Der verlorene Sommer (eBook)
192 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-27360-6 (ISBN)
Mit unerschütterlichem Humor blickt Wladimir Kaminer auf die Monate, die unser Leben veränderten.
Frühjahr 2020. Die Menschen erwachten aus dem Winterschlaf, blinzelten in die Sonne und ahnten nicht, was auf sie zukam. Im fernen China hatte angeblich ein erkältetes Gürteltier auf eine kranke Fledermaus geniest - ein Virus war geboren, das die Welt lahmlegte. Doch es konnte weder der Neugier noch dem Humor von Wladimir Kaminer etwas anhaben. Trotz Lockdown, Mundschutz und Fassbier-Verbot fand er überall Geschichten, die bewiesen: Das Leben ging weiter! Wenn auch jeden Tag ein bisschen anders als zuvor. Mit Witz und Herz beobachtete er den Alltag von uns Coronauten und die allmähliche Veränderung unserer Realität ...
Wladimir Kaminer und sein Blick auf die Corona-Welt.
Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Mit seiner Erzählsammlung »Russendisko« sowie zahlreichen weiteren Bestsellern avancierte er zu einem der beliebtesten und gefragtesten Autoren Deutschlands.
Kapitel 1
Freitag, der 13.
»Bus und der Busfahrer sind desinfiziert. Bitte halten Sie den Sicherheitsabstand ein, und steigen Sie durch die hintere Tür in den Bus ein.« Mit diesem großen roten Zettel war die Busfahrertür von außen versiegelt, der Fahrersitz war mit rot-weiß gestreiften Absperrbändern gesichert. Ich stieg durch die hintere Tür ein und wollte den Busfahrer nach einer Fahrkarte fragen. »Nach hinten gehen, dü hascht nich gelese!«, pöbelte er mich an. Man konnte zum Glück nicht wirklich verstehen, welche Wünsche er in seine Atemschutzmaske spuckte. Ich nickte, wünschte ihm in Gedanken ebenfalls einen schönen Coronadurchfallstrahl zu Ostern und setzte mich nach hinten.
Es war also kein Witz. Auch hier in Baden-Baden hatte die Panik zumindest die Verkehrsbetriebe erreicht. Aufgrund der Corona-Pandemie waren schon mehrere meiner Veranstaltungen ausgefallen, denn die Bundesregierung und das ganze Land hatten nur noch eins im Sinn: die Infektionsketten unterbrechen. Mit meinen Lesungen und der Russendisko war ich zweifelsohne Teil dieser Kette und musste dringend unterbrochen werden. Eine Woche zuvor waren bereits Großveranstaltungen ab tausend Teilnehmern untersagt worden, am Montag darauf hieß es, auch Veranstaltungen ab hundert Teilnehmern seien eine große Gefahr für die Menschen. Es gehe um Leben und Tod jedes Einzelnen von uns, hatte der Finanzminister gesagt und alle Bürgerinnen und Bürger aufgefordert, ihre Wohnungen nicht mehr zu verlassen.
Alle Kultur- und Kunstorte wurden als mögliche Beschleuniger der Seuchenverbreitung eingestuft und geschlossen. Den ganzen Vormittag riefen mich die Verantwortlichen von Theatern, Clubs und Volkshochschulen an, wo demnächst eine Lesung oder eine Disko geplant war, und baten um Ersatztermine für den Herbst. Zwischen September und Januar wollten sie das Programm wieder aufnehmen. Bis dahin wäre die Sache mit dem Virus vorbei, so war die allgemeine Stimmung.
Auf einmal war ich arbeitslos, denn nur die wenigsten Veranstalter hielten an ihrem Programm fest. Die Sparkasse in Annaberg-Buchholz wollte allerdings trotz schlechter Nachrichten unbedingt den Internationalen Frauentag für ihre weiblichen Kunden nachfeiern, und auch das Casino Baden-Baden zeigte sich nicht bereit, auf meinen Auftritt zu verzichten.
»Sie sind unser letzter Gast«, erklärte mir eine Öffentlichkeitsbeauftragte des Casinos, Frau Hase. »Danach möchten auch wir eine Pause machen. Als Casino müssen wir ganz besonders auf unser Image achten. Es geht ja nicht, dass alle Festspielhäuser und Konzerthallen schließen, das Casino aber weitermacht, als wäre nichts passiert. Wir wollen nicht als einzige Quelle der Seuche in der Öffentlichkeit dastehen und schließen deswegen morgen. Heute aber freuen wir uns sehr auf Ihre Lesung!«
Ich freute mich auch auf den Abend, obwohl der lange Weg von Annaberg-Buchholz nach Baden-Baden durch ein verängstigtes und verseuchtes Deutschland mir die letzte Kraft raubte. Dazu kam dann noch der pöbelnde Busfahrer mit Atemmaske. Im Bus saßen drei Menschen und ich mit größtmöglichem Abstand voneinander entfernt. Dummerweise war ich erkältet und konnte meinen Husten nicht verbergen. Jedes Mal, wenn ich hustete, blickten die anderen Passagiere in meine Richtung wie gejagte, in die Ecke getriebene und vom Tod bedrohte Tiere.
Der Tod war derzeit überall. Er lauerte an jeder Ecke, unsichtbar, tückisch, allgegenwärtig. Das Virus konnte ersten Berichten zufolge ohne menschlichen Wirt bis zu drei Tage auf allen Oberflächen überleben. Es konnte auf jeder Türklinke, jedem Sitz, jeder Klobrille sein Unwesen treiben und innerhalb einer Sekunde der Entspannung, wenn du auf der Toilette gerade deinen Schutzanzug heruntergelassen hast, in dich eindringen.
Je schärfer die Passagiere mich anschauten, umso mehr musste ich husten. Ich glaube, es handelt sich hier um ein psychisches Phänomen. Jedenfalls hustete und hustete ich, bis ich ausstieg. Vor dem Hotel traf ich den Casino-Direktor mit seiner schönen russischen Frau Natascha. Er hustete auch, das beruhigte mich etwas.
»Wir werden wahrscheinlich ab Montag keine weiteren Veranstaltungen abhalten können, aber das heute Abend ziehen wir durch«, lächelte mich der Direktor an. Er selbst könne allerdings nicht kommen. Er sei leider verschnupft, meinte seine Frau. Sie wären gerade beim Arzt gewesen, und der Direktor habe sich krankschreiben lassen. In diesen Zeiten der allgemeinen Verunsicherung wollte er seinen Mitarbeitern nicht zumuten, einen kränkelnden, hustenden Direktor vor Augen zu haben. Sie wünschten mir viel Erfolg.
Im Hotel versuchte ich, mich mental auf den Abend vorzubereiten. Eine Stunde vor Beginn kam dann die Nachricht: Das Casino schloss mit sofortiger Wirkung den gesamten Spielbetrieb, inklusive Bars und Restaurants.
»Das ist leider nicht zu ändern, Wladimir«, meinte Frau Hase. Sie wollte am Abend jedem einzelnen der 200 Gäste sein Geld persönlich zurückgeben und sich entschuldigen. »Das wird kein Spaß«, meinte sie am Telefon, »aber lass uns trotzdem danach ins Rizzi essen gehen.«
Wir verabredeten uns für halb zehn. Zum Glück waren die Restaurants noch nicht geschlossen, aber keiner wusste wie lange noch. Abends saßen wir wie jedes Jahr mit der Buchhändlerin Marion, der Öffentlichkeitsbeauftragten Frau Hase und Arnold, dem Chef der sozialpädagogischen Abteilung, zusammen. Wieso hatte ein Spielcasino überhaupt eine sozialpädagogische Abteilung? Es ging dabei um die Gesundheit der Spieler – psychisch und physisch. Spieler sind wie die Katzen. Sie verdrängen oft ihr Leiden, tun so, als seien sie fit und munter, und offenbaren sich erst, wenn es für Hilfe bereits zu spät ist. Die sozialpädagogische Abteilung baue auf Vorsorge und Prävention, auf gut Deutsch: Verhütung.
In der Regel sieht ein Casinobesucher adrett und gesund aus. Er ist ordentlich gekämmt, sauber rasiert und angezogen, grüßt das Personal, spielt meistens an einem Tisch, schaut konzentriert aufs Roulette und freut sich, wenn jemand in seiner Nähe gewinnt. Manchmal aber kommt ein Spieler ungekämmt und unrasiert herein. Er zappelt, schimpft, grüßt die Angestellten nicht und springt wie ein wilder Ziegenbock von Spieltisch zu Spieltisch. In diesem Fall macht der Leiter der sozialpädagogischen Abteilung ein Kreuz auf seiner Liste und wartet auf den Anruf von Familienangehörigen. In der Regel kommt dieser Anruf innerhalb von 24 Stunden. Sohn, Tochter oder Ehefrau des Betroffenen klagen, ihr Vater oder Ehemann sei in letzter Zeit kaum wiederzuerkennen. Er sei verzweifelt, habe Selbstmordfantasien, laufe Amok und sei anscheinend fest entschlossen, sein ganzes Vermögen nicht seinen Angehörigen, sondern dem Casino zu überlassen. Dabei hätten die Ehefrau und die Kinder fest mit dem Geld gerechnet, um damit ihr Leben als reiche Schmarotzer abzusichern. Sie bitten daher die sozialpädagogische Abteilung, dem Spieler mindestens vorübergehend Casino-Verbot zu erteilen, damit er ein wenig Zeit habe, wieder zu sich zu kommen.
Es sind oft komplizierte, nervenaufreibende Schlichtungen, die Arnold zu managen hat. Wahrscheinlich ist er durch seine Arbeit ein so ruhiger, ausgeglichener Mensch geworden. Doch an diesem Tag war er völlig außer sich.
»In den ganzen dreißig Jahren ist es mir noch nie passiert, dass ich die Tresore der Spielbank bereits um 20.00 Uhr schließen musste. Wir sind heute leer ausgegangen! Wir sind leer! Das Virus hat unser Geld gefressen. Und das ist nur der Anfang!«
Arnold wusste anscheinend mehr als wir alle über die Pandemie. Seit Februar hatte er jeden Abend und jeden Morgen die Live-Ticker zur Corona-Ausbreitung verfolgt und sich dabei sogar ein wenig in den Virologen Christian Drosten verliebt, der jeden Tag in allen wichtigen Nachrichtensendungen auftrat und Tipps gab, wie man in einer virenverseuchten Welt am besten überlebte.
»Er hat ein solches Charisma! Dieser Blick, diese leise, aber gleichzeitig selbstbewusste Stimme!«, schwärmte Arnold. In der Tat hatte man Menschen wie Drosten früher nicht so oft im Fernsehen gesehen, aber auf einmal waren sie zu den wichtigsten Orakeln der Nation aufgestiegen. Kein Nachrichtenprogramm kam ohne einen Fachmann in medizinischer Forschung aus. Es waren die Helden der neuen Zeit, allesamt Männer, schlank, lässig angezogen, manche mit Dreitagebart: Virologen, Epidemiologen, Professoren für Tropenmedizin, Amphibienforscher. Die meisten versuchten, der Bevölkerung komplizierte wissenschaftliche Vorgänge in möglichst einfacher Sprache zu vermitteln, um den Menschen die Angst vor der Erkrankung zu nehmen. Das funktionierte nicht wirklich. Denn was für Virologen normal war, versetzte die unvorbereiteten Zuhörer in Panik. Natürlich würde das Virus mutieren und jedes Jahr in immer neuen Formen wiederkommen, prophezeiten sie. Möglicherweise hätten wir im Sommer eine Verschnaufpause, und es ginge erst im Herbst wieder los. Vielleicht aber hätte sich das Virus auch der warmen Jahreszeit angepasst und freute sich wie wir alle auf den Sommer, sagten die Virologen. Und was konnten wir dagegen tun? Nichts. Außer alle zwanzig Sekunden gründlich die Hände waschen und nach Möglichkeit in den Ellenbogen niesen.
Der charismatische Virologe Christian Drosten ging allerdings noch weiter. Er gab wichtige Überlebenstipps für das alltägliche Leben. Er würde niemals Bier vom Fass trinken, nur aus der Flasche, offenbarte der Wissenschaftler. Man wisse nämlich nie, wie gründlich die Gläser abgespült würden, wie viel Spülmittel dabei eingespart werde und wer noch vor fünf Minuten aus demselben Glas...
Erscheint lt. Verlag | 19.4.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Ausgangssperre • Bestsellerautor • Bleib zu Hause, Mama • Corona • Der verlorene Sommer • eBooks • Geschichten • kurzweilig • lockdown • mundschutzmasken • Podcast • Russendisko • Sicherheitsabstand • Virus |
ISBN-10 | 3-641-27360-9 / 3641273609 |
ISBN-13 | 978-3-641-27360-6 / 9783641273606 |
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