Carla Berling, unverbesserliche Ostwestfälin mit rheinländischem Temperament, lebt in Köln, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Mit der Krimi-Reihe um Ira Wittekind landete sie auf Anhieb einen Erfolg als Selfpublisherin. Mit »Der Alte muss weg« wechselte sie sehr erfolgreich in die humorvolle Unterhaltung. Unter dem Pseudonym Felicitas Fuchs schreibt sie darüber hinaus historische Familiengeschichten. Bevor sie Bücher schrieb, arbeitete Carla Berling jahrelang als Lokalreporterin und Pressefotografin. Sie tourt außerdem regelmäßig mit ihren Romanen durch große und kleine Städte.
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Als der Anruf kam, hockte ich in den Johannisbeeren. Mein Handy lag auf der Terrasse, und so musste ich mit knackenden Knien unter dem Netz hervorkriechen, das ich über die Buschreihe gespannt hatte, um die Vögel fernzuhalten. Nicht dass ich was gegen Vögel hatte, im Gegenteil, neben dem Blumengarten waren sie mein liebstes Hobby. Ich erkannte fast alle heimischen Singvogelarten am Zwitschern. Das hieß aber nicht, dass ich meine Johannisbeeren mit ihnen teilen wollte.
Als ich endlich beim Handy ankam, hatte der Anrufer aufgelegt. Gott sei Dank hatte ich kürzlich die Schriftgröße auf dem Display umgestellt (das ist der Beginn des körperlichen Niedergangs!) und konnte ohne Lesebrille erkennen, dass es Jonas gewesen war. Schon wieder?
Unser Sohn rief niemals an, wenn er keinen triftigen Grund hatte. Das letzte längere Telefonat war vor einem Jahr und drei Monaten gewesen. Immerhin hatte er uns damals mitgeteilt, wann Caro bestattet wurde. Wäre ja auch noch schöner gewesen, wenn er uns zur Beerdigung seiner Frau nur eine Karte geschickt hätte.
Wir waren nach Köln gefahren, hatten während der Trauerfeier abseits gestanden und mit niemandem groß geredet. Natürlich kondolierten wir Caros Eltern, und natürlich versuchte ich, unseren Sohn zu trösten. Was mir nicht gelingen konnte, denn ich hatte ihn zu dem Zeitpunkt seit drei Jahren nicht gesehen.
Den vierjährigen August hätte ich niemals wiedererkannt; er hatte mit dem pummeligen Kleinkind aus meiner Erinnerung keinerlei Ähnlichkeit. Er stand mit gesenktem Kopf neben Jonas und hielt seine Hand. Nach dem Beerdigungs-Kaffeetrinken hatte ich kurz Gelegenheit, mit dem Kleinen zu reden. »Du bist Papas Mama«, sagte August, und bevor ich überhaupt antworten konnte, »Meine Mama ist mein Schutzengel.« Er blickte zum wolkenlosen Himmel und zuckte mit den Schultern. »Schade, jetzt sind da keine Wolken. Mama wohnt im Himmel auf einer Wolke und passt auf mich auf.«
Ich fand ihn entzückend, er war gut erzogen und ausgesprochen hübsch, die blonden Locken waren für einen Jungen viel zu lang, aber es stand ihm.
Nach der Beerdigung seiner Mutter hielt ich es für unangemessen, ihm zu nahezukommen, schließlich war ich für ihn eine fremde Person und wollte mich nicht aufdrängen. Aber ehrlich gesagt, war ich total unsicher und wusste auch gar nicht, wie ich mit ihm hätte umgehen sollen. Zwar war er mein einziges Enkelkind, aber durch die besonderen Umstände, die den Umgangston in unserer Familie bestimmten, musste ich verhindern, mich gefühlsmäßig an den Kleinen zu binden. Damit war ich immer gut gefahren, denn wenn man den eigenen Enkel nicht kennt, weil man ihn nur zweimal in vier Jahren gesehen hat, ist eine emotionale Bindung eher ungünstig. Was mir beim letzten Treffen sehr schwerfiel, zugegeben, denn er war ein toller kleiner Kerl.
Und nun das.
Ich rief Jonas sofort zurück. »Hier ist Mama, entschuldige, ich war nicht schnell genug, das Handy lag auf der Terrasse, und ich war in den Johannisbeeren, sie sind wieder ganz pünktlich, als wüssten die Pflanzen, dass sie um den Johannistag herum reif zu sein haben … Wusstest du, dass sie daher ihren Namen haben? Es hängen so viele an den Sträuchern, die müssen bald runter, sonst werden sie faul. Ich werde sie einfrieren, Marmelade kochen lohnt sich für uns beide nicht, Papa isst ja keine Marmelade …«
Wie immer, wenn ich eins der äußerst seltenen Gespräche mit meinem Sohn führte, sabbelte ich mich um Kopf und Kragen. Vielleicht hatte ich Angst, dass er wieder zu früh auflegte oder wir sekundenlang in die Hörer schweigen würden, weil wir uns eigentlich nichts zu sagen hatten.
Aber dieses Mal war es anders. Jonas begann sofort zu reden, als ich schwieg, um Luft zu holen.
»Mama, ich habe eine große Bitte.«
Oha.
Das hatte er noch nie gesagt.
Als er hinzufügte: »Ich brauche eure Hilfe, und es ist leider keine Kleinigkeit!«, begann mein Herz laut zu wummern. Auch das hatte er noch nie gesagt.
Er braucht uns, jubilierte ich innerlich. Tausend Gedanken dachte ich in einer Sekunde, überlegte blitzschnell, ob es vielleicht um Geld ging und wenn, um wie viel und wofür, oder ob er, um Gottes willen, krank war. Oder ob er sogar nach Hause zurückkommen wollte, jetzt, wo Caro nicht mehr da und das Trauerjahr längst um war, und ob er August mitbringen würde.
»Meine Direktion schickt mich nach London, als Risikomanager. Für sechs Monate. Ich muss das machen, es ist wichtig für meine Karriere.«
Ach so. Na ja.
Ob mein Sohn in Köln wohnte und wir uns nie sahen, oder ob er in London wohnte und wir uns nie sahen, machte für mich keinen Unterschied.
Lahm sagte ich: »Schön. Gratuliere. Ein toller Erfolg für dich, Jonas, ich bin stolz auf dich. Es wird auch für August ein großer Schritt sein, zweisprachig aufzuwachsen ist heutzutage wichtiger denn je.«
Ich hörte Jonas schlucken. »Um August geht es.«
Er machte eine Pause, die ich aushielt, weil ich einatmete, aber nicht ausatmete.
»August kann leider nicht mit, ich bin doch den ganzen Tag in der Bank, wie soll ich das machen. Es gibt natürlich in London Ganztagsbetreuung für Sechsjährige, aber nach allem, was der Kleine schon mitgemacht hat, will ich ihn nicht aus seinem Zuhause und seinem Umfeld reißen. Er hat sich gerade ein wenig von allem erholt …«
Ich fiel ihm ins Wort. »Wie hast du das denn bis jetzt geregelt? Ist er nicht im Kindergarten?«
»Doch, wir haben ein Au-pair-Mädchen, das ihn morgens hinbringt und nachmittags abholt, aber sie geht zurück nach Amerika. Caros Mutter war nach der Beerdigung ein paar Wochen hier. Aber das war keine Dauerlösung, sie musste wieder in ihre Pension am Tegernsee. Augusts Großeltern sind ja erst Mitte fünfzig und stehen noch mitten im Berufsleben.«
Eifersucht bohrte sich wie eine heiße Nadel in mein Gehirn. Erstens, weil wir ja wohl auch Augusts Großeltern und sogar noch ein bisschen jünger waren. Und zweitens, weil Caros Eltern immer Kontakt zu ihrer Tochter und somit auch zu meinem Sohn und meinem Enkel gehabt hatten. Sie waren mehrmals im Jahr in Köln gewesen, sie hatten August aufwachsen sehen und sie wussten, wie mein Sohn lebte. Sie wussten mehr über mein eigenes Kind als ich. Dieser Gedanke war immer der, bei dem mir sofort die Tränen kamen.
Aber dann sagte Jonas: »Mama, jetzt, wo die Firma verkauft ist … Papa und du, ihr habt doch Zeit … ich meine … ihr seid doch eh zu Hause … ihr müsst nicht mehr arbeiten …«
Er begann tatsächlich zu stammeln, und ich genoss diesen langen Moment, in dem ausnahmsweise mal ich Oberwasser hatte und nicht um seine Aufmerksamkeit und seine Zeit buhlen musste.
»Ja, und?«, fragte ich freundlich.
»Ich wollte fragen, ich meine, ich wollte euch bitten … also, ist es vielleicht möglich, dass ihr … also könnt ihr … geht es, dass ihr für eine Weile in mein Haus zieht und euch um August kümmert? Er kommt nach den Ferien in die Schule, dann ist er den halben Tag aus dem Haus …«
Ja!, wollte ich jubeln, Ja, mein Sohn, danke, danke, danke! Endlich, du brauchst deine Eltern wieder, du brauchst deine Mama. Ich bin für dich da, mein Junge, egal, was zwischen uns war, ich komme, wir kommen, Papa und ich, wir lassen dich nicht im Stich! Vielleicht wird jetzt endlich alles wieder gut …
Aber ich hatte mit den Jahren gelernt, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Also sagte ich mit ruhiger Stimme: »Selbstverständlich, Jonas. Du kannst dich natürlich auf uns verlassen. Ich bespreche alles mit Papa. Wir müssen hier ein paar Dinge regeln, und dann wird das schon. Wann brauchst du uns?«
»Nächste Woche.«
Nächste Woche?! Na, der hatte Nerven.
Nachdem wir aufgelegt hatten, hielt ich das Handy noch eine ganze Weile in der Hand und starrte es an, als könne es mir anzeigen, warum ich eben so und nicht anders reagiert hatte.
Thilo wuselte in seiner Werkstatt herum. Obwohl wir über fünfundzwanzig Jahre lang mit einer Bautischlerei selbstständig gewesen waren, hatte Thilo auch in seiner Freizeit immer irgendwas »zu frickeln«. Seit wir privatisierten (ich wehrte mich gegen das Wort »Frührente«, denn mit Mitte fünfzig fühlte ich mich weiß Gott nicht als Rentnerin), verbrachte Thilo ungezählte Stunden in der Werkstatt. In letzter Zeit tischlerte er Vogelhäuschen und Nistkästen, die reißenden Absatz fanden. Das Modell »Kölner Dom« war das beliebteste. Ich unterstützte ihn – zumindest mental – bei seiner Arbeit. Immerhin hatte er mit seinen Vogelbauten verschiedene Meisenarten, Spatzen, Schwalben, Stare und Trauerschnäpper in unseren Garten gelockt.
Der Garten … er war der Ersatz für meine Arbeit, die ich vermisste. Heimlich hatte ich sogar neulich Stellenangebote studiert, aber nirgends wurde eine erfahrene Buchhalterin gesucht.
Als ich in der Tür zur Werkstatt stand, ließ Thilo sofort seine Zigarette unter dem Turnschuh verschwinden und trat sie auffällig unauffällig aus – offenbar hatte er mich dieses Mal nicht kommen sehen. Er hatte nicht mal gehört, dass ich an den Rahmen der offenen Tür geklopft hatte.
Kein Wunder, es lief Musik, Queen, Don’t stop me now, so laut, dass ich zuerst zu dem alten Ghettoblaster lief, um den Ton abzudrehen. »Das ist zu laut!«, schimpfte ich. Er lachte mich aus. »Ist es zu laut, bist du zu alt!«, sagte er und duckte sich, weil ich eine drohende...
Erscheint lt. Verlag | 13.9.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Der Alte muss weg • eBooks • Fünfzig plus • Humor • Klammerblues um 12 • Köln • Komödie • lustig • lustige • Roman • Romane |
ISBN-10 | 3-641-26411-1 / 3641264111 |
ISBN-13 | 978-3-641-26411-6 / 9783641264116 |
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