Der Gepäckträger (eBook)
171 Seiten
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-921-1 (ISBN)
Kapitel 2
David Byrne hastete zur Gepäckausgabe, die von einem Netz aus Stahlspeichen und glänzendem Metall überspannt war. Eine Wand aus Menschen und Geplapper versperrte ihm den Weg; Passagiere aus fünf Flugzeugen umringten die Förderbänder.
David fluchte leise. Er war absolut nicht in der Stimmung, sich von irgendwelchen Leuten aufhalten zu lassen. Nicht nach allem, was gestern Abend passiert war.
Zielstrebig bahnte er sich einen Weg durch die Menge und suchte an den Anzeigetafeln nach seiner Flugnummer. Am Band, das am weitesten vom Ausgang entfernt war, flackerte der Bildschirm, dann leuchteten die passenden Ziffern auf, doch das schwarze Gepäckband blieb still.
David wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er musste dem Vorstand unbedingt gelassen gegenübertreten. Zum Glück wurde er zum Meeting gefahren und konnte unterwegs noch einmal in Gedanken die Präsentation durchgehen. Er würde denen schon beweisen, wie falsch sie lagen! Und vorher konnte er ja schauen, was die Minibar hergab, und sich noch ein wenig Mut antrinken. Er hatte sich zehn Jahre lang mit Leib und Seele für Sisyphus Financial aufgeopfert. Was wollten sie noch?
Sein Handy schwieg. Keine Nachricht von Sharon. Was konnte man an seinem Ultimatum missverstehen?
Versprich mir, dass es wirklich vorbei ist.
Sharon hatte geschwiegen. Und tat es immer noch.
David suchte in seinem Telefon nach einer Nachricht mit den Details über seine Ankunft. Seine Suche war ergebnislos. Vor einem Jahr noch hatte der Vorstand für ihn den roten Teppich ausgerollt: Eine Limousine mit voller Minibar für den erfolgreichsten Zweigstellenleiter im ganzen Land. Er verzog das Gesicht. Die letzten zwölf Monate waren hart gewesen. Nicht nur fürs Geschäft.
Wie von selbst rief er seine Bildergalerie auf und tippte auf ein Familienfoto aus einer glücklicheren Zeit. An diesem Tag hatte Caitlin ihr Elsa-Kleid bekommen und in seiner kleinen Familie war das Eiskönigin-Fieber ausgebrochen. Sharon lächelte – schon deshalb wusste er, wie alt das Bild ungefähr war –, aber Caitlin strahlte geradezu. David ging noch immer das Herz auf, wenn er daran dachte, wie glücklich er sie mit seinem Geschenk gemacht hatte. Er hatte die Läden in der ganzen Stadt nach der kleinsten Kleidergröße durchkämmt, um seine sechsjährige Prinzessin in eine Disney-Königin zu verwandeln.
David dachte an den Grund, warum er hergekommen war, und die glückliche Erinnerung wurde sofort überschattet. Wenn er seinen Job verlor, würde Caitlin keinen Grund mehr haben zu strahlen.
Eine Reihe von zwölf Männern in Anzügen stand am Ausgang. Ihre auffälligen Chauffeurmützen kontrastierten mit den weißen Schildern, die sie vor der Brust hielten.
Welcher ist meiner? Bestimmt der Große mit dem Zahnpastalächeln.
Das gewundene, schwarzsilberne Monstrum von Gepäckband rührte sich immer noch nicht. Hinter den Wänden herrschte das Flughafentreiben, dröhnten Motoren und quietschten Reifen. Auch an den anderen Bändern herrschte eifrige Geschäftigkeit. Alle außer ihm bekamen ihre Koffer zurück und rauschten davon.
Hinter ihm räusperte sich jemand. »Verzeihung, Sir?«
David blickte über die Schulter. Ein junger Mann mit marineblauem Basecap und blauer Latzhose lehnte sich an einen glänzenden Gitterwagen. Auf seiner Brust prangte ein Schild mit der Aufschrift »Gepäckservice«.
»Ja?«
Der junge Mann zog kurz seine Kappe und dicke schwarze Locken fielen ihm in die Stirn. Er wippte auf den Fußballen. »Ich bin der Gepäckträger. Brauchen Sie Hilfe mit Ihren Sachen?«
Ein Glücksfall. Der erste seit Langem.
David drehte sich um. »Wissen Sie«, sagte er, »ich muss schleunigst hier raus, also, wenn Sie herausfinden könnten, wo mein Koffer bleibt, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
Der Gepäckträger lächelte. »Tut mir leid, Sir, da müssen Sie sich einfach noch ein bisschen gedulden. Aber ich stehe bereit, wenn Sie Hilfe beim Tragen brauchen.« Seine tiefblauen Augen strahlten mit seinem Lächeln um die Wette.
Davids Nerven lagen blank. Was um alles in der Welt dauerte da so lange? Er brauchte die Verkaufszahlen, um überhaupt noch eine Chance zu haben, seinen Job zu behalten. Hätte er sie doch bloß im Handgepäck mitgenommen! Wieso konnte die Airline nicht einmal vernünftig ihre Arbeit machen?
»Wie gesagt, wenn Sie mich brauchen, bin ich sofort für Sie da.« Der Mann schob seinen Wagen zum anderen Ende des Gepäckbands.
Komischer Vogel.
Allmählich trudelten die Passagiere von Davids Flug ein und machten seinen durch den Sprint vom Flugzeug gewonnenen Vorsprung zunichte. David schnaubte und angelte in seiner Tasche nach einer weiteren Magensäuretablette. Seine Bauchschmerzen wurden immer schlimmer. Kein Wunder, schließlich stand seine Existenzgrundlage auf dem Spiel und er würde in Kürze zwölf Herren gegenüberstehen, die sich nur dafür interessierten, wie viel Geld er einbrachte. Wer würde da keine Stresssymptome zeigen?
Eine Frau stellte sich neben ihn und hievte sich schwitzend eine große Reisetasche mit Blumenmuster über die Schulter. Sie sah aus, als würde sie überall sein wollen, nur nicht hier. Willkommen im Klub.
David beugte sich etwas näher zu ihr. »Guten Flug gehabt?«
Ihr aufgesetztes Lächeln erstickte das Gespräch im Keim. David kannte dieses Lächeln. Sharon hatte es in den letzten Monaten perfektioniert.
Das Gepäckband ruckte und David wandte sich wieder den schwarzen Gummistreifen zu, durch die die Gepäckstücke jeden Moment hindurchkommen sollten. Da! Oder auch nicht. Kurz hatte er sich eingebildet, dass der Vorhang sich bewegte.
Das Band setzte sich in Schneckengeschwindigkeit in Gang. Ein Aufkleber – auf ewig verbunden mit dem dunklen Grund – zog hypnotisierend langsam an ihm vorüber und verschwand im breiten Bogen auf die andere Seite der Ausgabe. Und sein Koffer war noch immer im Bauch des Flughafens gefangen.
Wird das heute noch was?
* * *
Gillians Handy piepte und es war, als würde sie in diesem Augenblick in ihrem eigenen Leben zur Zuschauerin.
Ich bin gleich bei dir und nehm dir den Koffer ab.
Becky, die große Schwester, die ewige Beschützerin. Eine Superheldin, die ihren Umhang liebte.
Hinter ihr stieß jemand einen Freudenschrei aus. Gillian drehte sich um und sah, wie eine junge Frau einem jungen Mann mit einem riesigen Blumenstrauß um den Hals fiel.
Ich wünschte, Rick würde mich mal so empfangen.
Ihr Telefon klingelte und irgendwie hatte sie Beckys Stimme schon im Ohr, bevor sie ranging.
»Gilly, ich bin bei der Gepäckausgabe. Wo bist du?«
Sie schaute sich um und sah Becky auf Zehenspitzen drei Gepäckbänder weiter stehen und ihrerseits suchend durch die volle Halle spähen, bis ihre Blicke sich trafen. Becky winkte und eilte herbei; wie selbstverständlich ließen die Wartenden sie durch.
»Schön, dass du es geschafft hast!« Becky legte Gillian die Hände auf die Schultern. »Lass dich doch mal ansehen.«
Gillian wollte nicht angesehen werden. Ihr Blick ging zu Boden. Das Gefühl, im Schatten ihrer Schwester zu stehen, war schmerzhaft vertraut. Hochgewachsen wie sie war, im Bleistiftkleid, durchgestylt von den blonden Haaren bis zu den lackierten Zehen in Peeptoes von Dolce & Gabbana, bot Becky wie immer ein beeindruckendes Bild. Gillian wand sich unter ihrer eingehenden Musterung. Sie war sich ihrer kaum als solcher erkennbaren Frisur – dem Resultat eines hastigen Aufbruchs vor Sonnenaufgang – nur zu bewusst; ihr Make-up war noch im Koffer und unter ihren Augen zeigten sich mit hoher Wahrscheinlichkeit Tränensäcke, die auf einem der Gepäckkarussells hätten mitfahren können.
»Wie geht’s dir?« Becky umarmte Gillian fest und hüllte sie dabei in ihre Chanel-Wolke. »So eine dumme Standardfrage, oder? Der Flug war okay, schätze ich? Du, ich muss mein Konzept für die Blumendeko beim Pre-Wedding-Dinner abliefern. Ich werde dich zu Hause absetzen und das gleich erledigen. Ich habe uns zum Lunch einen Tisch im Marcellinas reserviert. Es gibt so viel zu erzählen! Wie lange haben wir uns nicht gesehen? Gab es eigentlich Turbulenzen während des Flugs? Und habt ihr es gut zum Flughafen geschafft?«
Wie immer sprang Becky von Thema zu Thema wie eine Jeopardy!-Kandidatin mit Espresso-Flatrate.
Jetzt löste sie sich ruckartig von Gillian. »Ach, es ist so toll, dass du da bist! Ich freue mich so, dass es geklappt hat. Es ist schon viel zu lange her und die Woche wird grandios, glaub mir! Wir sind ja alle so aufgeregt wegen Jessicas Hochzeit. Verrückt, dass sie wirklich schon heiratet!«
Und so fing es an. Fünf Tage allein mit Quasselstrippe Becky, die nicht nur ohne Punkt und Komma über ihr Leben redete, sondern dabei auch unentwegt heraushängen ließ, wieso sie so viel besser darin war, ein derart großartiges zu führen.
»Wo ist denn überhaupt dein Koffer?« Becky versuchte über die Köpfe der Menschen zu schauen, die sich um das Gepäckband scharten. Gillians Blick fiel auf einen pinkfarbenen Button an Beckys Revers, der genau auf Augenhöhe angebracht war: MUTTER DER BRAUT. Es ist auch mein Tag.
Ihre große Schwester rempelte sich durch die...
Erscheint lt. Verlag | 1.6.2020 |
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Übersetzer | Julian Müller |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The baggage Handler |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Eifersucht • Erzählung • Gepäck • Lebenslasten • Lebensträume • Parabel • Perfektionswahn • Selbstreflektion • Vergebung |
ISBN-10 | 3-96362-921-5 / 3963629215 |
ISBN-13 | 978-3-96362-921-1 / 9783963629211 |
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Größe: 434 KB
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