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Krass (eBook)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
528 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-90413-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Krass -  Martin Mosebach
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Ralph Krass - so heißt ein verschwenderisch großzügiger Geschäftsmann, der Menschen mit kannibalischem Appetit verbraucht. Ist er unendlich reich oder nur ein Hochstapler, kalt berechnend, oder träumt er hemmungslos? Er will sich seine Gesellschaft kaufen, immer nur selbst der Schenkende sein. Als in Neapel Lidewine in seinen Kreis tritt - eben noch die Assistentin eines Zauberers, eine junge Abenteurerin -, bietet er ihr einen ungewöhnlichen Pakt an. Beobachtet wird das Ganze von seinem Sekretär, dem Pechvogel Dr. Jüngel, mit einem Blick voll Neid und Eifersucht. Aber erst nachdem die Gesellschaft von Herrn Krass durch einen Eklat auseinandergeflogen ist, gelingt es ihm, an seinem Zufluchtsort in der französischen Provinz, die Mosaiksteine des Geschehenen zu einem Bild zu ordnen - während Menschen wie der stumme Kuhhirte Toussaint, der Schuster Desfosses und Madame Lemoine mit ihren Wellensittichen ihm eine Ahnung davon vermitteln, wie alles mit allem rätselhaft zusammenhängt. «Krass», dieser atmosphärische, bildstarke Roman über das, was das Verstreichen von Zeit mit Menschen tut, ist zugleich Liebesroman und Mephisto-Geschichte - manchmal aufgehellt durch leisen Humor, aber vor allem dunkel und in dieser Dunkelheit ergreifend schön. Eine große Erzählung, die den Bogen von Neapel über Frankreich bis nach Kairo schlägt, und eines der fesselndsten, ja überraschendsten Bücher, die Martin Mosebach bisher geschrieben hat.

Martin Mosebach, geboren 1951 in Frankfurt am Main, war zunächst Jurist, dann wandte er sich dem Schreiben zu. Seit 1983 veröffentlicht er Romane, dazu Erzählungen, Gedichte, Libretti und Essays über Kunst und Literatur, über Reisen, über religiöse, historische und politische Themen. Dafür hat er zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhalten, etwa den Heinrich-von-Kleist-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, den Georg-Büchner-Preis und die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt. Er ist Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung, der Deutschen Akademie der Künste in Berlin-Brandenburg sowie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und lebt in Frankfurt am Main.

Martin Mosebach, geboren 1951 in Frankfurt am Main, war zunächst Jurist, dann wandte er sich dem Schreiben zu. Seit 1983 veröffentlicht er Romane, dazu Erzählungen, Gedichte, Libretti und Essays über Kunst und Literatur, über Reisen, über religiöse, historische und politische Themen. Dafür hat er zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhalten, etwa den Heinrich-von-Kleist-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, den Georg-Büchner-Preis und die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt. Er ist Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung, der Deutschen Akademie der Künste in Berlin-Brandenburg sowie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und lebt in Frankfurt am Main.

Erster Teil Allegro imbarazzante


1


Harry Renó verzichtete bei seinen Illusionsabenden auf viel Dekor; in seinem Smoking stand er auf der Bühne, umgeben von einem schwarzen Kasten – seine Hand sehr hell, sein Haar silbrig-farblos, die Requisiten im harten Scheinwerferlicht weiß glänzend. Der Anblick glich einem Schwarz-Weiß-Photo, vor allem wenn er aus leichter Beweglichkeit unversehens in einer leicht manierierten Haltung erstarrte und das Publikum zappeln ließ, bis wieder Leben in ihn fuhr. Eben hatte er sich eine Zigarette angezündet, vom Saal halb abgewandt, um die Flamme vor Zugluft zu schützen. Er tat, als sei er allein und habe eben gerade Lust zu rauchen. Dann richtete er sich auf, saugte genußvoll, legte den Kopf zurück, und nach einem Moment vollständiger Ruhe quoll Rauch aus dem halbgeöffneten Mund, so fest und konzis wie ein schmales Band. Er tat einige Schritte. Der Rauch blieb in der Luft stehen, er verflüchtigte sich nicht. Und nun schrieb er, über die Bühne schlendernd, die Hände in den Jackentaschen, in schöner großer Kurrentschrift «Amore mio, io sono pazzo di te» in die Luft – deutlich standen die Wörter vor der schwarzen Wand. Er hingegen schaute in den Saal. Suchte er in der Menge die Frau, der das Geständnis galt? Ein Augenblick der Verblüffung. Dann rauschte der Beifall auf.

Der Zauberkünstler verbeugte sich knapp, als habe er sich mit seiner Nummer vor allem selbst ein Vergnügen bereitet und fühle sich durch den Applaus geradezu gestört, da öffnete sich die hintere Tür noch einmal, und ein Zug von Menschen wurde durchs Dunkel in die erste Reihe des kleinen Saales geführt. Diese Gesellschaft war von Santa Lucia auf den Vomero heraufgefahren, um hier neapolitanisches Volkstheater zu sehen, «Miseria e nobiltà» von Scarpetta, war aber zum falschen Tag und zur falschen Stunde erschienen, wie sich erst im Foyer herausstellte.

Der junge Mann, der die Gruppe führte, eher klein gewachsen, mit Brille im mageren Gesicht, war mit dem ersten Taxi angelangt, die übrigen waren zu seiner Erleichterung im Verkehr steckengeblieben. Der Schweiß brach ihm aus, er fuhr sich durch den Haarschopf, der danach hahnenkammartig gesträubt war.

«Es geschieht, was nicht geschehen darf …» Das war eine Regel, die aber nicht beruhigte. Zum Glück im Unglück gab es noch teure Karten ganz vorn. Als die anderen eintrafen, hatte er sich auch schon eine Ausrede zurechtgelegt – das Programm sei kurzfristig geändert worden, die Direktion habe deshalb gute Plätze freigehalten, man bitte um Entschuldigung.

Die Leute schoben sich ins Dunkle hinein, da hielt ein schwerer Mann mit großem Kopf und finsterer Miene ihn zurück.

«Wie konnte das passieren?»

Die Frage klang bedrohlich. Dem jungen Mann wurde so heiß, daß seine Brillengläser beschlugen.

«Herr Doktor Jüngel, solche Dinge müssen Sie verhindern; ich habe hier anspruchsvolle Gäste, die haben keine Zeit. Ich hoffe, die Organisation des späteren Abends steht.» Er wandte sich ab und verschwand gleichfalls im Dunkel.

Der junge Mann, der für den Namen Jüngel viel zu alt aussah, unfrisch und wie nicht ganz gesund, tappte ihm mit eingezogenem Kopf hinterher, als gelte es, nach der Abstrafung weniger Platz einzunehmen. Schon als er an der Bar des Hotels Excelsior das Abendprogramm vorgestellt hatte, war ihm plötzlich unwohl geworden: Das von ihm ausgesuchte Volksstück handelte von armen Leuten, die einem reichen Mann aristokratische Verhältnisse vorspielen, um ihn mit lauter Marchesi und Principesse derart zu verwirren, daß er vergißt, die Hände auf seinen Taschen zu halten – so im Groben –, aber konnte Herr Krass, sein furchterregender Chef, das nicht irgendwie auf sich beziehen? Sich womöglich in die Kategorie bedenkenlos auszunehmender reicher Leute eingeordnet finden? Er war ungewöhnlich souverän, doch man wußte nie, wo selbst bei einem solchen Mann die Empfindlichkeiten begannen. Von daher vielleicht sogar ein Segen, daß «Miseria e nobiltà» erst morgen auf dem Programm stand?

Der Zauberkünstler war, nicht nur der Name ließ es vermuten, kein Italiener, hatte aber die flüssige Sprachbegabung, wie sie dem fahrenden Volk nützlich ist. Seine Blässe war beinahe albinohaft, das fein gelöckelte weißblonde Haar, mit Pomade fest an den Kopf geklebt, blitzte metallisch. Von weitem schien er wimpernlos, die Farblosigkeit machte die Härchen unsichtbar, das gab ihm einen eigentümlich kalten und nackten Blick. Ein schöner oder wenigstens hübscher Mann war der Zauberer nicht, aber er strahlte vor Kraft und Intelligenz, man traute ihm Überraschungen zu. Stammte er aus Finnlands ewiger Dunkelheit oder aus Lettland oder Estland? Sein Stil, mit dem Saal Verbindung aufzunehmen, unterschied sich von den üblichen Schmeicheleien seiner Kollegen, nie wäre «Sie sind ein wunderbares Publikum» über seine Lippen gekommen. Er ging eher streng mit den Zuschauern um, verspottete sie gar ein wenig, belauerte sie, war wie ein Drachentöter alter Sagen, der allein vor dem hundertköpfigen Monstrum steht und es mit Finten und Scheinausfällen zu täuschen sucht.

«Sehen Sie, es gibt Leute, die behaupten, es gebe für alles einen Trick, man müsse ihn nur herausfinden. Wir sind hier in Neapel – auch ein Vesuv-Ausbruch oder ein Erdbeben: nur ein Trick! Wer der Natur in die Karten schauen kann, weiß alles.»

Er sprach sehr schnell. Jüngel, ganz gut im Italienischen, verstand ihn kaum, verwickelte sich zudem in dieser generalisierenden und etwas irrationalen Rhetorik – wieso sollte ein Erdbeben ein Trick sein?

«Nein, falsch! Wer wirklich intelligent ist, der weiß: Es gibt Dinge, die sind kein Trick, die sind unerforschbar. Es gibt Phänomene der Unbegreiflichkeit, einer Imprevisibilità.»

Welch ein Wort, gab es das überhaupt? Der Mann aus dem Norden tat so. Aber jetzt brauchte er Mitwirkung.

«Und zwar vor allem Ihretwegen, meine Damen, meine Herren, denn ich will mir später nicht anhören müssen, ich hätte Ihnen etwas vorgemacht. Nein, Sie sollen selber sehen, Sie sollen jeden Schritt verfolgen und mir auf die Finger gucken. Aber machen Sie Ihre Augen auch auf! Ich schätze ein skeptisches Publikum, mit kindlicher Leichtgläubigkeit ist mir nicht gedient. Sie sollen meine Arbeit verfolgen wie Ihren schlimmsten Feind!» Aus seiner Smokingjacke zog er einen Briefumschlag mit einem roten Siegel hervor – den habe er heute nachmittag bei dem bekannten Notar Cocco Palmerio unter Zeugen versiegeln lassen. Und nun bitte er sechs Herrschaften auf die Bühne: Bloß keine Schüchternheit. «Ich brauche vor allem Leute, die dem Laden hier nicht trauen, eher Kontrolleure als Assistenten. Signora, Sie sehen so ungläubig aus, wollen Sie nicht heraufkommen? Und der Signore, ein Wissenschaftler, ein Rationalist, habe ich nicht recht?»

«Kein Rationalist, ein Raggioniere.» Der Mann, ein älterer Kahlkopf, hatte die Lacher auf seiner Seite, aber Harry Renó, mit zusammengekniffenen Augen, schien nichts dagegen zu haben – lacht nur, schien er zu denken. «Und was ist mit Ihnen, Signora?» Er wandte sich zu einer eleganten Frau, die neben Herrn Krass saß, mit weißem streichholzlang geschnittenen Haar und Riesenohrgehängen aus Schildpatt.

Sie erhob sich mit spöttischem Lächeln und ging mit lautem Klackern ihrer hohen Absätze die Bühnentreppe hinauf, seinen Gruß erwiderte sie auf Französisch.

«Ah, Madame est française», dem Zauberer fiel der Wechsel nicht schwer. Ganz kurz hatte er wohl auch Herrn Krass im Auge gehabt, der da so breit vor seiner Nase saß, aber als ihre Blicke sich begegneten, las er in dessen Miene eine solche Drohung, daß er schnell zu einem Mann mit gelblichen Wangen und einer mütterlichen Matrone weiterglitt.

Als letzte der sechs Personen drängte sich aus der Mitte des Saals ein hochgewachsenes Mädchen durch die Reihen, von der ganzen Gestalt her eine junge Frau mit selbstbewußt den Körper ausstellendem Gang, in aufrechter Haltung, den Bauch eingezogen, den Kopf mit den Haarfluten zurückgeworfen. Sie trug ein enges Kostüm mit ziemlich langem Rock, ein Schlitz machte große Schritte möglich. Alles an ihr war betrachtenswert – ihr eigentümlich quadratisches Gesicht, Mund und Augen ausdrucksvoll, die Blicke neugierig hin- und herwandernd, die Lippen halb geöffnet. Jüngel blickte vor allem auf ihre Beine, die fest und wohlgeformt unter dem engen Rock hervorkamen, zugleich etwas starr wie jene Zelluloidbeine, die im Schaufenster mit gestrecktem Fuß die über sie gespannten Strümpfe vorführen. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie beim Draufklopfen hohl geklungen hätten.

Auch von ihr wollte Harry Renó die Herkunft wissen – «aus Belgien», kam es auf Italienisch, und er wandte sich an die französische Dame wie an eine Verbündete, indem er in gespielter Verzweiflung «Toujours les Belges!» rief. «Wem gebe ich den Umschlag? Zu wem habe ich das meiste Vertrauen?» Nachdenklich ließ er seine sechs Gäste Revue passieren, drehte sich dann auf dem Absatz herum und reichte den Brief der hinter ihm überrascht zurückweichenden Belgierin.

«Aber bevor Sie ihn einstecken, überprüfen Sie bitte das Siegel!»

Sie hielt den Brief mit beiden Händen – sie waren groß wie alles an ihr – und schaute etwas verdutzt darauf.

«Das Siegel ist unzerstört? Klebt gut? Dann weg mit dem Brief, denn jetzt wird gearbeitet.»

Unterdessen hatten zwei Bühnenarbeiter eine Schiefertafel im Hintergrund aufgebaut und sie danach mit einem Paravent verdeckt.

«Jeden von Ihnen werde ich...

Erscheint lt. Verlag 26.1.2021
Verlagsort Hamburg
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Abhängigkeit • Creuse • Entwicklungsroman • Kairo • Liebe • Macht • Mephisto • Neapel • Ralph Krass • Roman • spiegel bestseller 2021 • Westend • Zeitmangel
ISBN-10 3-644-90413-8 / 3644904138
ISBN-13 978-3-644-90413-2 / 9783644904132
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