Mach nie die Augen zu
Francke-Buch (Verlag)
978-3-96362-156-7 (ISBN)
Als die örtliche Polizei den Fall zu den Akten legt, beginnt Harper auf eigene Faust zu ermitteln - an ihrer Seite ihr Kindheitsfreund Heath McKade. Keiner der beiden ahnt, welch finstere Geheimnisse sie aufwühlen werden - und wie weit jeder für den anderen wird gehen müssen ...
Elizabeth Goddard hat Computertechnologie studiert und mehrere Jahre in dieser Branche gearbeitet, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie ist Mutter von vier inzwischen fast erwachsenen Kindern und lebt in Michigan.
1. Kapitel Nur an wenigen Orten auf dieser Welt ist es gefährlicher als zu Hause. John Muir MONTAG, 19:35 UHR BRIDGER-TETON NATIONAL FOREST, WYOMING Harper Reynolds schlich noch einige Zentimeter näher. Hoffentlich war das hier kein Fehler. Nachdem sie ihre Kamera auf dem Stativ befestigt hatte, zoomte sie ihr Motiv mit dem langen Teleobjektiv ganz nah heran. Sie stellte die großen braunen Augen scharf und fing den imposanten Grizzly ein, der gut achtzig Meter unter ihr am Grayback River die Beerensträucher plünderte. Hundert Meter Entfernung wären ihr lieber gewesen. Der Bär wusste, dass sie da war. Er hatte den Kopf gehoben und sie im selben Moment gesehen, in dem sie ihn auf ihrem Weg zum Fluss entdeckt hatte. Doch er hatte sie nicht weiter beachtet und sich wieder seiner Futtersuche gewidmet. Sie hatte ihr Stativ auf einer Erhebung aufgestellt, um größer auszusehen und im Fall der Fälle schneller fliehen zu können. Sie wollte eine Großaufnahme von dem Tier. Dafür hatte sie ihren Telekonverter. Sie konnte ein gestochen scharfes Bild von ihm machen, ohne sich noch unmittelbarer in Gefahr zu begeben. Wenn die Bäume nicht gewesen wären, hätte sie sogar aus mehreren Hundert Metern atemberaubende Bilder schießen können. Durch den Sucher wählte sie den passenden Hintergrundausschnitt für das majestätische Tier – den Fluss, die Bäume, die Felsen. Ja, genau so! Der Fluss war die perfekte Kulisse und verlieh dem Bild die nötige Tiefe. Die vortretenden Muskeln des Bären strahlten eine ungezähmte Kraft aus. So etwas hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nie aus der Nähe gesehen. Adrenalin strömte durch ihre Adern. Sie wollte, dass andere beim Anblick dieser Bilder die gleiche nervöse Energie spürten wie sie, allein mit diesem riesigen und gefährlichen Tier. Der Fluss untermalte den Augenblick mit seinem Rauschen und weckte Kindheitserinnerungen. Erst das Brummen des Bären holte Harper in die Gegenwart zurück. Sie fand, er klang glücklich und zufrieden. Der Duft von Kiefernnadeln lag ihr in der Nase und sie nahm eine leichte Spur des Schwefelgeruchs von den Geysiren im nahe gelegenen Yellowstone-Nationalpark wahr. Nach einigen weiteren Fotos machte sie eine Pause, den Finger auf dem Auslöser. Nur noch wenige Bilder, dann würde sie die Speicherkarte wechseln müssen. Einige zu löschen, kam nicht infrage. Lücken bei den Metadaten konnten dazu führen, dass alle Bilder infrage gestellt und letztendlich vor Gericht nicht zugelassen wurden. Das hatte sie auf die harte Tour gelernt. Allerdings ging es hier ja nicht mehr um die Art von Bildern, die sie beruflich gemacht hatte. Sie musste sich nicht mehr einzig und allein auf den Ort, das Indiz und die Position konzentrieren, sondern hatte jede künstlerische Freiheit. Harper riss sich gewaltsam von den Erinnerungen los. Seit damals war ein ganzes Jahr vergangen. Warum musste sie ausgerechnet jetzt daran denken? Keine Gewaltszenen, hatte ihr Therapeut gesagt. Und definitiv keine Tatorte von Verbrechen. Sie war Dr. Drews Rat gefolgt. Jetzt fotografierte sie in der Natur. Wo es friedlich war und ruhig. Kein Blut und keine Leichen. Die Sonne sank tiefer und zwang sie, ihre Kamera auf das schwächere Licht einzustellen. Sie konzentrierte sich auf die Augen des Bären. Vielleicht würde er ja noch etwas anderes machen, zum Beispiel trinken oder eine interessante Pose einnehmen. Sie hatte keine Angst. Schließlich hatte sie ihr Bärenspray dabei. Und ich weiß auch, wie man es benutzt. Trotzdem sollte sie ihr Glück nicht überstrapazieren, indem sie zu lange blieb. Sie verfolgte den Bären, der jetzt am Flussufer entlangtapste, und drehte die Kamera auf dem Stativ nach links. Nach so viel Übung beherrschte sie den Kameraschwenk perfekt. Aber der Bär bewegte sich weiter und verschwand hinter einem großen Felsen. Harper blickte sich um. Sollte sie die Kamera neu positionieren, um noch mehr Aufnahmen zu machen? In ihrer Hosentasche summte ihr Smartphone. Was? Sie hatte hier oben Empfang? Wahrscheinlich war es eine Nachricht von Emily, die wissen wollte, warum sie noch nicht zurück war. Ihre Schwester hatte sie ursprünglich bei dieser Wanderung begleiten wollen, aber dann hatte sie sich damit entschuldigt, dass sie an ihrem neuesten Krimi weiterarbeiten müsse. Harper grinste. Das stimmte zwar, aber Emily wollte bestimmt auch ihre Blasen und ihren Muskelkater von den letzten Ausflügen mit ihr auskurieren. Harper hatte die Hand schon ausgestreckt, um das Handy hervorzuziehen, als ein pinkfarbener Farbfleck ihre Aufmerksamkeit erregte. Durch den Sucher ließ sie ihren Blick über die andere Flussseite wandern. Da entdeckte sie eine Frau, die sich mit den Armen einen Weg durchs Gebüsch bahnte und sich durch das dichte Unterholz kämpfte. Ihr Mund stand offen. Schrie sie? Der Fluss übertönte auf diese Entfernung jedes Geräusch. Harpers Herz hämmerte. Sie zoomte die Frau näher heran. Instinktiv drückte sie auf den Auslöser. Das Gesicht der Frau war vor Entsetzen und nackter Angst ganz verzerrt. Sie warf einen kurzen Blick hinter sich. Sie flüchtete vor etwas! Wovor? Harper bewegte die Kamera erneut, um die Frau im Sichtfeld zu behalten. Klick. Sie sollte die Polizei rufen. Wenn die Fremde in Gefahr war, konnte sie nicht hier stehen und tatenlos zusehen. Mit ihrer freien Hand tastete sie nach dem Mobiltelefon, bevor sie wieder durch den Sucher spähte. Ihr Atem stockte. Ein Mann mit einem Gewehr! Er war mindestens vierhundert Meter weit weg und schaute durch sein Zielfernrohr. Beobachtete er die Frau nur oder verfolgte er böse Absichten? Harper wählte den Notruf. Der Anruf ging nicht durch. So ein Mist, eben hatte sie doch noch Empfang gehabt! Sie richtete die Kamera wieder auf die Frau und vergrößerte das Bild. Die Augen der Frau weiteten sich voller Entsetzen. Dann … ein leerer Blick. Harpers Herz wollte stehen bleiben, als die Frau mit dem Gesicht nach unten auf den grasigen Boden sackte. Der Widerhall des Schusses drang an Harpers Ohren. Sie wurde so starr wie der Fels neben ihr, dabei schrie alles in ihr danach, sich umzudrehen und wegzulaufen. Wie damals. Sie wollte vor dem Verbrechen fliehen, das vor ihren Augen verübt worden war. Nein! Dieses Mal musste sie stark sein. Sie musste das tun, was sie vor langer Zeit hätte tun sollen. Bleiben. Die Augen offen halten. Die Zeugin sein, die gegen den Mörder dieser Frau würde aussagen können. Beweise während der Tat festhalten und nicht erst im Nachhinein Indizien sammeln. Sie richtete ihre Kamera auf den Mörder und drückte den Auslöser. Nach ihm würde überall gefahndet werden. Mit einer solch grausamen Tat durfte niemand ungestraft davonkommen! Er drückte das Gesicht immer noch an die Waffe und spähte durch das Zielfernrohr. Seine Kappe hatte er sich tief ins Gesicht gezogen. Schatten lagen auf dem einzigen nicht verdeckten Teil. Sie machte ein letztes Bild, dann war der Speicherplatz voll. Für den Fall, dass diese Fotos als Beweismittel gebraucht werden würden, musste sie sich unbedingt an die Vorschriften halten. Mit zitternden Fingern holte Harper die Speicherkarte aus der Kamera und steckte die neue Karte hinein. Obwohl ihr Puls raste, befestigte sie die Kamera schnell wieder auf dem Stativ und schwenkte sie, um den Mann wiederzufinden. Er kam jetzt näher und marschierte auf sein Opfer zu. Sein Gesicht war immer noch hinter dem Gewehr verborgen. Harpers Frustration schäumte fast über. Sie konnte kein sauberes Bild von dem Mörder bekommen. Trotzdem würde sie die neue Speicherkarte mit Bildern von ihm füllen. Sie würde so viele Details festhalten wie möglich. Verängstigt davonzulaufen, war keine Option. Sie wollte kein weiteres Mal schuld daran sein, dass der Gerechtigkeit nicht Genüge getan werden konnte. Komm schon! Nimm diese Kappe ab. Lass das Gewehr sinken. Ich brauche ein Bild von dir. Plötzlich hielt er inne. Wollte er nicht überprüfen, ob sein Opfer tot war? Nein. Er blieb stehen. Regungslos. Lauernd. Ein Jäger. Worauf wartete er? Er verlagerte das Gewehr auf seiner Schulter und drehte es. Offenbar hatte er den Bären entdeckt. Den Grizzly unten am Fluss hatte Harper völlig vergessen. Dass er beim Knall des Schusses nicht weggelaufen war, überraschte sie. Würde der Mörder jetzt auch noch das Tier töten? Lauf, Bär! Harper wollte es am liebsten laut rufen. Ihre Hand auf der Kamera war vor Angstschweiß ganz feucht. In der anderen hielt sie immer noch das nutzlose Handy. Der Bär wandte sich vom Fluss ab, als hätte er ihr stummes Flehen gehört, und trottete in den Wald hinein. Ein eisiger Schauer lief ihre Beine entlang, breitete sich in ihrem Bauch aus und kroch über ihren Rücken. Der Wind drehte sich. Ein Gefühl, das sie als Kind schon einmal erlebt hatte, erfasste sie. Sie befand sich in Lebensgefahr. Harper schoss ein weiteres Foto, aber auch das würde nicht genügen, um den Mörder zu identifizieren. Ein paar Sekunden musste sie noch aushalten, nur so lange, bis sie wenigstens ein Bild hatte, auf dem er klar zu erkennen war. Aber er hob jetzt das Suchfernrohr von dem Bären, als suche er noch etwas anderes. Sein Gewehrlauf wanderte nach oben. Höher und höher, bis der Lauf auf sie gerichtet war. Er schaute sie direkt an! Hatte sie im Visier. Sie sah ein zusammengekniffenes Auge im Schatten seiner Kappe. Der Mörder beobachtete sie. Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren. Jeden Moment könnte sie von einer Kugel durchbohrt werden. Wie festgewurzelt stand sie da. Sie würde sterben. Hier. Jetzt. Das hatte sie davon, dass sie versucht hatte, das Richtige zu tun! Nur weil sie die Zeugin hatte sein wollen, die sie damals nicht gewesen war. Setz. Deine. Beine. In. Bewegung! Lauf! Aber die Bilder! Sie riss ihre Kamera vom Stativ und gab dabei noch kostbare Momente mehr wie eine Idiotin eine perfekte Zielscheibe ab. Schnell wich sie zurück. Statt zu laufen, ließ sie sich auf die Knie fallen und kroch hinter einen Felsen. Sie musste ihren Atem beruhigen. Harper spähte um den Felsen herum und schaute wieder durch ihre Kamera. Ohne das Stativ sah sie durch das schwere Teleobjektiv nur unscharf. Sie konnte den Mörder nicht entdecken. Das Zittern ihrer Hände erschwerte die Suche. Es hatte keinen Zweck. Sie würde keine Gelegenheit mehr bekommen, ihn zu fotografieren. Außerdem musste sie sich schleunigst in Sicherheit bringen. Sie kroch über die Kiefernnadeln, um im Wald unterzutauchen, und krabbelte vorwärts, bis die Bäume so nahe nebenei- nanderstanden und das Unterholz so dicht war, dass er sie selbst mit seinem Zielfernrohr nicht mehr würde ausmachen können. Hoffentlich. Dann rappelte sie sich hoch und begann zu rennen. Harper lief weg. Wie damals. Nichts hatte sich geändert oder würde sich je ändern. Keuchend und mit rasendem Puls konnte sie zwischen den Bäumen den Wanderpfad ausmachen. Nur noch ein kurzes Stück. Sie stolperte über einen Ast, den sie wegen der dichten Nadeldecke nicht gesehen hatte. Es ging so schnell, dass sie den Sturz nicht abfangen konnte. Ein Schrei entfuhr ihr, als sie mit vollem Schwung gegen die raue Kante eines Felsens prallte. Stechende Schmerzen schossen durch ihren Körper. Ihre Kamera rutschte ihr aus der Hand und fiel klappernd in einen tiefen Felsspalt. Es war doch ein Fehler gewesen.
Erscheinungsdatum | 27.08.2020 |
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Übersetzer | Silvia Lutz |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Always look twice |
Maße | 135 x 205 mm |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Historische Kriminalromane |
Schlagworte | Ermittlungen • Familie • Fotografie • Glaube • Liebe • Mord • Reue • Spannung • Tatort • Versagen • Vertuschung |
ISBN-10 | 3-96362-156-7 / 3963621567 |
ISBN-13 | 978-3-96362-156-7 / 9783963621567 |
Zustand | Neuware |
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