Das Leben leuchtet sonnengelb (eBook)
560 Seiten
Blanvalet Taschenbuch Verlag
978-3-641-24362-3 (ISBN)
Die dreißigjährige Carli weiß nicht weiter: Das Architekturstudium ist nichts für sie, ihr Zimmer in einer Marburger Zweck-WG ebenso wenig, und ihr Job im Café erfüllt sie nicht. Einziger Lichtblick: ihre beste Freundin Fritzi. Und dann ist da noch Stammgast Fabrizio. Der italienische Herr erinnert Carli an ihre eigene mediterrane Herkunft, zu der sie jedoch kaum noch Bezug hat. Als Fabrizio eines Tages nicht mehr auftaucht, und Carli kurz darauf zu seiner Testamentseröffnung geladen wird, ändert sich schlagartig alles für sie: Denn Fabrizio hat ihr eine kleine Spielzeugwerkstatt in Florenz vermacht. Völlig überrumpelt reist Carli ins Herz der Toskana und entdeckt dort - inmitten verwinkelter Gässchen und italienischer Köstlichkeiten - nicht nur ihre Liebe für das Land neu, sondern stößt dabei auch auf einen alten Brief ...
Pauline Mai, 1987 geboren, wuchs am Tegeler See in Berlin auf. Sie studierte Literaturwissenschaft und lernte auf Reisen durch Südfrankreich und Italien die herzliche Lebensart der Menschen, die malerischen Landschaften sowie das köstliche mediterrane Essen lieben. Heute lebt die Autorin zwar wieder in Berlin, das Fernweh ist ihr aber immer noch geblieben - wie auch der Wunsch, die besondere Atmosphäre dieser Sehnsuchtsorte mit ihren Lesern zu teilen.
1
Ich hätte die Espressomaschine im Schlaf bedienen können. Wirklich, würde mein Mitbewohner mich nachts wecken und rufen: »Carli, ein Notfall, Angela Merkel steht im Café und braucht sofort einen Cappuccino, sonst bricht der nächste Weltkrieg aus!«, ich wäre, noch träumend, zur Kaffeemaschine gewankt, hätte nach dem Kännchen gegriffen und die kühle Milch perfekt aufgeschäumt, das Kaffeesieb gefüllt, es eingedreht und den richtigen Knopf gedrückt. Und mit Sicherheit hätte ich auch noch ein hübsches Blättchen in die Milchhaube gezaubert – oder ein Herz, was bei einem drohenden Krieg vielleicht die passendere Botschaft senden würde.
Wenn man in einem Café groß geworden war, dort unzählige Nachmittage verbracht und die Großeltern genau im Blick gehabt hatte, mit ihren an der Kaffeemaschine werkelnden Händen, wie sie einen perfekt geschichteten Latte macchiato zauberten oder einen sahneliebenden Gast mit ihrem samtigen Milchschaum zum Milchcappuccino-Trinker konvertierten, wenn man schon mit fünf seine erste Sucht entwickelt hatte nach der wohl besten heißen Schokolade der Welt – dann hatte man vermutlich keine andere Chance, als irgendwann selbst das Jucken in den Fingern zu verspüren und sich an die silbern glänzende Maschine zu wagen. Mit zwölf durfte ich es zum ersten Mal versuchen, mit sechzehn hatte ich einen Schülerjob im Café. Vierzehn Jahre und ein abgebrochenes Studium später stand ich nun wieder hier. Was sich seither an mir verändert hatte, mal abgesehen von der Verschiebung meiner Sucht von heißer Schokolade hin zu Caffè Latte? Das war genau die Frage, die mir tagtäglich beim Aufwachen wie eine nervige Motte durch den Kopf flirrte und schleunigst von mir weggepustet wurde, mal mehr, mal weniger erfolgreich.
Fritzi, mit der ich mir die Schicht teilte, kam hinter die Theke gelaufen und stieß mich mit dem Ellbogen an, wobei sie beinahe meinen kostbaren ersten Kaffee des Tages verschüttete.
»Carli, dein Freund ist da.«
Ich verzog den Mund, sodass nur Fritzi es sehen konnte, als die vertraute Gestalt langsam durch die Tür des Cafés hereinschlurfte.
»Johan, machst du mir ein Croissant mit Marmelade fertig?«, rief ich durch die Öffnung der Durchreiche in die Küche und erhielt ein Grunzen zur Antwort. Auch in der Küche war wohl dringender Kaffeenachschub gefragt. Johan kochte besser als jeder andere, den ich kannte, selbst besser als Nonna, meine italienische Großmutter, und das hieß einiges. Allerdings litt er unter andauernder Grummeligkeit, die nur durch eine ausgewogene Kaffeeinfusion gemäßigt werden konnte.
Ich ließ also gleich zwei Espressi durch die Maschine laufen. Während sie ihren Dienst tat, drehte ich mich zum Gastraum um und ließ den Blick von Tisch zu Tisch wandern. Alles hier war in gedeckte Farben getaucht und hob sich darin von den luftigen, hellen Hipstercafés ab, die neuerdings überall aus dem Boden schossen. Doch auch wenn unser Café damit eher die ältere Schicht von Marburg anziehen mochte, verströmten die Wände mit ihren dunkelgrün geblümten Tapeten, die Möbel in tiefem Eichenbraun und das glänzende, wenn auch schon mitgenommen ächzende Holzparkett die Gemütlichkeit eines eingelebten Wohnzimmers. Die Deckenlampen aus Messing unter den grünen Schirmen waren eingeschaltet, sie tauchten die dunklen Möbel in warmes Licht und ließen dem Grau von draußen keinen Schlupfwinkel. Unterstützt wurden sie von den weißen Kerzen, die auf jedem der Tische in bronzenen Haltern brannten. Hinter den Fenstern zeigte sich das Marburger Wetter über dem Marktplatz wieder einmal von seiner unschönen Seite, was die Behaglichkeit hier drin jedoch nur verstärkte. Der Regen prasselte im regelmäßigen Rhythmus gegen die Scheiben, das Wasser lief in kleinen Bächen daran herab. Heute brauchte man eigentlich kein Buch und keine Zeitung, wenn man zu einem Kaffee und einem Stück Kuchen ins Café kam: Allein dieses kleine Naturschauspiel ließe sich ewig beobachten, ohne dass man sich langweilte.
Zwischen den Tischen wuselte Fritzi mit ihren langen blonden Haaren, die in einen Pferdeschwanz zurückgebunden waren, und der etwas zu eng sitzenden Schürze umher, nahm da einen Teller vom Tisch und dort eine neue Bestellung auf. Seitdem ich sie vor einem Jahr bei der Arbeit hier im Café kennengelernt hatte, waren wir zu besten Freundinnen geworden. Fritzi war ein paar Jahre jünger als ich und studierte Kulturwissenschaften, allerdings mit wenig Leidenschaft. Lieber verbrachte sie ihre Zeit mit dem Marburger Nachtleben und Dating-Apps. Wir waren uns nicht wirklich ähnlich, und vielleicht war es gerade das, was uns miteinander verband. In Gesprächen balancierten wir uns aus: Sie brachte die Leichtigkeit ein, die mir manchmal fehlte, während ich hin und wieder für die nötige Portion Realismus sorgte.
Das zischende Geräusch hinter mir versiegte, und ein intensives Kaffee-Aroma breitete sich aus, vermischte sich mit dem Duft nach frischen Croissants und dem ewig währenden Geruch nach altem Holz. Ich nahm die beiden dampfenden Tässchen und stellte Johan eines davon auf die Theke der Durchreiche. Ich suchte seinen Blick und fuchtelte wortlos mit beiden Zeigefingern zwischen ihm und der Tasse hin und her. Das entlockte ihm ein winziges Zucken der Mundwinkel, und mehr erhoffte ich mir ja gar nicht. Schon hatte ich mir die zweite Tasse und den Teller mit dem Croissant geschnappt und war auf dem Weg zu dem kleinen runden Tisch in der Ecke neben dem Zeitungsständer.
»Buongiorno«, sagte ich fröhlich, ohne eine Antwort zu erwarten, und stellte beides vor dem älteren Mann ab, der zum Dank nur nickte. Ganz, ganz selten, an wirklich guten Tagen, war ihm vielleicht mal ein gemurmelter Gruß auf Italienisch oder Deutsch zu entlocken, aber heute war wohl wieder mal keiner dieser Tage. Er war in etwa so alt, wie mein Großvater es wäre, lebte er noch. Und auch sonst erinnerten mich die Züge des Mannes ein wenig an ihn, nur dass mein Nonno so viel öfter gelächelt hatte. Seine trüben, rot geränderten Augen, die meist etwas verloren aus dem faltigen Gesicht hervorblickten, schafften nicht einmal einen Blick zu mir empor. Zu schwer schienen die einst schwarzen, nun grau melierten Augenbrauen zu wiegen. Er griff stattdessen nach der regionalen Zeitung, die Fritzi heute Morgen frisch auf den Bügel gezogen hatte, und vergrub das Gesicht dahinter. Nur die wenigen letzten Haarzipfel, die von seinem immer kahler werdenden Kopf abstanden, waren noch zu sehen. Ein wenig mitleidig betrachtete ich ihn noch einige Sekunden und biss mir auf die Lippe. Vielleicht war es Unsinn, aber ich meinte mittlerweile die Abstufungen seiner Traurigkeit unterscheiden zu können, schließlich hatte ich ihn an beinahe jedem Tag des letzten Jahres gesehen – und bedient, denn Fritzi schickte mich gern zu ihm, indem sie auf unsere »Gemeinsamkeit«, unsere italienischen Wurzeln, verwies. Jedoch schien nur sie das so zu sehen, denn der Mann war nicht erpicht auf Kontakt, weder zu mir noch zu sonst jemandem. Heute schien mir ein besonders übler Tag zu sein. Doch bevor ich weiter darüber nachsinnen oder ihn gar ansprechen konnte, wurde ich von zwei älteren Damen abgelenkt, die mich zu sich winkten.
Auf dem Weg zu ihrem Tisch streifte mein Blick das eingerahmte Foto über der Theke. Es zeigte ebendiese Theke, als sie noch den Glanz von frisch bearbeitetem, glänzendem Holz besessen hatte, und dahinter standen meine Großeltern. Sie waren jung, vielleicht Ende dreißig, ihr Haar hatte noch die stolze schwarze Farbe, ihr Teint war glatt und ihr Lächeln strahlend. Das Foto musste bei der Eröffnung des Cafés geschossen worden sein. Gut zehn Jahre zuvor waren sie als italienische Gastarbeiter nach Hessen gekommen, um in einer Pralinenfabrik zu arbeiten. Sie waren in Deutschland geblieben, hatten hier ihren Sohn – meinen Vater – großgezogen und schließlich ein eigenes Café eröffnet. Warum der neue Besitzer das Foto nicht abgenommen hatte, fragte ich mich immer wieder, ohne bei seiner ständigen Abwesenheit die Chance zu bekommen, ihm diese Frage zu stellen. Vielleicht meinte er ja, es trüge dazu bei, den nostalgischen Charme des Cafés und ein Gefühl von Authentizität zu erhalten. Ich mochte das Bild und fand es schön, es jeden Tag zu sehen, es erinnerte mich an die Nachmittage, an denen ich als Kind oft nach der Schule hier am Tisch gesessen hatte, während meine Eltern noch gearbeitet hatten. Dort hatte ich Stunden verbracht, in meine Hausaufgaben vertieft, puzzelnd oder lesend. Ich blickte mich um, das Café schien noch immer ein aus der Zeit gefallener Ort zu sein. Und doch hatte es an Leben eingebüßt, als meine Großeltern aus seinen Räumen verschwunden waren. Sie waren das Herz des Cafés gewesen, hatten die Stammgäste wohl mehr noch durch sich selbst als nur durch ihren guten Espresso und die sündigen Torten angezogen. Ihr Tod und der Verkauf an den neuen Eigentümer vor zwei Jahren hatte nicht das äußere Erscheinungsbild verändert, wohl aber die Seele des Cafés angekratzt. Von den damaligen Stammgästen kamen wenige noch so regelmäßig wie einst. Den neuen Besitzer sah man so gut wie nie in diesen Räumen. Und dass ich als Nachfahrin der Gründer nun hier arbeitete, war wohl kaum eine günstige Fügung, sondern mehr ein ironisch düsterer Schlag des Schicksals, den Alanis Morissette besingen könnte.
»Hallo, junge Frau!«
Ich sammelte mich und blickte auf zwei ungeduldige Augenpaare.
»Ähm, wie war das, bitte?« Schnell blätterte ich eine Seite des Blocks um. Die beiden Damen wechselten einen vielsagenden Blick.
»Wir nehmen einmal das große Frühstück für zwei, zwei Latte macchiato und einen Orangensaft. Bitte.« Das letzte Wort wurde...
Erscheint lt. Verlag | 19.4.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Alte Liebe • Auszeit • Brief • Das Glück ist lavendelblau • eBooks • Familie • Feel-Good-Roman • Florenz • Frauenromane • Frauenunterhaltung Neuerscheinung 2021 • Geheimnis • Große Gefühle • Italien • italienisches Kochbuch • Katharina Herzog • kleine geschenke für frauen • Kochbuch • Kochbücher • Kochen • Lebensentscheidungen • Liebesromane • Liebesroman Neuerscheinungen 2021 • Mediterrane Küche • Meike Werkmeister • Neuanfang • Reisen • Romane für Frauen • Sehnsuchtsort • Sommerlektüre • Toskana • Urlaubslektüre • Wohlfühlbuch |
ISBN-10 | 3-641-24362-9 / 3641243629 |
ISBN-13 | 978-3-641-24362-3 / 9783641243623 |
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