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Der zweite Jakob (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
448 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26989-7 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der zweite Jakob - Norbert Gstrein
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Nach seinem gefeierten Roman 'Als ich jung war' - Norbert Gstreins atemberaubendes Buch über die Abgründe der Menschheit
'Natürlich will niemand sechzig werden.' Damit beginnt Jakobs Lebensgeständnis. Dem bekannten Schauspieler, über den ein Verlag eine Biografie plant, graust es vor dem Kommenden. Da stellt ihm seine Tochter die Frage, die alles sprengt: 'Was ist das Schlimmste, das du je getan hast?' Jakob erinnert sich an einen Filmdreh an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Die Morde an Frauen und das Elend dort bekam er bloß distanziert mit - aber zwei Mal war er plötzlich mittendrin. Er schämt sich, ringt mit den simplen Urteilen der Welt und sehnt sich in gleißenden Erinnerungen nach dem Glück. Warum ist er kein Original, sondern stets nur 'der zweite Jakob'? Norbert Gstrein schreibt einen Roman, der mitreißende, große Kunst ist.

Norbert Gstrein, 1961 in Tirol geboren, lebt in Hamburg. Er erhielt unter anderem den Alfred-Döblin-Preis, den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, den Uwe-Johnson-Preis, den Österreichischen Buchpreis 2019, den Düsseldorfer Literaturpreis und den Thomas-Mann-Preis. Bei Hanser erschienen Die Winter im Süden (Roman, 2008), Die englischen Jahre (Roman, Neuausgabe 2008), Das Handwerk des Tötens (Roman, Neuausgabe 2010), Die ganze Wahrheit (Roman, 2010), In der Luft (Erzählungen, Neuausgabe 2011), Eine Ahnung vom Anfang (Roman, 2013), In der freien Welt (Roman, 2016), Die kommenden Jahre (Roman, 2018), Als ich jung war (Roman, 2019) sowie zuletzt der Roman Der zweite Jakob (2021), mit dem er für den Deutschen Buchpreis nominiert war.

ERSTES KAPITEL


Natürlich will niemand sechzig werden, jedenfalls nicht als Jubilar, und natürlich will niemand, der bei Sinnen ist, ein Fest, um das auch noch zu feiern, aber obwohl ich alles darangesetzt hatte, es zu verhindern, war ich in die erwartbaren Abläufe geschlittert und musste mich am Ende vielleicht wirklich als bedeutender Künstler, verdienter Bürger, und was dergleichen sonst für Würdigungen kurz vor dem Grabstein und kurz vor dem Vergessen stehen, ganz nach dem Geschmack des Publikums wie ein Pfau ausstopfen und vorführen lassen. Gewöhnlich begann der Unsinn erst zehn oder fünfzehn Jahre später, doch weil sie in der Provinz sonst kaum jemanden fanden, kam ich ihnen zupass. Ich hatte bereits lange davor mit Luzie verabredet, dass wir in der kritischen Zeit gemeinsam durch Amerika fahren und am 21. Dezember irgendwo an der Westküste ankommen würden, nur sie und ich, Vater und Tochter, vielleicht in San Francisco, genau an dem Tag, an dem das große Ereignis eintreten sollte, aber dann zerschlug sich alles schon Monate davor.

Mein ganzes Leben war ich nicht ein Christkind, sondern nur annähernd eines gewesen, mit erwartetem Geburtstermin am Heiligen Abend, sofern man das noch sagen kann, doch dann hatte es Komplikationen gegeben, hatten die Wehen eingesetzt, und ich hatte drei Tage Leben gewonnen, Jahr für Jahr drei Tage zu verschenken, an denen ich mit Fug und Recht so tun konnte, als gäbe es mich nicht. Seit ich das begriffen hatte, waren es diese drei Tage im Jahr, die ich am meisten liebte, weil ich mir zugestand, in diesen drei oder sogar vier Tagen aus der Welt herauszufallen. Es hatte 21., 22., 23. und 24. Dezember in meinem Leben gegeben, von denen ich behaupten würde, dass ich glücklich war wie sonst nie, die kürzesten Tage des Jahres, die längsten Nächte, Nächte voller Lichter. Die Geburtstage im Flugzeug, auf dem Weg irgendwohin, mit weihnachtlich gestimmten Sitznachbarn auf ihrer Reise nach Hause, der Geburtstag in Brighton, meine plötzliche Gewissheit ganz draußen auf dem Pier, dass das Leben etwas Gutes sei, der Geburtstag in Tanger, der Schwindel des Glücks beim Blick hinüber nach Gibraltar, der Geburtstag in Nazaré, nördlich von Lissabon, wo sich die Wellenreiter auf die Saison der Riesenwellen vorbereiteten und ich ihnen bei ihren wilden Ritten zuschaute, ihren Kunststücken, wieder und wieder obenauf zu bleiben und nicht unter dem niederstürzenden Wasser begraben zu werden und sich das Rückgrat zu brechen. Immer musste es das Meer sein mit der Möglichkeit, mich nach dem anderen Ufer zu sehnen oder, wenn ich mich umdrehte und ins Landesinnere blickte, wenigstens meinen Rücken frei zu haben und nicht fürchten zu müssen, dass jemand von hinten kam, ein Feind, ein Widersacher, ein Landsmann oder Freund.

Bereits vor Jahren hatte ich angefangen, wenigstens einmal im Jahr, manchmal zweimal für zwei oder drei Wochen nach Amerika zu fliegen, dort ein Auto zu mieten und zwei- oder dreitausend Kilometer zu fahren. Befriedigend erzählen konnte ich niemandem davon, aber wenn ich die Routen im Atlas verfolgte, ergaben sie ein immer dichter werdendes Netz kreuz und quer über den Kontinent. Ich hatte vor einem halben Leben ein Schuljahr in Montana verbracht, und nur um irgend etwas zu sagen, sagte ich, ich führe diesem Jahr hinterher, weil dieses Jahr für mich das entscheidende Jahr gewesen sei. Denn auf die ewige Frage, warum ich Schauspieler geworden war, konnte die Antwort nur mit der Theatergruppe in Missoula beginnen und mit meinem Freund Stephen, der dort seine Karriere startete und nur wenige Jahre danach schon in einem halben Dutzend großer Filme gespielt hatte und mich später regelrecht in das Geschäft hineinzog. Wir behaupteten beide, wir seien bloß wegen der Mädchen zu dem etwas knöchernen Unterricht gegangen, den ein geradezu trotzig kultiviert wirkender ungarischer Immigrant nach guter Moskauer Tradition hielt, aber in Wirklichkeit stimmte das weder für ihn noch für mich, und was uns hingezogen hatte, war die übliche Mischung aus Langeweile und Zufall gewesen, die einen in der Jugend zu so vielen Dingen verführt, die man genausogut hätte unterlassen können und aus denen man später seine Notwendigkeit konstruiert.

Stephen war kein anderer als Stephen O’Shea, zu dem ich weiter Kontakt hielt, und als er mir zehn Jahre nach unserem gemeinsamen Schuljahr vorschlug, noch einmal für ein paar Wochen nach Montana zu kommen, war er längst eine Berühmtheit und ich erst Student mit bereits einigen Semestern über dem Plan und ungewissen Zukunftsaussichten. Ich dachte mir nicht viel dabei, als er mir anbot, in dem Stück, das er in seiner Heimatstadt bei einem Festival inszenierte, eine winzige Rolle zu übernehmen, und wäre, allein schon weil ich keine Ambitionen in diese Richtung hegte, nie auf die Idee verfallen, dass aus diesem ersten kleinen Auftritt auf der Bühne mein erster nicht mehr ganz so kleiner in einem Film folgen könnte. Spielen musste ich nur einen Barbesucher, nicht mehr als den lebenden Hintergrund für ein im Vordergrund streitendes Paar, einen zufällig Anwesenden, der mit dem Satz »Ich hoffe, du weißt, was du da tust« einschreitet, als der Mann seine Hand gegen die Frau erhebt, weshalb ich nur überrascht sein konnte, dass nach der Premiere ein in einem fort hüstelnder Krawattenträger auf mich zukam, der nicht unbedingt aussah wie jemand aus der Branche, sich jedoch als Regisseur vorstellte, mir seine Visitenkarte überreichte und mich beglückwünschte. Dann sagte er, meine Gelassenheit habe für die Glaubwürdigkeit dieser sonst nicht sehr glaubwürdigen Aufführung gesorgt, so selbstverständlich, wie ich dagesessen sei, müsse erst einmal einer dasitzen, manche Schauspieler brächten das nach einem ganzen Berufsleben nicht zustande, und ein halbes Jahr später besuchte er mich auf seiner Europareise, um mich nicht lange danach aus purer Extravaganz, wie mir schien, für die Rolle von Theodore Durrant in seinem Film über Maud Allan zu engagieren, die berühmte Salome-Tänzerin Anfang des vergangenen Jahrhunderts.

In dessen Gestalt, der Gestalt ihres Bruders, hatte ich meinen Einstand in der Filmwelt ausgerechnet als irrer Frauenmörder, der seine beiden Opfer aufschlitzt und zerstückelt und die eine kaum mehr kenntlich in einer Bibliothek, die andere ausgelegt wie für eine anatomische Untersuchung im Glockenturm der zugehörigen Kirche deponiert. Dafür brauchte ich gar nicht viel zu tun, weil die Morde selbst ausgespart blieben. Ich musste nur in die Haut eines introvertierten Medizinstudenten schlüpfen, der jungen Mädchen nachstellt, und seine klägliche Not im Umgang mit ihnen zeigen, um dann verschlossen im Gerichtssal zu sitzen, verschlossen im Gefängnis und ebenso verschlossen zu seiner Hinrichtung zu gehen und noch einen letzten wütenden Blick in die Welt zu werfen, bevor ihm die Schlinge um den Hals gelegt wird.

Amerika hatte mir dennoch Glück gebracht, und die Vorstellung, nun zum ersten Mal gemeinsam mit Luzie dorthin zu fahren, war etwas ganz Neues für mich, ich bildete mir ein, ich könnte ihr das Land vor seinem Sündenfall zeigen, geradeso, als hätte es den im Singular gegeben, als folgte nicht einer auf den anderen und als existierten nicht trotzdem noch da und dort Flecken, die aufzusuchen sich lohnte, weil an manchen Orten noch nicht alles verspielt war. Sie war nach vier Jahren, die sie bei mir gelebt hatte, erst vor etwas mehr als sechs Monaten ausgezogen, und es war für mich auch eine Möglichkeit, sie endlich wieder einmal von Tag zu Tag zu sehen und einen Blick darauf zu haben, wie sie sich machte. Obwohl es noch lange hin war, hatten wir gleich angefangen, Pläne für die Reise zu schmieden, und sie war wieder das Kind gewesen, das nicht aufhören konnte, nach immer neuen Alternativen zu fragen, und die Welt bis ins letzte Detail ausbuchstabiert haben wollte, bevor sie den ersten Schritt in sie hinein wagte. Zwar hatte sie daraus ein Spiel gemacht und gelacht, als sie meinen besorgten Blick sah, aber wir wussten beide, wie wenig es brauchte, dass es kippte und sie sich in ihren Eigenheiten festfraß und nicht mehr aus ihren Verstrickungen herausfand. Sie hatte als Vier-, Fünf- und Sechsjährige und auch danach noch als Schülerin, bevor sie mit dreizehn in das englische Internat ging, die Welt nur als Einzelfall verstanden, und wenn man ihr etwas erklärte, wollte sie Dutzende von Beispielen, die ihr die Erklärung illustrierten und Dutzende von Parallelwelten eröffneten, die nichts miteinander zu tun zu haben schienen, obwohl sie nur in einer geringfügigen Kleinigkeit voneinander abwichen.

»Was bedeutet Liebe, Papa?«

Ich versuchte es ihr zu erklären.

»Wie kann man das sehen?«

Ich sagte, man würde es spüren.

...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
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ISBN-10 3-446-26989-4 / 3446269894
ISBN-13 978-3-446-26989-7 / 9783446269897
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