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Real Life (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
352 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99839-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Real Life -  Brandon Taylor
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Über die Sprengkraft der Diskriminierung Ein Spätsommerabend bei Freunden, man plaudert und sagt: Wallace könne froh sein, es als einziger Afroamerikaner an der Uni zum Biochemie-Doktoranden gebracht zu haben. Und wer bitte werde noch diskriminiert, weil er Männer liebe? Was Wallace nicht erwidert: Wie es ist, der einzige schwarze Körper in einem weißen Raum zu sein. Keine Sprache zu haben für das, was ihn ausmacht, kein Gegenüber, das die täglichen Hiebe und Stiche kennt. In diesem Sommer will er sein Leben hinter sich lassen. Mit großer Subtilität legt Brandon Taylor eine Gefühlsschicht nach der anderen frei. Ein aufwühlend intimer, ein gewaltiger Roman! »Es ist, als würden sie sagen, du sollst mit all deinen Erfahrungen kommen und ganz du selbst sein. Aber wenn du dann an ihrem Tisch sitzt, als queere schwarze Person aus dem Arbeitermilieu der Südstaaten, wollen sie auf einmal nicht mehr, dass du über bestimmte Dinge sprichst, weil du damit alle Regeln ihrer Welt brechen würdest.« Brandon Taylor im Interview mit Maddie Sofia, NPR »Ein umwerfendes Debüt ... Feinfühlig tanzt das Erzählen über die Seite: mit reiner, präziser Poesie.« The New York Times Book Review »Taylor thematisiert unter anderem Einsamkeit, Begehren und - vor allem anderen - den Versuch, sich einer Sache zu verschreiben, Sinn und Glück aus ihr für das eigene Leben zu ziehen.« Time Magazine »?Real Life? verdeutlicht auf ergreifende Weise, welcher Widerspruch aufklafft, sobald man sich in einer Institution nicht akzeptiert und verstanden fühlt, die aggressiv ihre eigene unbefleckte Progressivität bewirbt.« The Guardian »In einer zarten, intimen und eigensinnigen Sprache lotet Taylor aus, was Race, Sexualität und Begehren bedeuten.« Newsweek »Mal bitter, mal zart schreibt sich dieser fein gewirkte Roman in die schwule Literatur ein. Aber damit nicht genug, Wallace' Stimme trägt mit ihrer erfrischenden Nuanciertheit und ihrem Sinn fürs Mikroskopische auch zur Debatte um Black Lives Matter bei.« Financial Times »Ein bestechender Entwicklungsroman!« O: The Oprah Magazine

Brandon Taylor, geboren 1989 in Prattville, Alabama, legte mit »Real Life« sein hochgepriesenes literarisches Debüt vor, das ein Editor's Pick der New York Times war und auf der Shortlist des Booker Prize 2020 stand. Der ehemalige Iowa Arts Fellow schreibt literarische Essays und Rezensionen für The New York Times, Guernica, American Short Fiction, O: The Oprah Magazine, The New Yorker und viele mehr. Noch vor Erscheinen zählten 26 Medien in den USA und Großbritannien seine Story-Sammlung »Vor dem Sprung« zu den wichtigsten Büchern 2021. Taylors zweiter Roman »Die letzten Amerikaner« wurde von der amerikanischen und britischen Presse gefeiert und stieg mit Erscheinen auf der Bestsellerliste der New York Times ein.

Brandon Taylor, geboren und aufgewachsen in Alabama, legt mit Real Life sein hochgepriesenes literarisches Debüt vor, das zum Editor's Pick der New York Times gewählt und für den Booker Prize 2020 nominiert wurde. Nach einem Studium der Biochemie an der University of Wisconsin-Madison studierte Taylor als Iowa Arts Fellow Literarisches Schreiben. Er ist Chefredakteur der Literaturzeitschrift Recommended Reading, Redakteur bei Literary Hub und schreibt als freier Autor für Guernica, American Short Fiction, O: The Oprah Magazine, Gay Mag, The New Yorker online, The Literary Review und viele mehr.

1


Einige Wochen nach dem Tod seines Vaters beschloss Wallace an einem kühlen Abend im Spätsommer, sich doch noch mit seinen Freunden am Pier zu treffen. Weiße Wellen dellten die Oberfläche des Sees wie kleine Grübchen. Die letzten böigen Sommertage galt es voll auszukosten, denn schon bald würde das Wetter kippen und ungemütlich werden. Weiße Menschen hatten sich überall auf den zum See hin abfallenden Terrassen verteilt, rissen den Mund auf und warfen einander ihr Lachen ins Gesicht. Oben am Himmel glitten die Möwen mühelos dahin.

Wallace stand auf einer der höher gelegenen Terrassen, blickte ins Gedränge hinunter und versuchte, inmitten all der weißen Grüppchen das richtige zu finden. Noch konnte er einfach gehen und den Abend zu Hause verbringen. Dass er sich zuletzt mit seinen Freunden am See getroffen hatte, war Jahre her, ein Umstand, der ihn in Verlegenheit brachte, weil er nach einer Erklärung verlangte, die Wallace nicht hatte. Möglicherweise hing es mit seiner Angst vor Menschenmengen zusammen, mit der unmittelbaren Nähe fremder Körper, oder mit den Vögeln, die am Himmel kreisten und auf der Suche nach Futter auf die Tische hinunterschossen. Manche hüpften zwischen den Füßen der Leute herum, als feierten sie dort unten ihre eigene Party. Die Bedrohungen lauerten an allen Ecken. Hinzu kam der Lärm – das Gebrüll, mit dem die Leute einander vergeblich zu übertönen versuchten, die schlechte Musik, die Kinder und die Hunde, die Ghettoblaster der Studenten unten am Seeufer, die Autoradios auf der Straße, die ganze kreischende Masse Hunderter kollidierender Leben.

Der Lärm schien Wallace etwas Befremdliches, noch nicht näher Bestimmtes abzuverlangen. Plötzlich entdeckte er die vier an einem der weinroten Holztische direkt unten am Wasser, genauer gesagt entdeckte er Miller, der ungewöhnlich groß und nicht zu übersehen war. Dann erkannte er Yngve und Cole, die einfach nur groß waren, und zuletzt Vincent, der knapp unter dem Durchschnitt hängen geblieben war. Miller, Yngve und Cole sahen aus wie drei helle, stolze Hirsche, wie Vertreter einer ganz eigenen Spezies, und wäre man in Eile, hätte man sie glatt für Brüder halten können. Wie Wallace und der Rest der Clique waren auch sie in diese Stadt im Mittleren Westen gekommen, um in Biochemie zu promovieren. Ihr Jahrgang war so klein wie schon seit Langem nicht mehr, und der erste mit einem schwarzen Doktoranden seit über drei Jahrzehnten. In weniger gelassenen Momenten redete Wallace sich ein, dass diese beiden Dinge zusammenhingen; dass erst das nachlassende Interesse und die geringe Bewerberzahl seine Zulassung ermöglicht hatten.

Er war kurz davor, einfach kehrtzumachen – unschlüssig, ob er die Gesellschaft der anderen, die ihm eben noch so notwendig erschienen war, wirklich ertragen könnte –, als Cole den Kopf hob und ihn bemerkte. Obwohl Wallace in seine Richtung schaute, fuchtelte er mit den Armen und machte sich noch größer, um bloß nicht übersehen zu werden. Es gab kein Zurück mehr. Wallace hob die Hand und winkte.

Es war Freitag.

Wallace stieg die bröckelnden Betonstufen hinunter, und es stank immer heftiger nach Seewasser und Algen. Er folgte der Krümmung der Stützmauer und kam an den aufgebockten Booten und der Stelle vorbei, wo dunkle Steine aus dem Wasser ragen, und am langen Pier, der sich über den Wellen erstreckt und voller lachender Menschen war. Im Gehen betrachtete er den riesigen grünlichen See und die darauf kreuzenden Boote, deren vom Wind geblähte Segel sich weiß und selbstbewusst vom weiten, bewölkten Himmel abhoben.

Es war perfekt.

Es war wunderschön.

Es war ein ganz normaler Abend im Spätsommer.

 

Eine Stunde zuvor war Wallace noch im Labor gewesen. Den ganzen Sommer lang hatte er Nematoden gezüchtet, eine ebenso langweilige wie anspruchsvolle Arbeit. Nematoden sind mikroskopisch kleine Würmer, die im Erdreich vorkommen und etwa einen Millimeter groß werden. Wallace’ Aufgabe war es, vier unterschiedliche Nematodenstämme zu kultivieren und in einem zweiten Arbeitsschritt untereinander zu kreuzen. Die gezielte Beschädigung des Erbguts und die anschließende Reparatur – Regulation und Steuerung der Genexpression, Markierung eines Proteins, Entfernen oder Hinzugeben bestimmter Abschnitte des genetischen Materials – führten zu erwünschten Mutationen, die wiederum von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurden, wie eine Zahnlücke oder Sommersprossen oder Linkshändigkeit. Nach simplen, aber sorgfältig durchzuführenden Berechnungen wurden die Modifikationen mit denen anderer Stämme kombiniert. Manchmal brauchte es dazu einen Marker oder einen Balancer. Nach einer Manipulation des Nervensystems bewegten die Tiere sich plötzlich rollend statt schlängelnd fort, eine Mutation in der Cuticula erzeugte Nematoden so dick wie kleine Keksröllchen. Und immer bestand die heikle Aussicht, dass die Männchen zu empfindlich sein könnten oder kein bisschen an Fortpflanzung interessiert. Im letzten Schritt wurden die Würmer aufgelöst und das genetische Material extrahiert. Nicht selten stellte sich nach wochenlanger sorgfältiger Zucht und Beobachtung mehrerer Generationen heraus, dass die Mutation verloren gegangen war. Es folgte eine fiebrige Suche, und Wallace verbrachte Tage oder Wochen damit, die alten Petrischalen zu überprüfen und die Abweichung unter Tausenden von wimmelnden Nachkommen erneut zu finden. Die auflodernde, fast wahnhafte Erleichterung, wenn er im letzten Moment doch noch den goldenen Nematoden aus der Masse der zappelnden Tiere fischte; und dann begann der langsame, stetige Zuchtprozess von vorn, das Hüten der erwünschten Chromosomen und das Ausschalten der unerwünschten, bis endlich die ersehnte Variante herauskam.

Wallace hatte viele schöne Sommertage durchgearbeitet, und doch war es ihm nicht gelungen, den entscheidenden Stamm zu kultivieren. Eine Stunde zuvor hatte er im Labor seine Tabletts mit den Agarplatten aus dem Brutschrank geholt. Seit drei Tagen wartete er darauf, dass eine Generation in die nächste überging, so angespannt, wie er seit Monaten auf das Endergebnis wartete. Er würde die Babys einsammeln und die feinen, fast unsichtbaren Würmchen voneinander trennen, bis er schließlich seine Dreifachmutation gefunden hätte. Aber als er nach seinen Nematoden sah, wirkte die glatte blaugrüne Oberfläche des Agar, das in seiner weichen Festigkeit der menschlichen Haut auf unheimliche Weise ähnelte, gar nicht mehr so glatt.

Ganz im Gegenteil, dachte er, sie war aufgewühlt.

Nein, nicht aufgewühlt. Wallace kannte das korrekte Wort.

Verunreinigt.

Schimmel und Staub türmten sich wie bei der grausigen Nachstellung eines Vulkanausbruchs – ganze Zivilisationen von Asche und Ruß bedeckt und zu porösem weißem Stein erstarrt. Ein weicher Pelz aus grünen Sporen überzog die Nährflüssigkeit, darunter verbarg sich der schleimige Bakterienfilm. Die Oberfläche des Agars sah aus, als hätte sie jemand mit einem groben Pinsel zerkratzt. Wallace überprüfte alle Schalen auf allen Plastiktabletts, und ausnahmslos jede wies Spuren des Grauens auf. Die bakterielle Verunreinigung war so weit fortgeschritten, dass sie durch die Deckel austrat wie Eiter aus einer Wunde und ihm über die Finger lief. Nicht zum ersten Mal fand er seine Petrischalen verunreinigt und verschimmelt vor. Im ersten Laborjahr war ihm das regelmäßig passiert, später dann waren seine Technik besser und seine Sorgfalt größer geworden. Später hatte er gelernt, aufmerksam und vorsichtig zu sein. Er hatte an sich gearbeitet. Er wusste, wie man einen Stamm am Leben hält.

Nein, dieses Gemetzel hatte mit bloßer Nachlässigkeit nichts zu tun. Außerdem wirkte es alles andere als zufällig, eher wie die Rache eines kleinlichen Gottes. Wallace stand da, schüttelte den Kopf und lachte leise in sich hinein.

Er lachte, weil das Ganze auf eine schwer zu fassende Art lustig war. Ein unerwarteter Witz, der sich aus einer völlig willkürlichen Verkettung von Umständen ergab. Nach vier Jahren Laborarbeit hatte er in den vergangenen Monaten zum ersten Mal das Gefühl gehabt, kurz vor einem großen Durchbruch zu stehen. Er hatte sich der Ahnung einer Erkenntnis angenähert, die Konturen der ihr innewohnenden Fragestellung erspürt, das Ausmaß ihrer Tragweite. Er war mit dieser sich stetig entwickelnden Erkenntnis aufgewacht, und sie hatte ihn durch die vielen eintönigen Stunden begleitet, durch das Zähneknirschen und den dumpfen Schmerz, wenn er um neun aufstand und wieder zur Arbeit ging, obwohl er erst um fünf eingeschlafen war. Er hatte sie so deutlich vor Augen gehabt wie ein schwebendes Staubkorn im gleißenden Licht der hohen Laborfenster – die Hoffnung, einen kurzen Moment absoluter Klarheit zu erleben.

Und was war ihm davon geblieben? Ein Haufen absterbender Nematoden. Als er vor drei Tagen nach ihnen gesehen hatte, waren sie noch schön und perfekt gewesen. Er hatte sie in die laue Dunkelheit des Brutschranks zurückgestellt und in Ruhe gelassen. Hätte er sie vielleicht einen Tag früher überprüfen sollen? Nein, selbst das wäre zu spät gewesen.

Er hatte in diesem Sommer so große Hoffnungen gehegt. Er hatte geglaubt, endlich etwas Sinnvolles zu tun.

In seinem Posteingang dann die gleiche Mail wie an jedem Freitag: Los, treffen wir uns am Pier, wir sichern einen Tisch.

An dem Abend hatte er nichts Besseres vorgehabt. Im Labor gab es nichts mehr zu tun. Die kontaminierten Schalen waren nicht zu retten. Ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als noch einmal von vorn anzufangen, aber in jenem Augenblick hatte er nicht die Kraft, frische Schalen aus dem Regal zu holen und vor sich auszubreiten wie Spielkarten. Er hatte...

Erscheint lt. Verlag 3.5.2021
Übersetzer Eva Bonné
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Afroamerikaner • Afroamerikanische Literatur • Allein unter Weißen • Amerikanische Literatur • Begehren • Benachteiligung • Bindungsangst • Biochemie • #blacklivesmatter • Black lives matter • BlackLivesMatter • Buch • Bücher • Coming of Age • Dear White People • Debüt • Didier Eribon • Diskriminierung • Edouard Louis • Einsamkeit • Entwicklungsroman • Erwachsenwerden • Forschung • George Floyd • Hanya Yanagihara • Homosexualität • homosexualität roman • Homosexuell • intersektionale Diskriminierung • Intersektionalität • James Baldwin • liebe zwischen männern • Mikroaggression • Missbrauch • Neuerscheinung 2021 • Oprah Winfrey • Persönlichkeitsentwicklung • Promotion • Queer • Rassismus • Roman • Schwul • Schwule Literatur • Schwule Romane • schwul roman • Sexuelle Gewalt • Sexueller Missbrauch • soziale Benachteiligung • Soziale Ungerechtigkeit • toxisch • Trauma • Traumabewältigung • Ungerechtigkeit
ISBN-10 3-492-99839-9 / 3492998399
ISBN-13 978-3-492-99839-0 / 9783492998390
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