Diebe der Nacht (eBook)
480 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12018-9 (ISBN)
Thilo Corzilius, geboren 1986, liebt Regenwetter und schreibt Romane im beschaulichen Münsterland. Mit seinem Roman »Diebe der Nacht«, der bei Klett-Cotta in der Hobbit-Presse erschien, gewann er 2021 den wichtigsten deutschen Fantasypreis, den Krefelder Preis für Fantastische Literatur.
Thilo Corzilius, geboren 1986, liebt Regenwetter und schreibt Romane im beschaulichen Münsterland. Mit seinem Roman »Diebe der Nacht«, der bei Klett-Cotta in der Hobbit-Presse erschien, gewann er 2021 den wichtigsten deutschen Fantasypreis, den Krefelder Preis für Fantastische Literatur.
Karte: Die Ruhende Welt
Karte: Mosmerano
PRÄLUDIUM
Vom Lügen und Stehlen und anderen Leidenschaften
1.
Gestorbene Lügen säumten die Straßen und Plätze der Ruhenden Welt. Oft ging noch immer eine düstere Ahnung von ihnen aus.
So wie von dem alten Theater, das wie ein gebrochener Mann wirkte und traurig zwischen den gedrungenen Gebäuden des Hafenviertels lag.
Das Theater war vor mehr als einem Dutzend Jahren eine Sehenswürdigkeit gewesen. Aber alle wussten, dass es nie wieder eine werden würde.
Oder zumindest dachten es alle.
Niemand hatte damit gerechnet, dass eine fahrende Schauspielertruppe es erwerben könnte, um sich über den Winter des Jahres Eintausendundzwölf nach Amantis dort einzunisten.
Und niemand hatte damit gerechnet, dass es binnen weniger Wochen wieder zu einem kleinen Glücksfund werden könnte, der sogar die adeligen Kreise der Oberstadt anziehen würde.
Eines Tages wagte sich sogar der junge Conte Diallo Ginobaldi zu einer der Vorstellungen. Es schien ihm ein mutiger Schritt, dass jemand ein solch vergessenes und heruntergekommenes Theater gekauft und auf Vordermann gebracht hatte. Aber wer wusste schon Genaueres? Immerhin war Mut bekanntlich ein Zwilling der Dummheit – beide sahen sich manchmal zum Verwechseln ähnlich.
Doch als sich der Vorhang an jenem Abend hob, tauchte der Conte ein in den Rausch der Vorstellung.
2.
Glin Melisma spähte aus einem geöffneten Butzenglasfenster in den verregneten Hafen hinaus. Er mochte Regen. Als Kind war er am Rande der Wüste aufgewachsen und Wasser, das vom Himmel fiel, war dort selten und kostbar. Obwohl er seit seiner Jugend die Ruhende Welt bereist hatte, faszinierten ihn immer noch die Sturzfluten, die seit Tagen vom Himmel fielen und die hellen Fassaden der Gebäude tränkten.
»Spinnst du, Glin? Es ist entsetzlich kalt!«, schimpfte Falk von unten herauf. Der dicke Priester des verschlagenen Gottes Din Vestro hatte noch nie viel Geduld mit Glin gehabt. »Mach das von allen Göttern verfluchte Fenster zu, du dürres Elend!«
»Die Leute unterschätzen mich, eben weil ich so dünn bin«, rief Glin und atmete die Luft in vollen Zügen, in der der Geruch von Lachs und Kabeljau, harter Arbeit und Sehnsucht mitschwang.
»Hör auf zu träumen, sofort, und komm runter!« Mit einem Lachen mischte sich nun auch Talmo ein – der Kopf des Ensembles. Sie hatten sich den Namen Die Herbstgänger gegeben. »Du musst gleich auf die Bühne, du kleiner Ränkeschmied. Weisheiten über deinen knochigen Körper kannst du später von dir geben.«
Seufzend verriegelte Glin das Fenster und stieg die Stufen aus dem Halbgeschoss hinab zum Rest der Truppe, der sich bereits kostümiert versammelt hatte. Gleich würden sie im Theater ihre Version von Silvanis Komödie Der König unter der Stadt aufführen:
Talmo, Glins Ziehvater, Mechanist und Gründer ihres Ensembles.
Madeire, die Diva der Truppe.
Falk, der Priester.
Yrrein, die besser mit jeder Klinge umgehen konnte, als es Glin jemals bei irgendjemandem gesehen hatte.
Shalimo, der Chemistiker.
Die kleine Sira mit ihren waghalsigen Kletterkünsten.
Und natürlich er selbst, Glin, ebenfalls ein Mechanist.
Er blickte in die Runde. Es war noch nicht allzu lange her, dass die Gruppe ausgerechnet ihn mit der Planung ihrer Husarenstücke betraut hatte. Und obwohl er eine große Leidenschaft für das Aushecken verrückter Betrügereien hegte, fühlte er sich nach wie vor unwohl dabei, wenn sich das Ensemble auf seine Einfälle verließ.
Ich bin doch noch so jung …
Glins mechanische Grille sprang ihm auf die Schulter und krallte sich im Stoff seines Hemdes fest. Er hatte sie Schönheit genannt (weil sie die Eigenart besaß, bei jeder Gelegenheit ihre aus winzigen Zahnrädern, Drahtfedern und Achsen bestehenden Gliedmaßen zu putzen). Glin lächelte – der Anblick des possierlichen Tierchens half ihm, die Anspannung ein wenig zu verdrängen.
Die Aufregung vor einer Darbietung war etwas, das nie vergehen durfte. Das hatten ihm alle älteren Mitglieder des Ensembles immer wieder gesagt. Denn Aufregung war der Funke, der nötig war, um im entscheidenden Moment die Flammen richtig anfachen zu können. War Glin nicht aufgeregt, wurde er womöglich selbstgefällig und begann Fehler zu machen.
Talmo sah ernst drein. Reihum blickte er jedem in die Augen und vergewisserte sich, dass sie allesamt vorbereitet waren. »Funktioniert das mit dem grünen Feuer dieses Mal besser, Shalimo?«
Der Chemistiker nickte eifrig, sein linkes Auge strahlte förmlich. Sein rechtes war aus Glas. In seiner Heimat war es ein schweres Vergehen, wenn ein Mann andere Männer liebte, und zur Strafe hatte man ihn auf einem Auge geblendet. »Ich habe die Zusammensetzung geändert. Bei einem daworjedischen Händler auf dem Markt habe ich ein neues Waschsalz erstanden, das –«
Talmo hob die Hand. »Danke«, unterbrach er mit einem Lächeln. Sie alle kannten die Begeisterungsfähigkeit ihres Chemistikers. »Ich wollte nur wissen, ob es funktioniert.«
»Das tut es.«
»Also gut«, meinte Talmo schließlich. »Wenn wir nur dreist genug sind …«
»… stehlen wir die gesamte Ruhende Welt«, skandierten die Herbstgänger im Chor.
»Mit einem Kuss auf die Stirn …«, fügte Talmo leise hinzu.
»… und einem Gebet auf den Lippen«, vollendeten die anderen flüsternd den zweiten Teil ihres Schwurs.
Rasch und geübt bezogen sie ihre Positionen, während Talmo durch den Vorhang glitt und vor das Publikum trat, um sie anzusagen.
3.
Conte Ginobaldi war von Anfang an begeistert gewesen von der Aufführung. Besonders von der Darbietung jener Schauspielerin, die ihn stark an die Beschreibungen der jungen Diva Madeire Kuska erinnerte, die vor beinahe zwei Jahrzehnten auf mysteriöse Weise das große Schauspielhaus von Vilsheil verlassen hatte.
Während des zweiten Aktes gab Ginobaldi sich gar der Vorstellung hin, er hätte diese legendäre Ikone tatsächlich wiederentdeckt.
Ein bleierner Glanz umgibt Euch, Herrscher.
Dunkelheit bricht hervor, die Euer Herz vergiftet
wie ein Toter im Brunnen das Wasser.
Sie zitierte die von Ginobaldi so innig geliebten Verse derart perfekt und wob sie scheinbar mühelos in ihre Darstellung ein, dass es dem Conte beinahe die Sprache verschlug. Es schien ihm ein Unding, dass jemand dermaßen gut spielen konnte – und dieses Talent vor einem Publikum aus dahergelaufenen Hafenarbeitern, Handwerkern und Tagelöhnern zum Besten gab.
Gleiches galt für den Rest des Ensembles. Wenngleich die Diva herausstach, so waren auch die übrigen Mitglieder der Truppe weit besser, als es sich für ein Theater in dieser Gegend hier gehörte.
Zur Ginobaldis großer Unterhaltung trug jedoch nicht bloß das schauspielerische Können bei, sondern auch die ideenreich geschaffene Inszenierung. Es musste einen sehr einfallsreichen Mechanisten in diesem Ensemble geben, der all die Falltüren und Hebebühnen konstruiert hatte, die jegliche Pausen zwischen Aufzügen und Akten überflüssig machten. In dieser Perfektion hatte Ginobaldi dies noch nicht gesehen: Darsteller verschwanden im Boden oder in der Rückwand. Bühnenbilder fuhren von unten und von den Seiten herein. Die Bühne bekam wie von Geisterhand Stufen oder wurde zu einem abschüssigen Hang, wenn die jeweilige Szene es verlangte.
Und die rasanten Einlagen erst! Das Publikum tobte vor Begeisterung, wenn das Stück schneller und draufgängerischer wurde. Schaukämpfe wurden wirbelnd, mit Pirouetten und Salti inszeniert. Es gab keine Schläge in die Luft, sondern jeder Schwertstreich wirkte, als wäre er im wahren Leben tödlich. Der Choreograph der Truppe hatte fantastische Arbeit geleistet und die junge Fechterin auf der Bühne lieferte sich hinreißende Duelle mit dem alten König und einem jungen Prinzen – dieser dargestellt von einem Mädchen, das wendig war wie ein junges Äffchen. Sie sprang Salti, als gäbe es nichts Leichteres, und erklomm Wände und Gerüste, als liefe sie auf ebenem Boden.
Ein genialer Chemistiker war ebenfalls am Werk. Die Menge an unterschiedlichen Lichteffekten konnte sich spielend mit...
Erscheint lt. Verlag | 12.9.2020 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | alte Architektur • alte Malerei • Bandentreue • Diebesgott • fahrende Leute • Ganoven • Genießer • Husarenstücke • Lagunenstadt • Lebenskünstler • Magie • Mittelalterroman • Mittelmeer • Morbidität • Theaterleute • Trickbetrüger |
ISBN-10 | 3-608-12018-1 / 3608120181 |
ISBN-13 | 978-3-608-12018-9 / 9783608120189 |
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