1984 (eBook)
336 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491375-9 (ISBN)
George Orwell, geboren 1903 in Motihari, Indien, war ein englischer Schriftsteller, Essayist und Journalist. Von 1921 bis 1927 war er Beamter der britischen Kolonialpolizei in Birma. Danach lebte er in London und Paris. Er schrieb zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Gedichte. Mit seinen dystopischen Romanen »Farm der Tiere« (1945) und »1984« (1949) wurde er weltberühmt. George Orwell starb 1950 in London. Er gilt heute als einer der bedeutendsten Schriftsteller der englischen Literatur.
George Orwell, geboren 1903 in Motihari, Indien, war ein englischer Schriftsteller, Essayist und Journalist. Von 1921 bis 1927 war er Beamter der britischen Kolonialpolizei in Birma. Danach lebte er in London und Paris. Er schrieb zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Gedichte. Mit seinen dystopischen Romanen »Farm der Tiere« (1945) und »1984« (1949) wurde er weltberühmt. George Orwell starb 1950 in London. Er gilt heute als einer der bedeutendsten Schriftsteller der englischen Literatur. Frank Heibert (geb. 1960) übersetzt seit 1983 aus dem Englischen, Französischen, Italienischen und Portugiesischen, unter anderem William Faulkner, Raymond Chandler, Raymond Queneau, Don DeLillo, George Saunders und Richard Ford. Er wurde mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für literarische Übersetzer, dem Helmut-M.-Braem-Übersetzerpreis und dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichnet.
Frank Heibert greift für Fischer radikaler in den Text ein und wechselt ins Präsens.
Heibert hat den gesamten Roman ins Präsens gesetzt und ihm eine Unmittelbarkeit verschafft, von der die anderen Übersetzungen nur träumen können.
wählt das Präsens als Erzähltempus. Das ist riskant und eigenmächtig, aber schlicht genial.
großartig illustriert
Die Rasanz, die Orwell im Original hat, wird wunderbar transportiert [...] eine kongeniale Übersetzung für die Gegenwart.
2
Als Winston nach dem Türknauf greift, bemerkt er, dass das Tagebuch offen auf dem Tisch liegt. NIEDER MIT DEM GROSSEN BRUDER steht da viele Male in Großbuchstaben, fast groß genug, um es von der Tür aus zu entziffern. Wie unvorstellbar dumm. Aber trotz aller Panik hat er das cremefarbene Papier nicht verschmieren wollen, das wird ihm klar, drum hat er das Buch nicht über der feuchten Tinte zugeklappt.
Er holt tief Luft und macht auf. Sofort durchströmt ihn eine warme Welle der Erleichterung. Da steht eine farblose, bedrückte Frau mit flusigen Haaren und runzligem Gesicht.
»Ach, Genosse«, sagt sie in schleppendem, klagendem Ton, »mir war doch, als hätte ich dich gehört. Ob du wohl mal rüberkommen und unseren Abfluss in der Küche anschauen könntest. Der ist verstopft und …«
Das ist Mrs. Parsons, eine Nachbarsfrau von derselben Etage. (Die Anrede »Mrs.« wird von der Partei eher missbilligt – man soll alle Leute »Genossen« nennen –, aber bei manchen Frauen benutzt man das Wort instinktiv doch.) Sie ist um die dreißig, sieht aber viel älter aus. Als läge Staub in den Runzeln ihres Gesichts. Winston folgt ihr über den Korridor. Derlei Amateurreparaturen sind ein fast tägliches Ärgernis. Die Wohnungen der Victory Mansions sind alt, um 1930 erbaut, und gehen langsam aus dem Leim. Ständig schuppt Gips von den Decken und Wänden, bei jedem harten Frost gibt es Wasserrohrbrüche, das Dach erweist sich bei Schneefall als undicht, die Heizungsanlage läuft meist nur mit halber Kraft, wenn sie nicht aus wirtschaftlichen Gründen komplett abgeschaltet ist. Reparaturen, abgesehen von dem, was man allein hinkriegt, müssen von fernen Komitees bewilligt werden, was dafür sorgt, dass selbst eine kaputte Fensterscheibe zwei Jahre lang nicht ersetzt wird.
»Natürlich bitte ich dich nur, weil Tom nicht zu Hause ist«, sagt Mrs. Parsons unbestimmt.
Die Wohnung der Parsons ist größer als Winstons und in anderer Hinsicht trist. Alles wirkt angeschlagen und irgendwie zertrampelt, als wäre gerade ein großes gewalttätiges Tier hier durchgestapft. Auf dem Boden liegt überall Sportausrüstung herum – Hockeyschläger, Boxhandschuhe, ein zerschlissener Fußball, verschwitzte Shorts auf links –, auf dem Tisch türmen sich schmutziges Geschirr und eselsohrige Schulhefte. An den Wänden hängen scharlachrote Spruchbänder von der Jugendliga und den Spitzeln und ein Plakat des Großen Bruders in Originalgröße. Den typischen Geruch des gesamten Gebäudes, nach gekochtem Kohl, durchzieht hier ein noch beißenderer Schweißgestank, und schwer zu sagen warum, aber man weiß gleich beim ersten Schnüffeln, dass er zu einer derzeit abwesenden Person gehört. In einem anderen Zimmer versucht jemand, mit einem Kamm und einem Blatt Klopapier die Militärmusik zu begleiten, die immer noch aus dem Telemonitor kommt.
»Kinder eben«, sagt Mrs. Parsons mit einem halb bangen Blick zur Tür. »Sie sind heute noch nicht draußen gewesen. Und natürlich …«
Sie hat die Angewohnheit, ihre Sätze nach der Hälfte abzubrechen. Die Küchenspüle steht fast randvoll mit grünlichem Abwaschwasser, das schlimmer denn je nach Kohl stinkt. Winston geht in die Hocke und untersucht das Knie des Abflussrohrs. Er hasst es, die Hände zu benutzen, und er hasst es, sich zu bücken, weil er dann immer husten muss. Mrs. Parsons schaut hilflos zu.
»Wenn Tom zu Hause wäre, hätte er es natürlich im Nu repariert«, sagt sie. »So was macht er furchtbar gern. Er ist ja so geschickt mit den Händen, mein Tom.«
Parsons ist Winstons Kollege im Wahrheitsministerium, ein dicklicher, aber rühriger Mann von lähmender Dummheit, ein einziger Batzen schwachsinniger Begeisterung – einer jener treu ergebenen, blind gehorsamen Sklaven, von denen, mehr noch als von der Denkpol, die Stabilität der Partei abhängt. Vor kurzem ist er, mit fünfunddreißig, aus der Jugendliga ausgeschlossen worden, und bevor er dorthin aufgestiegen war, hatte er es geschafft, ein Jahr länger als die vorgesehene Altersgrenze bei den Spitzeln zu bleiben. Im Ministerium arbeitet er in einer untergeordneten Stellung, für die es keine Intelligenz braucht, aber im Sportkomitee und all den anderen Komitees, die Gemeinschaftswanderungen, Spontandemonstrationen, Sparkampagnen und ganz allgemein Freiwilligenarbeit organisieren, ist er ganz vorn dabei. Er verkündet gern mit stillem Stolz, seine Pfeife paffend, dass er in den letzten Jahren jeden Abend im Gemeinschaftszentrum verbracht hat. Ein überwältigender Schweißgeruch, der sozusagen unabsichtlich bezeugt, wie strapaziös sein Leben ist, folgt ihm in Schwaden, wo immer er hinkommt, ja sogar wenn er schon weg ist.
»Hast du eine Rohrzange?«, fragt Winston, während er versucht, die Mutter am Rohrknie zu lösen.
»Eine Rohrzange«, sagt Mrs. Parsons, schlagartig rückgratlos. »Das weiß ich nun wirklich nicht. Vielleicht die Kinder …«
Begleitet von Stiefelgetrampel und einer weiteren Runde Blasen auf dem Kamm stürmen die Kinder das Wohnzimmer. Mrs. Parsons bringt die Rohrzange. Winston lässt das Wasser ab und entfernt angeekelt den Propf aus Menschenhaar, der das Rohr verstopft. Dann reinigt er seine Finger, so gut es mit kaltem Wasser geht, und kehrt ins andere Zimmer zurück.
»Los, Hände hoch!«, schreit eine wilde Stimme.
Ein hübscher, robust aussehender Junge von neun Jahren ist hinter dem Tisch aufgetaucht und bedroht ihn mit einer Spielzeug-MP, und seine kleine, etwa zwei Jahre jüngere Schwester tut es ihm nach, mit einem Stück Holz. Beide tragen die blauen Shorts, grauen Hemden und roten Halstücher, aus denen die Uniform der Spitzel besteht. Winston hebt die Hände über den Kopf, aber mit einem unbehaglichen Gefühl; das Benehmen des Jungen ist so voller Bosheit, dass es sich nicht mehr nach einem Spiel anfühlt.
»Du bist ein Verräter!«, kreischt der Junge. »Du machst Denkkrim! Du bist ein eurasischer Spion! Ich erschieß dich, ich verdampf dich, ich schick dich ins Salzbergwerk!«
Auf einmal springen sie beide um ihn herum, brüllen »Verräter!« und »Denkkrim!«, wobei das kleine Mädchen jede Bewegung ihres Bruders nachahmt. Das ist schon ziemlich angsteinflößend, diese zwei herumtollenden Tigerjungen, die bald zu Menschenfressern heranwachsen werden. Im Blick des Jungen liegt berechnende Grausamkeit, das schwer zu übersehende Bedürfnis, Winston zu schlagen oder zu treten, und das Bewusstsein, schon fast groß genug dafür zu sein. Ein Glück, denkt Winston, dass die Pistole da nicht echt ist.
Mrs. Parsons’ Blick zuckt nervös zwischen Winston und den Kindern hin und her. In dem helleren Licht des Wohnzimmers bemerkt er interessiert, dass tatsächlich Staub in den Falten ihres Gesichts liegt.
»Sie werden halt doch recht laut«, sagt sie. »Sie sind enttäuscht, weil sie nicht zur Hinrichtung können, deswegen. Ich habe zu viel zu tun, um sie mitzunehmen, und Tom kommt nicht rechtzeitig von der Arbeit zurück.«
»Warum können wir nicht hingehen? Ich will das Hängen sehen!«, brüllt der Junge mit seiner kräftigen Stimme.
»Will das Hängen sehen! Will das Hängen sehen!«, skandiert das Mädchen, immer noch herumhüpfend.
Einige eurasische Gefangene sollen an diesem Abend als Kriegsverbrecher im Park aufgehängt werden, fällt Winston wieder ein. Das geschieht etwa einmal im Monat und ist ein beliebtes Spektakel. Kinder quengeln immer, weil sie unbedingt hinwollen. Er verabschiedet sich von Mrs. Parsons und geht zur Tür. Nach nicht mal sechs Schritten im Korridor trifft ihn etwas mit einem qualvoll schmerzhaften Schlag im Nacken. Es fühlt sich an, als wäre er mit einem rotglühenden Draht gestochen worden. Er fährt herum und sieht gerade noch, wie Mrs. Parsons ihren Sohn, der eine Schleuder einsteckt, wieder in die Wohnung zerrt.
»Goldstein!«, bellt der Junge, dann fällt die Tür zu. Am meisten erschreckt Winston die hilflose Angst in den grauen Gesichtszügen der Frau.
In seiner Wohnung geht er rasch am Telemonitor vorbei und setzt sich, immer noch den Nacken reibend, wieder an den Tisch. Aus dem Monitor kommt keine Musik mehr, sondern eine abgehackte militärische Stimme verliest mit genüsslicher Brutalität, mit welcher Waffenausstattung die neue Schwimmende Festung gerade zwischen Island und den Färöern vor Anker geht.
Bei solchen Kindern, denkt er, muss die arme Frau ein elendes Leben in Angst und Schrecken führen. Noch ein, zwei Jahre, und sie werden sie Tag und Nacht im Auge behalten, auf der Suche nach irgendwelchen Abweichlersymptomen. Heutzutage sind fast alle Kinder grässlich. Organisationen wie die Spitzel machen sie systematisch zu unkontrollierbaren kleinen Wilden, aber deswegen werden sie noch lange nicht rebellisch gegen die Parteidisziplin – das ist das Schlimmste. Im Gegenteil, sie beten die Partei und alles, was mit ihr zusammenhängt, förmlich an. Die Lieder, die Märsche, die Spruchbänder, die Wanderungen, der Drill mit Gewehrattrappen, das Brüllen der Slogans, die Verehrung des Großen Bruders – all das ist ein herrliches Spiel für sie. Alles Wilde kehren sie nach außen, gegen Staatsfeinde, gegen Ausländer, Verräter, Saboteure, gegen Denkkrim. Es ist fast normal, wenn Menschen über dreißig vor ihren eigenen Kindern Angst haben. Und mit gutem Grund, denn fast jede Woche bringt die Times eine Meldung, dass irgendein lauschender kleiner Schnüffler – »Kindheld« werden sie im Allgemeinen genannt – eine kompromittierende Bemerkung...
Erscheint lt. Verlag | 1.1.2021 |
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Übersetzer | Frank Heibert |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | 1984 • Anspruchsvolle Literatur • Dystopie • Farm der Tiere • Frank Heibert • Gehirnwäsche • illustrierte Ausgabe • Klassiker • Lauschangriff • Neuübersetzung • Prachtband • Science Fiction • Überwachung • Zensur |
ISBN-10 | 3-10-491375-7 / 3104913757 |
ISBN-13 | 978-3-10-491375-9 / 9783104913759 |
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