Agency (eBook)
498 Seiten
Tropen (Verlag)
978-3-608-12071-4 (ISBN)
William Gibson, geboren 1948 in South Carolina, wanderte mit 19 Jahren nach Kanada aus, um der Einziehung zum Vietnamkrieg zu entgehen. 1972 ließ er sich in Vancouver nieder, wo er noch heute mit seiner Familie lebt. Bekannt wurde er mit seinem 1984 erschienenen und vielfach preisgekrönten Roman Neuromancer, in dem er erstmals den Begriff »Cyberspace« prägte. 2019 wurde ihm der Damon Knight Memorial Grand Master Award für sein Lebenswerk verliehen.
William Gibson, geboren 1948 in South Carolina, wanderte mit 19 Jahren nach Kanada aus, um der Einziehung zum Vietnamkrieg zu entgehen. 1972 ließ er sich in Vancouver nieder, wo er noch heute mit seiner Familie lebt. Bekannt wurde er mit seinem 1984 erschienenen und vielfach preisgekrönten Roman Neuromancer, in dem er erstmals den Begriff »Cyberspace« prägte. 2019 wurde ihm der Damon Knight Memorial Grand Master Award für sein Lebenswerk verliehen. Benjamin Mildner, geboren 1984, hat Anglistik und Literatur studiert. Zu seinen bisherigen Übersetzungen zählen u. a. William Gibson und Shaun Prescott sowie mehrere Graphic Novels. Er lebt und arbeitet in Berlin.
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Die Phase unmittelbar nach dem Antritt einer neuen Stelle war ein ganz eigener Übergangszustand, machte Verity sich klar, während sie auf dem überfüllten Bahnsteig der U-Bahn-Station Montgomery Street stand und auf den Zug wartete, der sie zur Kreuzung von Sixteenth und Mission Street bringen sollte.
Zwanzig Minuten zuvor, nachdem sie den Arbeitsvertrag einschließlich einer wortreichen Verschwiegenheitsvereinbarung bei Tulpagenics unterschrieben hatte – einem Start-up, über das sie kaum etwas wusste –, hatte sie dessen CTO Gavin Eames die Hand geschüttelt, sich verabschiedet, war in den Fahrstuhl gestiegen und hatte sich erst entspannt, als sich die Türen schlossen und die sechsundzwanzig Stockwerke lange Abfahrt begann.
In diesem Moment hatte sie noch keine Unruhe über den neuen Job verspürt, und auch noch nicht auf der Montgomery, als sie zur Bahnstation gegangen war und dabei ihre Phat-Thai-Bestellung an die Osha-Filiale auf der Valencia Street getextet hatte. Als sie jedoch auf dem Bahnsteig, drei Treppen tiefer, angelangt war, hatte die Unruhe sie erreicht und hing an ihr wie die schwarze Messetasche, die unter ihrer Schulter baumelte, mit dem Siebdruck-Logo von Cursion darauf, dem Mutterkonzern ihres neuen Arbeitgebers, über den sie auch nur wenig wusste, abgesehen davon, dass er mit Games zu tun hatte.
Die Unruhe war jetzt, als der Zug einfuhr, endgültig bei ihr angekommen. Fast zwei Jahre war es her, dass sie so etwas empfunden hatte, dachte sie beim Einsteigen. Die Hälfte dieser Zeit war sie arbeitslos gewesen, was womöglich ein Grund für die jetzige Intensität dieses Gefühls war.
Während sich der Waggon füllte, griff sie nach einer Halteschlaufe.
Als sie an der Sixteenth wieder ans Tageslicht kam, ging sie zu Osha, holte ihr Phat Thai ab und machte sich auf den Weg zu Joe-Eddys Wohnung.
Sie würde erst essen und sich dann mit Tulpagenics’ Produkt befassen. Das war nicht einfach ein neuer Job, das war das mögliche Ende ihrer Zeit als Schlafgast auf Joe-Eddys vom Gehweg geborgener Porno-Couch.
Der frühnovemberliche Himmel sah fast normal aus – der Feinstaub aus Napa-Sonoma war größtenteils ins Landesinnere geweht –, auch wenn das Licht noch immer leicht versengt aussah. Sie wurde nicht mehr plötzlich von dem Brandgeruch geweckt, nur um sich dann wieder daran zu erinnern, woher er kam. Sie hatte die letzte Woche über das Küchenfenster geschlossen gehalten, das einzige Fenster, das Joe-Eddy jemals aufmachte. Sie würde die Wohnung bald mal richtig durchlüften und vielleicht versuchen, eins der Fenster, die auf die Valencia schauten, aufzubekommen.
Zurück in der Wohnung, schlang sie das Essen hungrig aus der schwarzen Plastikschale und ignorierte dabei geflissentlich den in der Luft wabernden Mief des unverdünnten Putzmittels, mit dem sie vor Gavins Anruf die hölzerne Tischplatte geschrubbt hatte. Wenn Joe-Eddys Job in Frankfurt länger dauerte, erinnerte sie sich, gedacht zu haben, während sie mit einem mittelkörnigen 3M-Schaum-Schleifklotz herumhantiert hatte, würde sie womöglich sogar den Küchenboden schrubben, zum zweiten Mal in etwas weniger als einem Jahr. Jetzt hingegen, nachdem sie den Vertrag bei Tulpagenics unterschrieben hatte, würde sie vielleicht dem Pärchen kündigen müssen, dem sie ihre Eigentumswohnung untervermietete, mittleren Führungskräften bei Twitter, die angeblich seit über drei Monaten keine Paparazzi mehr gesichtet hatten. Bis dahin, für wer weiß wie viele weitere Nächte auf dem weißen Lederimitatsofa, hatte sie ihren Seiden-Innenschlafsack, dessen hohe Fadenzahl sie vor der Porno-Krätze ihrer hartnäckigen Phantasie schützte.
Sie bedeckte die Reste ihres Essens mit dem bewundernswert kompostierbaren transparenten Deckel, stand auf, stellte sie in den Kühlschrank, spülte ihre Couch-Surfing-Essstäbchen ab und setzte sich wieder an den Tisch.
Wirklich aufgefallen war ihr, als Gavin die Tasche gepackt hatte, nur die Brille. Bei ihr konnte man sich nach eigenem persönlichen Geschmack entscheiden: Schildpatt-Optik mit goldenen Akzenten oder ein möchtegernskandinavisches Grau. Sie holte jetzt das unscheinbare schwarze Brillenetui aus der Tasche, öffnete es, nahm die Brille heraus und klappte die blassgrauen, minimalistischen Bügel aus. Die Brillengläser waren nicht getönt. Sie suchte nach einem Logo, einem Herstellungsland, einer Modellnummer, fand aber nichts dergleichen und legte die Brille auf den Tisch.
Als Nächstes holte sie eine flache weiße Pappschachtel hervor. Darin lag ein dünner, vakuumgeformter Einsatz, ebenfalls in Weiß, in dem ein unscheinbares schwarzes Handy klemmte. Es war, wie sie bemerkte, nachdem sie es aus dem Einsatz befreit hatte, ebenfalls nicht gekennzeichnet. Sie schaltete es ein und legte es neben die Brille. Eine kleinere weiße Schachtel enthielt ein ebenso unscheinbares schwarzes Headset mit einem einzelnen Ohrstöpsel. In einer anderen Schachtel befanden sich drei schwarze Ladegeräte, jeweils eins für die Brille, das Telefon und das Headset, die gewöhnlichsten Gegenstände der Konsumwelt, mit dünnen schwarzen, noch fabrikmäßig gewickelten Kabeln, fixiert von winzigen schwarzen Drahtbindern. Gavin zufolge alles Plug and play.
Sie nahm das Headset heraus, schaltete es an und klemmte es an ihr rechtes Ohr, um den Ohrstöpsel einzusetzen. Dann setzte sie die Brille auf und drückte den flachen Power-Knopf. Das Headset gab ein »Ping« von sich, und ein Cursor erschien. Ein weißer Pfeil, in der Mitte ihres Sichtfelds. Von selbst bewegte er sich nach unten, zu den leeren Schachteln, den Ladegeräten und dem schwarzen Handy.
»Dann wollen wir mal«, sagte eine rauchige Stimme in Veritys Ohr. Verity blickte nach rechts, in die Richtung, wo die Quelle der Stimme gewesen wäre, hätte es eine gegeben, und ermöglichte damit wem auch immer – der Person, die den Cursor kontrollierte – ungewollt einen Blick auf das Wohnzimmer. »Du bist echt ’n Messie, Gavin«, sagte die Stimme, nachdem der Cursor Joe-Eddys Werkbank fixiert hatte, diesen Miniatur-Schrottplatz aus halb auseinandergebauten alten Elektrogeräten.
»Ich bin nicht Gavin«, sagte Verity.
»Ach was«, sagte die Stimme trocken.
»Verity Jane.«
»Das hier ist nicht das Büro, oder, Verity Jane?«
»Wohnung von ’nem Freund.«
Der Cursor durchquerte das Wohnzimmer, bis zu den geschlossenen Vorhängen. »Was ist da draußen?«
»Valencia Street«, sagte Verity. »Wie soll ich dich nennen?«
»Eunice.«
»Hi, Eunice.«
»Selber hi.« Der Cursor glitt hinüber zu Joe-Eddys japanischem Fender-Jazzmaster-Nachbau. »Spielst du?«
»Der Freund. Du?«
»Gute Frage.«
»Du weißt es nicht?«
»Absolute Leere.«
»Was bitte?«
»Herrscht bei mir in diesem Bereich. Willst du mir mal zeigen, wie du aussiehst?«
»Wie?«
»Im Spiegel. Oder nimm die Brille ab und richte sie auf dich.«
»Kann ich dich dann sehen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Gibt nix zu sehen.«
»Ich muss mal auf die Toilette«, sagte Verity und stand auf. »Ich lass die Brille hier.«
»Würd’s dir was ausmachen, die Vorhänge aufzuziehen?«
Verity ging zum Fenster hinüber und zerrte die beiden Schichten des staubigen, blickdichten Vorhangs beiseite.
»Leg die Brille hier ab«, sagte die Stimme, »dann kann ich aus dem Fenster gucken.«
Sie nahm sie ab, positionierte sie mit ausgeklappten Bügeln so, dass die Brillengläser auf die Straße blickten, auf einem IKEA-Hocker, dessen Sitzfläche von Lötkolben-Stigmata gebrandmarkt war. Dann schob sie, für die ihrer Ansicht nach notwendige Erhöhung, das deutschsprachige Making-of-Buch einer brasilianischen Telenovela darunter. Sie nahm das Headset ab und legte es auf das Buch, neben die Brille, machte einen Abstecher in die Küche, wo sie ihr eigenes Handy aus ihrer Handtasche nahm, und ging dann durch den schmalen Flur ins Bad. Während sie die Tür hinter sich schloss, rief sie Gavin Eames an.
Er meldete sich sofort. »Verity, hallo.«
»Ist das echt?«
»Haben Sie die Verschwiegenheitsvereinbarung nicht gelesen?«
»Das waren mir zu viele Klauseln.«
»Sie haben zugestimmt, nichts Substantielles über nicht firmeneigene Kommunikationsgeräte zu besprechen.«
»Könnten Sie mir bitte nur sagen, dass nicht irgendwo irgendjemand sitzt und Eunice macht, mir zuliebe?«
»Nicht in dem Sinne, wie Sie es vermutlich meinen, nein.«
...Erscheint lt. Verlag | 12.9.2020 |
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Übersetzer | Cornelia Holfelder-von der Tann, Benjamin Mildner |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Agency • Apokalypse • Bestsellerautor • bladerunner • Chloë Grace Moretz • Cyberpunk • Cyberspace • Dystopie • Fantasy • Gary Carr • Google • GoogleGlass • Jackpot • Jackpot-Trilogie • Jonathan Nolan • lisa joy • neuromancer • New York Times-Bestseller • Peripheral • Peripherie • Roman • Science-fiction • Scott Smith • The Peripheral • Thriller • westworld • Zukunft |
ISBN-10 | 3-608-12071-8 / 3608120718 |
ISBN-13 | 978-3-608-12071-4 / 9783608120714 |
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