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Das Hundeauge (eBook)

Eine deutsche Familiengeschichte

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
296 Seiten
Insel Verlag
978-3-458-76713-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das Hundeauge - Rolf Nagel
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Die Inflation vernichtete die Ersparnisse meiner Familie ... - so beginnen in Deutschland viele Geschichten. Auch die des kleinen Rolf Nagel, der 1929 in eine ganz normale Hamburger Familie hineingeboren wird.

Als die Nazis die Macht ergreifen, ändert sich seine Kindheit. Der Vater tritt in die NSDAP ein. Der Junge erlebt mit, wie Häftlinge ermordet werden, denn die Wohnung der Familie liegt nahe einer Außenstelle des KZ Neuengamme. Der fünfzehnjährige Rolf lässt sich für die »Werwölfe« anwerben. Vorgeblich eine geheime Partisanengruppe Heinrich Himmlers; in Wahrheit nichts anderes als Kanonenfutter.

Kurz darauf endet dann der Krieg. Rolf Nagel wird Schauspieler am Hamburger Thalia Theater, steht neben Harald Juhnke oder Horst Tappert vor der Kamera. Doch das Geschehene lastet auf ihm, genau wie der Blick eines schwarzen Hundeauges, ein Bild, das ihn verfolgt.

Eine Auseinandersetzung mit persönlicher und familiärer Schuld sowie mit der Entscheidung, Rechenschaft über das eigene Tun abzulegen.



<p>Rolf Nagel, 1929 geboren, war Schauspieler am Thalia Theater, spielte 150 TV-Rollen und leitete 29 Jahre lang die Abteilung Schauspiel an der Hochschule f&uuml;r Musik und Theater in Hamburg. <em>Das Hundeauge</em> ist sein erstes Buch.</p>

In meines Vaters Hand


Bevor ich anfing, dieses Buch zu schreiben, kreiste jahrelang in meinem Kopf eine Art Erinnerungstraum herum, in dem ich zu Beginn fünf Jahre alt war. Meine kleine Hand lag in meines Vaters Hand, während wir über eine Wiese gingen, die nach feuchter Erde, Gras und welken Blättern roch. Ein Geruch, an den sich vierzig Jahre später, als ich mit dem Rauchen aufgehört hatte, meine Nase wieder erinnerte.

Ich liebte diese Spaziergänge. Vati zeigte mir, von welchem Baum die Blätter abgefallen waren, die auf der Wiese lagen, und so lernte ich die Bäume an ihren Blättern und mit ihrem Namen kennen. Ich bewunderte seine Hand, die mein kleines Händchen hielt. Sie war kräftig. Die Fingernägel, die mit diesen seltsamen Riefen aus dem Nagelbett wuchsen, hatte er mit seinem scharfen Taschenmesser immer kurz geschnitten, und sie waren sauber. Mein Vater schliff das Taschenmesser mit etwas Spucke auf dem Abziehstein, sodass er damit ein Stück Papier, das er lose zwischen Daumen und Zeigefinger in der Luft hielt, durchschneiden konnte.

Es war aufregend, ihm dabei zuzusehen, wenn er einem Huhn, das er zwischen seinen Beinen festhielt, mit einem Schnitt den zurückgebogenen Hals durchschnitt, sodass das Blut in Stößen auf die Erde floss. Oder wie er einem Hasen, den er von der Jagd mitgebracht hatte, das Fell an den Hinterläufen löste und mit wenigen kurzen Schnitten über die Ohren zog. Er wusste, wie man es machte, und er konnte mir erklären, warum man es so machte. Wenn er das geschlachtete Huhn ausnahm, zeigte er mir das Herz, die Leber und den Magen und erklärte, warum man vorsichtig mit der Galle sein musste.

Als mein Vater später selbstständiger Architekt war, hatte er sein Büro in unserer kleinen Wohnung, und ich kniete auf einem Stuhl neben seinem Tisch und sah, den Kopf in den Händen, die Ellenbogen neben dem Zeichenbrett aufgestützt, zu, wie mein Vater Häuser entwarf. Er zeichnete den Grundriss, Ansichten und Schnitte mit einem spitzen Bleistift oder Tusche auf Transparentpapier, das er mit Heftzwecken auf das hölzerne Zeichenbrett, das Reißbrett, gespannt hatte. Es gab damals noch keine Computer. Ich fand toll, wie er mit Reißschiene, Winkeln und Bleistift flott hantierte. Von der Zeichnung auf dem Transparentpapier konnte man in der Lichtpausanstalt beliebig viele papierene Lichtpausen machen lassen.

Im Keller des Mietshauses in der Nordmarkstraße, in der wir wohnten, stand eine Hobelbank, und mein Vater hatte sich – nach unserem Umzug wieder alle Werkzeuge zugelegt, die man als Zimmerer und Tischler benötigte. Einmal hat er mir ein Gewehr aus Holz, einem Stück Gardinenstange, zwei Schrauben und einem kleinen Schubladengriff gemacht. Der Gewehrschaft wurde aus einem Kiefernbrett ausgeschnitten, mit dem Putzhobel wurden die Kanten abgerundet und mit Sandpapier geschliffen. Die Gardinenstange war mit zwei Rundkopfschrauben auf dem Schaft befestigt, wobei der Schlitz der hinteren Schraube mit der Dreikantfeile zu einer Kimme erweitert wurde, über die man mit dem vorderen Schraubenkopf als Korn zielen konnte, wie bei einem richtigen Gewehr. Der Schubladengriff wurde der Bügel über dem Abzug.

Die Geschicklichkeit, Zweckmäßigkeit und Leichtigkeit, mit der mein Vater sein Handwerkszeug vom Bleistift über die Tuschefeder, dem Aquarellpinsel, bis zu Säge und Hobel handhabte, waren für mich lustvoll und aufregend. Vati mochte es gern, wenn ich ihm bei der Arbeit zusah. Er genoss meine Neugierde. Er erklärte mir immer, was er da machte, und spürte vielleicht die Bewunderung seines kleinen Sohnes.

Später, als ich selbst für meine Wohnung Möbel anfertigte, war ich ganz glücklich, wenn ich merkte, wie viel meiner Geschicklichkeit ich von meinem Vater geerbt hatte.

Als ich klein war, nahm er mich manchmal mit auf den Bau. Er inspizierte eine Baustelle, für die er als Bauleiter verantwortlich war. So lernte ich Maurer und Zimmerleute, Klempner und Dachdecker, Elektriker, Fliesenleger und Maler am Bau bei ihrer Arbeit kennen. Und meinen Vater.

Mein Vater, Wilhelm Nagel, war bei meiner Geburt siebenunddreißig Jahre alt, ein Bauernsohn. Er hatte eine Zimmermannslehre gemacht, musste 1912 seinen Militärdienst ableisten, und als er damit fertig war, begann der Erste Weltkrieg. Er kam an die Front und wurde durch den Schuss eines belgischen Scharfschützen so schwer verwundet, dass er kein Zimmermann mehr sein konnte. Er bestand die Aufnahmeprüfung an der Hamburger Baugewerkschule und wurde Architekt.

1922 lernte er in einem Freundeskreis eine junge hübsche Buchhalterin kennen, heiratete sie und zeugte einen Sohn, meinen Bruder. Eine heute unvorstellbare Inflation und zeitweilige Arbeitslosigkeit zwangen zur Sparsamkeit. Ein zweites Kind sollte nicht sein. Im Februar 1929 schaffte es dennoch ein Spermium meines Vaters, sich an allen Hindernissen und Fallen vorbeizuschlängeln. Eine glückstrahlende Eizelle meiner Mutter sah es kommen und rief: »Komm rein, mein Junge!« Sein Kopf bohrte sich in dieses glückliche Ei, und ab da begann diese Geschichte.

Im November sollte ich zur Welt kommen, wie man so schön sagt. Ende November 1929 war es in Hamburg ungewöhnlich warm. Meine Mutter schwitzte. Aber ich wollte nicht raus. Nach alldem, was ich so hörte, steuerten wir nach den »Goldenen Zwanzigern« unsicheren Zeiten entgegen. Eine Weltwirtschaftskrise. Und die Weimarer Republik kämpfte immer noch mit den Folgen des 1918 verlorenen Krieges.

Die Freunde meiner Mutter allerdings fanden mich toll, und mein Vater war natürlich stolz über den Erfolg seiner Männlichkeit.

Tante Erna, wie wir die Schulfreundin meiner Mutter nannten, hatte sich schon Gedanken über meinen Namen gemacht. Damals gab's noch keinen Ultraschall, aber alle waren sich einig gewesen, dass ich männlichen Geschlechts sein würde.

Meine Eltern wollten mich Peter nennen, nach meinem Urururgroßvater Peter Nagel, der damals eine Bierbrauerei mit Ausschank in Teufelsbrück an der Elbe hatte.

Tante Erna meinte: »Peter geht nicht! Da sagen nachher die Jungs auf der Straße: ›Peter Pup mit 'n Steen in 'n Buk.‹«

Mein Bruder hieß Hugo Heinrich Wilhelm. »So 'n Name ist viel zu lang, da schreibt sich ja der Standesbeamte jedes Mal die Finger wund.«

»Rolf« wäre kurz und modern.

Als der Arzt drohte, mich mit der Zange rauszuholen, kam ich freiwillig. Der Standesbeamte schrieb »Rolf« in meine Geburtsurkunde. Ich wurde evangelisch getauft. Oma Cordts und Onkel Christoffer Stockhusen aus Tinsdahl waren meine Taufpaten. Der Busen meiner Mutter war groß und voll Milch. Weil ich später fleißig Mondamin-Brei aß, bekam meine Mutter als Prämie einen silbernen Mondamin-Löffel. Vati fotografierte mich. Im von der Mutter gestrickten Strampelanzug mit Mütze, dicken Backen und strahlend blauen Augen war ich ein Musterprodukt.

Vor meiner Geburt hatten meine Eltern und mein Bruder zusammen mit Oma Cordts in der Marienthalerstraße in Wandsbek gewohnt, wo mein Vater bei einem Architekten als Angestellter arbeitete. Es war Anfang 1929 ohnehin schon eng mit drei Personen bei der Oma, und die vierte Person, von der man annahm, dass es wieder ein Junge werden würde, war unterwegs.

Eine Wohnung zu finden, war allerdings nicht einfach. Die Mieten nicht billig. Da lag es nahe, sich einen Traum zu erfüllen.

Mein Vater hatte schon ein Jahr zuvor ein kleines Siedlungshaus entworfen. Jetzt wurde gebaut. Das Geld dafür wurde von Tante Erna und von der Bausparkasse als Hypothek geliehen. Alle Hypothekenverträge waren nicht auf die nach der Inflation eingeführte Reichs- oder Rentenmark bezogen, sondern zur Sicherheit auf den Wert einer Goldmark. So zogen meine Eltern und mein Bruder im September 1929 in das neue Zuhause, und ich wurde im November in das von meinem Vater frisch gebaute Nest gelegt.

In unserem schönen neuen Haus lag ich im Kinderzimmer in meinem vom Vater getischlerten Bettchen im Dachgeschoss unter dem Fenster, durch das die Sonne schien, wenn ich wach war, spielte ich mit der Holzkugel, die am unteren Ende der Gardinenschnur hing. Und juchzte, wenn meine Mutter ins Zimmer gestürzt kam, weil sie dachte, mir sei etwas passiert, weil es so lange so still gewesen war.

Meine Mutter und ich waren oft allein im Haus. Mein Vater machte...

Erscheint lt. Verlag 27.9.2020
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Schlagworte 2. Weltkrieg • 3. Reich • 50plus • Best Ager • Drittes Reich • Familie • Familienerinnerung • Generationen • Generation Gold • Golden Ager • Hamburg • Heinrich Himmler • Kindersoldaten • Memoir • NS-Zeit • Rentner • Rentnerdasein • Rote Rosen • Ruhestand • Schauspieler • Senioren • Stadtgeschichte • Thalia Theater • Vergangenheitsbewältigung • Werwölfe • Zweiter Weltkrieg
ISBN-10 3-458-76713-4 / 3458767134
ISBN-13 978-3-458-76713-8 / 9783458767138
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