Die Farbe von Glück (eBook)
352 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99794-2 (ISBN)
Clara Maria Bagus hat im Alter von acht Jahren ihre ersten Geschichten für Zeitungen geschrieben. Sie studierte Psychologie in Konstanz und Stanford und war einige Zeit in der Hirnforschung tätig, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Nach vielen Jahren im Ausland lebt die Bestsellerautorin heute mit ihrem Mann und ihren Zwillingssöhnen in Bern.
Clara Maria Bagus hat in den USA und in Deutschland Psychologie studiert und war einige Zeit in der Hirnforschung tätig. Ihr Lebensweg führte sie über zahlreiche Kontinente. Dort begegneten ihr immer wieder Menschen auf der Suche nach sich selbst. In einer Welt, in der Orientierung schwer zu finden ist, hat sie ihnen durch ihre berührenden Bücher geholfen, den roten Faden ihres Lebens wiederzufinden. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren Zwillingssöhnen in Bern.
1
Menschen unterscheiden sich in ihren Träumen. In ihren Hoffnungen sind sie alle gleich.
Antoines Geschichte beginnt zweimal. Einmal mit dem Tag seiner Geburt. Und ein zweites Mal, sechs Jahre später, am Tag, an dem seine Mutter Marlene verschwand.
Es war viel zu früh, um zu sterben. Und schlimmer noch als der Tod war das Schicksal, an das Antoine seine Mutter verlor.
»Warte hier«, hatte Marlene zu ihrem Sohn gesagt. »Warte hier, bis ich zurück bin.«
Er war ihr bis zum Gartentor gefolgt, weinte, krallte sich an ihrem Oberschenkel fest, flehte sie an, ihn mitzunehmen. Aber Marlene ging einfach weiter. Versuchte ihn von ihrem Bein abzuschütteln wie eine lästige Fliege. Setzte einen Fuß vor den anderen. Ohne zu ihm hinabzublicken.
»Lass das.«
»Wann kommst du wieder?«
»Rechtzeitig.«
»Wann ist rechtzeitig?«
Marlene wandte sich ihm ein letztes Mal zu, hockte sich vor ihn auf den sandigen Kiesweg, zerzauste ihm das Haar, nahm sein Gesicht für einen Moment in ihre Hände und sagte: »Warte einfach.«
Zweifel blitzten in Antoines Augen auf. Marlene fuhr mit der Handfläche über den feuchten Lehmboden und schrieb ihm mit der an ihren Fingern haftenden Erde etwas auf die Stirn. Dies alles geschah mit einer gewissen Endgültigkeit, die er damals nicht verstand.
Schließlich stand sie auf, drehte sich um, schob den Holzriegel nach hinten, öffnete die Tür und trat, ohne sich nochmals umzudrehen, durch das gemauerte Tor hinaus auf die Straße. Sie ließ ihren Sohn allein zurück – ohne die Zukunft, die sie ihm versprochen hatte. Zog in eine ferne Welt, die Antoine viele Jahre verschlossen bleiben sollte.
Er folgte mit seinem Blick jedem ihrer Schritte über den Pfad, der sich an Weizenfeldern entlang und zwischen Trauerweiden hindurchschlängelte, bis sie sich in dem sie immer stärker umgebenden Geäst auflöste, Teil von ihm wurde. »Mama«, schrie er ihr nach, als der blaue Zipfel ihres Kleides endgültig verschwunden war. Ein Schrei, der alles durchschnitt, als ob sie ihm das Herz entrissen hätte. Ein Schrei, der jedem, der ihn hörte, in der Seele wehtat.
Die Zeit verlangsamte sich, bis sie ganz stillstand. Allein stand er da in einem bloßen löchrigen weißen Pyjamahemd. Auf dem Kiesweg. Auf Steinchen, die sich in seine Fußsohlen bohrten. Und wartete. Stunden. Den ganzen Tag. Im Regen, der in feinen dünnen Fäden vom Himmel fiel.
Er sehnte sich nach irgendetwas Vertrautem, an das er sich klammern könnte. Selbst der Garten, das Haus, alles um ihn herum erschien ihm plötzlich fremd. Ohne sie.
Und noch bevor der Vorhang der Dunkelheit auf ihn herabsank, buchstabierte ihm sein Verstand in aller Klarheit, was er bereits geahnt hatte: Sie würde nicht zurückkommen. Sie würden sich auf diese Weise nicht wiedersehen.
Umgeben von Pfützen mit kaffeebraunem Wasser, schrumpfte er auf der matschigen Erde zu einem triefenden Schmutzbündel zusammen.
Schon am Morgen hatte sich Antoine gewundert, dass Marlene, im Haus hin und her schreitend, ihre Sachen zusammensuchte und in eine Tasche stopfte. Schon am Morgen hatte er ein unbehagliches Gefühl, als er sah, wie sie vor dem Spiegel stand, eine Schere in der Hand, und sich die Haare abschnitt. Wie sie ihr prächtiges schwarzes Haar in Zeitungspapier einschlug und es ins Kaminfeuer warf. Wie sie sich ein blaues Kleid aus Wolle überzog, das ihrem gewöhnlichen Stil überhaupt nicht entsprach. Schon am Morgen war ihm unwohl, ohne zu wissen, dass er nach diesem Tag viele Jahre brauchen würde, um die Teile seines blauen Himmels wieder zusammenzusetzen.
Antoine stellte sich eine Frage nach der anderen. Versuchte, eine Tür ins Ungenannte aufzustoßen. Doch auf manche Fragen gibt es keine Antworten. Bloß Erinnerungssplitter, die unbeschriftet bleiben. Bilder, die fortdauern. So auch das Bild seiner Mutter. Wie sie in ihrer schmalen Statur zum Gartentor schritt, ohne sich noch einmal umzudrehen. Wie sie in die letzte Woge des frühmorgendlichen Laternenlichts trat und für immer daraus verschwand.
Die Zeit heilt nicht alle Wunden. Sie trocknet sie nur aus. Warum verlässt eine Mutter ihr Kind? Ohne Nachricht, ohne Erklärung. Warum geschehen Dinge, die uns dazu veranlassen, uns ein ganzes Leben lang die Frage nach dem »Warum« zu stellen? Ein Warum, dass uns aushöhlt wie ein Wurm eine Frucht.
Was sich über Antoine zu diesem Zeitpunkt sagen ließ, war, dass ihm alles Schreckliche, was einem Kind passieren konnte, bereits passiert war. Viel zu früh hatte er lernen müssen, dass Menschen selten die sind, für die wir sie halten. Und auch selten da sind, wo wir sie brauchen.
Und doch durfte er gleichsam erfahren, dass es immer irgendjemanden gibt, der aus einem Winkel der Welt zusieht. Und der plötzlich da ist. Bei uns. Für uns. In seinem Fall war es Charlotte.
Charlotte stand plötzlich da. Vor Antoine. Im Garten. Er sah sie nicht. Aber er spürte sie. Der kleine Junge hockte in der durchfeuchteten Erde. Sein gelocktes Haar war vom Regen glatt geworden und klebte an seiner Kopfhaut. Das eisige, nasse Pyjamahemd pappte an seinem Körper und ließ die Haut hindurchschimmern. Er zitterte. Dünne, lilafarbene Äderchen durchzogen die Lider seiner geschlossenen Augen. Es war eine feuchte, kalte Nacht mit eisigem Wind. Noch viele Jahre später sollte sich Charlotte daran erinnern. Wolken wie schwarze Blutflecken, ganz so, als ob der Himmel spiegelte, was auf der Erde passierte.
Der Junge schlug die Lider auf. Augen schimmernd wie Grünspan starrten in die weichen Züge einer jungen Frau. Sie mochte Anfang zwanzig gewesen sein. Charlotte kniete sich vor Antoine hin, streckte ihre Arme nach ihm aus. Und als sie seine Schultern berührte und ihn mit ihren sanften, gütigen Augen ansah, schnitt der Mond am Himmel eine Sichel aus der Schwärze der Nacht. Das war das erste Wunder dieser Geschichte.
Charlotte strich ihm übers Haar, über den Rücken. Als ihr Blick auf seine Stirn fiel, stiegen ihr augenblicklich Tränen in die Augen, die sie wegzublinzeln versuchte. Der kleine Junge hatte schon viel zu viel Schmerz in seinem kleinen Herzen. Wie sollte er noch verkraften, was da in großen schwarzen Lettern auf seiner Stirn stand?
Ihm entging nichts. In Charlottes Ausdruck suchte er nach Hinweisen auf das, was ihm seine Mutter ins Gesicht geschrieben hatte. Suchte in ihren Augen nach der Antwort darauf, warum seine Mutter fortgegangen war.
Die Tränen einer fremden Frau waren Antwort genug. Nicht für das Warum. Aber für die Endgültigkeit. Charlotte rieb sich die Augen mit den Handrücken und lächelte ihn an. Und in der schwärzesten Nacht seines bisherigen Lebens sah er plötzlich einen hellen Stern.
»Komm mit mir«, sagte sie schließlich.
Antoine zitterte.
»Wer bist du?«, fragte er. Seine Stimme nur ein kraftloses Flüstern.
»Eine Freundin«, sagte sie. »Oder wenigstens möchte ich das gern sein.« Ihre Stimme klang weich und freundlich. »Was meinst du, Antoine, einen heißen Kakao?«
»Woher kennst du meinen Namen?«
»Ich weiß vieles über dich, mein Kleiner.«
»Was? Was weißt du? Wo meine Mama ist? Wann sie wiederkommt?«
»Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid. Das weiß ich nicht.« Sie strich ihm über die Arme, stand auf, nahm seine kalten in ihre warmen, weichen Hände und sagte: »Komm, lass uns gehen.«
»Ich kann nicht mit dir kommen. Ich muss auf meine Mama warten. Sonst ist sie traurig, wenn sie zurückkommt und ich nicht hier bin.«
Charlotte nickte. »Ich verspreche dir, wenn deine Mama zurückkommt, werden wir da sein.«
Von diesem Moment an wurde Charlotte zu seiner einzigen Insel an Wärme im Meer aus Kälte, das ihn umgab. Sie wusste, wie man auf einen kleinen Jungen zugehen musste, der von seiner Mutter verlassen worden war.
Sie kannte viele Lebensgeschichten. Geschichten, die sich niemand hätte vorstellen können. Geschichten, auf die niemand gefasst war. Und die es dennoch gab. Immer wieder. Und überall.
Ihre Augen hatten die Schicksale anderer gesehen. Ihre Seele die eigenen. Etliche Landschaften des Lebens trug sie in sich. Ohne zu verzweifeln, ohne zu verbittern.
Während er auf seine Mutter gewartet hatte, hatte Antoine nicht bemerkt, wie sich die Kälte mit der eindunkelnden Nacht auf die Erde gelegt hatte, wie sie in seine Lungen gedrungen war. Starr war sein Blick in die weite Ferne gerichtet gewesen, in der das blaue Kleid von Marlene verschwunden war. Bevor er niedergeschlagen die Augen schloss. Dort, an diesem Punkt, so glaubte er noch Wochen später, würde der flatternde Stoff aus blauer Wolle als Erstes wieder zu sehen sein. Antoine würde sie zuerst erblicken. Und noch jemanden: seinen Vater. Hand in Hand würden sie auf ihn zukommen: seine Eltern. Er würde aufspringen, aus dem Haus eilen, ihnen winken und zurufen. Sie würden auf ihn zulaufen, zunächst langsam, dann immer schneller. Den Hang hinunter, die Straße entlang, durch das Gartentor. Marlene würde sich vor ihm auf die Kieselsteine werfen, ihn fest in ihre Arme schließen und nie wieder loslassen. Sie würde das tun, was eine Mutter tut. Ihn halten, lieben und beschützen.
Lange sollte sich Antoine an dieses Fragment eines Winters erinnern, in dem jegliche Ordnung zerstört worden war, die es für einen Sechsjährigen eigentlich noch hätte geben müssen. An jene ersten Tage und Nächte in Charlottes Haus. An Mauern, von denen der Putz abblätterte. An Wände, an denen abgehängte Fotos einer anderen Zeit Schatten hinterlassen hatten. An Decken, deren Farbanstriche...
Erscheint lt. Verlag | 2.11.2020 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Achtsamkeit • Achtsamkeitsbuch • Achtsamkeitsroman • Ajahn Brahm • Alexandra Reinwarth • Alltagsweisheiten • Asien • Belletristik Neuerscheinung • Belletristik Neuerscheinung 2020 • Bewusster leben • Buchempfehlung • Bücher 2020 Neuerscheinungen • Buch für die beste Freundin • Das Café am Rande der Welt • der auszog • Der Duft des Lebens • Der Elefant der das Glück vergaß • Der träumende Delphin • Die Kuh • Die Kuh, die weinte • die weinte • Dobelli • Eine Reise zur Leichtigkeit • Fernost • fernöstliche Weisheit • Gelassenheit • Geschenk • Geschenkbuch für Frauen • Geschenkidee • Glück • Heilung • Heimat • Innerer Frieden • Innerer Kompass • Inspiration • Inspirierend • John Strelecky • Jorge Bucay • Lebensglück • Lebenssinn • Lebensthemen • Markus Lanz • Persönlichkeitsentwicklung • poetisch • Roman • Sergio Bambaren • Sinnsuche • Spiritualität • Südostasien • um den Frühling zu suchen • vom Mann • Vom Mann, der auszog, um den Frühling zu suchen • Weg des Herzens • Weise • Weisheit • Weisheiten • Zitate |
ISBN-10 | 3-492-99794-5 / 3492997945 |
ISBN-13 | 978-3-492-99794-2 / 9783492997942 |
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