelöschte Kerze in Amsterdam gewesen.

 

Ich lebte in der Vergangenheit, in den letzten fünfundzwanzig, fünfunddreißig Jahren, die sich ebenfalls so anfühlten, als seien sie nicht nur geschehen, sondern ewig präsent. Die Vergangenheit war immer viel realer und elastischer und präsenter als das Jetzt. Ich lebte in Filmen. Und ich lebte in den Kinos, ich schlief in den Kinos. Und die Kinos wurden geschlossen oder hinaus in die Einkaufszentren in den Einzugsgebieten der Stadt verlagert, die man begonnen hatte, Agglomerationen zu nennen. Dort, wo die Kinos gewesen waren, zogen Boutiquen ein, die Mäntel und Handtaschen und Schuhe verkauften, die niemand brauchte oder schön fand außer meiner Mutter, Sachen von Loro Piana etwa, oder karierte, wattierte Jacketts von Ferragamo oder Halbschuhe von Tod’s.

Die noch eingeschweißten Waren, die Pullover und Strickjacken und Decken und Bundfaltenhosen, die meine Mutter in diesen Boutiquen gekauft hatte, waren in die Schränke ihrer Wohnung gewandert, wurden gestapelt und verwahrt und sozusagen archiviert, und nie wieder angesehen lagen sie neben den Dutzenden Hermès-Handtaschen und den tatsächlich Hunderten von Ferragamo-Schuhen, die nie getragen wurden. Diejenigen Pelze, Zobel und Silberfuchs und dergleichen, die nicht von der Haushälterin gestohlen worden waren, wurden auf die fünf Lager verteilt, die meine Mutter in Zürich unterhielt, da es sich nicht mehr schickte, Pelze zu tragen, man sie aber auch nicht wegwerfen konnte, wie man ja auch überhaupt nichts wegwerfen konnte, da alles eine Geschichte hatte.

Selbst die niemals ausgepackten Kleidungsstücke, die man habe kaufen müssen aus einem Zwang heraus, waren ein Teil der Geschichte, waren ein Teil des Zwangs gewesen, der aus den Erfahrungen des Krieges und der Nachkriegsjahre heraus ausgelebt wurde. Es war, als ob die Geschichte sich selbst ihre eigenen Fetische herbeimaterialisiert hatte, die dann in der halbdunklen Sicherheit des Schranks meiner Mutter verschwanden. Verzauberte Objekte waren das geworden, deren Sinn für immer verloren gegangen war.

Was hatte meine Mutter wohl gesehen, als kleines Kind, in den letzten Kriegsjahren? Hatte sie gesehen, wie man Deserteure aufgehängt hatte, an Laternenpfählen, ein Pappschild um den Hals? Hatte sie gesehen, wie Körperteile aus den zerbombten Häusern hingen, deren Fronten wie Puppenhäuser nach vorne hin offenstanden? Hatte sie fehlende Wände gesehen, hatte sie in diese überdimensionalen Puppenstuben hineingesehen, hatte sie diese zerquetschten, von Fliegen und Maden besetzten Gliedmaßen gesehen, abgerissen von der Wucht der Bombenexplosionen, hatte sie geschmolzene Leiber gesehen und hingeschmetterte Menschenteile, westwärts ziehende Flüchtlingsströme, von tieffliegenden Kampfflugzeugen mit dem Bordmaschinengewehr zersägt, brennende Scheunen, brennende Weizenfelder, brennende Kirchen, was hatte sie nur mit eigenen Augen sehen müssen in der versehrten Wüstenei ihrer Kindheit?

 

Und warum nur hatte sich mein Vater immer dort Häuser gekauft, wo er sich Anschluß an eine Gesellschaft erhofft hatte, die ihn sonst niemals akzeptiert hätte? Er war nun ein Jahrzehnt tot, mein Vater. Die Wohnung in der Upper Brooks Street im Londoner Stadtteil Mayfair. Das Chalet des Aga Khan in Gstaad. Die Villa in Cap Ferrat, an der Klippe zwischen Somerset Maughams Haus gelegen und dem Anwesen des Königs von Belgien. Das Haus in Kampen auf Sylt. Das Haus in Sea Island, Georgia. Und schließlich das Château in Morges am Genfer See, in dem er gestorben war.

Ich erinnerte mich gerne an dieses Haus, an diese etwas kleinlaute Variante des Château Pregny der Rothschilds. Ich sah das verblichene Barock des van Dycks in der Eingangshalle, der dann zwischen zwei meiner Besuche aus der Vertäfelung entfernt worden war, herausgeschnitten wohl, aufgerollt und zu Sotheby’s geschickt. Es gab immer eine ganz direkte Verbindung zwischen Kunst und Geld, da hatte es nie auch nur den geringsten Zweifel gegeben, daß das zusammengehörte und eins war.

Ich sah die mit goldener Seide bezogenen Sofas im großen Salon, darauf, etwas am Rand sitzend, meinen Vater, im englischen hellgrauen Flanellanzug, schmale Schuhe am schmalen Fuß, ich sah seine listigen, eishellen Augen. Sein Blick ging weit über den Park, zum Genfer See hinüber nach Evian hin, auf die französischen Alpen, orangerot und versöhnlich im Abendlicht. Ich sah die Ausstattung seines Ankleidezimmers von Hermès, bis zur Decke ausgekleidet in hellbraunem und orangefarbenem Leder. Darin die Hunderten von dünnen Schubladen aus Teakholz, für jedes Oberhemd von Harvie & Hudson eine. Dann die beiden frühen, expressionistischen Gemälde von Lyonel Feininger, das eine hieß Jesuiten, das andere Die Zeitungsleser, im mit Mahagoni und Teakholz ausgeschlagenen Arbeitszimmer, über dem Schreibtisch. Die über Jahrzehnte angehäufte Sammlung Hunderter hauchzarter chinesischer Teedosen aus Porzellan, wie bei Chatwins Kaspar Utz, der an der unheilbaren Porzellankrankheit gelitten hatte. Warum das alles nur?

Ich wußte von dem Augenblick an, an dem ich ahnte, was das alles wert war, daß ich nicht nur niemals so würde leben können, sondern daß meine Kindheit und Jugend durchdrungen war von Angeberei und Übertreibung und Hochstapelei und Erniedrigung, von totem Gold.

Es war meines Vaters Angst vor der Provinzialität gewesen, vor der eigenen niedrigen Herkunft, die noch bis nach seinem Tode aus ihm herausstrahlte. Sein Vater war Taxifahrer gewesen, in Hamburg-Altona, mit allem, was das beinhaltet. Die abendlichen Kneipentouren, bei denen der kleine Junge mitziehen mußte, die alkoholisierten, dumpfen Schläge seines Vaters, die nachwilhelminische Erbarmungslosigkeit der Unterschicht. Dort wollte er niemals wieder hin zurück, koste es, was es wolle.

Und so tänzelte er nach dem Krieg in das Umfeld von Axel Springer hinein. Er traf die richtigen Leute und trug dabei die richtigen Anzüge, obwohl diese anfangs noch aus dem groben, kratzigen Stoff der Verdunkelungsdecken geschneidert waren. Er beeindruckte durch elegantes Auftreten und Ruchlosigkeit. Auf dem Schwarzmarkt besorgte er Springer, der von den Briten die Lizenz zum Zeitungsdrucken erhalten hatte, ganze Lastwagenkolonnen voller Papierrollen. Und es ging nach oben mit ihm, immer weiter, bis er des mächtigen Verlegers rechte Hand wurde.

Er hatte versucht, in England zu leben, ganz oben einzusteigen, in Maßanzügen von Davies & Son, dieselbe Firma in der Savile Row war das gewesen, die auch Axel Springers Kleidung schneiderte. Er hatte Maßschuhe von John Lobb mit leicht erhöhten Absätzen getragen, da er sehr unter seiner geringen Körpergröße litt, er war ein kleiner, schmaler Mann gewesen. Er hatte in den richtigen Londoner Klubs verkehrt, er hatte ausschließlich in den Stadtteilen Mayfair und Belgravia gewohnt, er hatte...

Erscheint lt. Verlag 4.3.2021
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1979 • Bestseller-Autor • BRD • Deutsche Geschichte • Deutscher Buchpreis 2021 • die Toten • Familie • Faserland • Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten • Imperium • Longlist Deutscher Buchpreis • Nominierung • Popkultur • Shortlist Deutscher Buchpreis 2021 • Zürich
ISBN-10 3-462-32125-0 / 3462321250
ISBN-13 978-3-462-32125-8 / 9783462321258
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