Findungen (eBook)
896 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61014-7 (ISBN)
Maria Popova, geboren 1985 in Bulgarien, ist eine große Leserin und schreibt über das, was sie liest, auf ?The Marginalian? (themarginalian.org, früher ?Brain Pickings?). Sie wuchs umgeben von Musik und Mathematik auf und ging zum Studium nach Amerika. Seit 2012 gehören ihre Beiträge auf ?The Marginalian? zum permanenten Library of Congress Digital Archive. Sie lebt und arbeitet in New York.
Cover 2
Titelseite 4
Widmung 5
Motti 6
0 7
1 nur der träumer erwacht 11
2 um mondlos im sternenstaub zu finden 36
3 was verloren ist und was gewonnen 58
4 vom unendlichen im endlichen 74
5 um zu wandeln und zu verwandeln 84
6 das viel, das nach mehr strebt 109
7 um dem licht der welt zu trotzen 129
8 was erschöpft und erhebt 152
9 nur das schöne 165
10 geteilt, doch unteilbar 182
11 zwischen körper und geist 203
12 zwischen kunst und leben 214
13 die banalität des überlebens 249
14 das licht der unsterblichkeit beschattend 261
15 um zu sehen und sich abzuwenden 280
16 von der romantik zur räson 301
17 vom schrecken zur schrankenlosigkeit 326
18 kaum fassend 348
19 des herzens kreisumfang 359
20 gefesselt von weder sinn noch sache 378
21 in der dunkelheit des seins 401
22 suchend nach der totalität 417
23 in unergründeten tiefen 437
24 wo die herrlichkeit weilt 451
25 um zu leben und zu vergehen 463
26 zwischen der grösse von atomen und der von welten 501
27 zwischen der zeit von monarchen und der von sternen 518
28 dem faden des daseins folgend 550
29 von uferlosen samen zum staub der sterne 566
Danksagung 578
Bibliographie 579
Hauptfiguren 580
Nebenfiguren 583
Hauptfiguren 585
Nebenfiguren 587
Abdruckgenehmigung 591
Register 593
Biographie 2127
Mehr Informationen 2128
Inhaltsübersicht 2129
Impressum 2132
So stelle ich es mir vor:
Ein spindeldürrer Mathematiker mittleren Alters mit überragendem Verstand, wundem Herzen und schlechter Haut wird in der beißenden Kälte eines deutschen Januars in einer Kutsche hin- und hergeworfen. Seit seiner Jugend hinterlässt er in Familienbüchern und Freundschaftsalben sein persönliches Motto, das einem Vers des antiken Dichters Persius entlehnt ist: »O die Sorgen der Welt, wie viel ist in allem doch eitel!« Der Mann hat Tragödien überstanden, die die meisten Menschen zerstört hätten. Und nun rollt er in schneller Fahrt durch die eisige, alabasterweiße Landschaft, in der verzweifelten Hoffnung, eine weitere Katastrophe verhindern zu können: Fünf Tage nach Weihnachten und zwei Tage nach seinem vierundvierzigsten Geburtstag im Jahr 1615 schrieb ihm seine Schwester, dass ihre Mutter wegen Hexerei vor Gericht stehe – eine Entwicklung, für die er sich selbst die Schuld gibt.
Er hat das weltweit erste Science-Fiction-Werk geschrieben, eine kluge Allegorie, die das umstrittene kopernikanische Modell des Universums propagiert, die Auswirkungen der Gravitation beschreibt – Jahrzehnte bevor Newton deren Gesetzmäßigkeiten formulierte –, sich die Sprachsynthese Jahrhunderte vor dem ersten Computer vorstellt und die Raumfahrt mehr als dreihundert Jahre vor der ersten Mondlandung voraussagt. Das Buch, das eigentlich dazu dienen sollte, dem Aberglauben mit konkreter Wissenschaft entgegenzutreten, indem es die Leserschaft durch Symbole und Metaphern zum kritischen Denken anregt, hat stattdessen dazu geführt, dass seine alte, ungebildete Mutter dem Tod ins Auge sehen muss.
Wir schreiben das Jahr 1617, und sein Name ist Johannes Kepler – vielleicht der glückloseste Mann der Welt, vielleicht der größte Wissenschaftler aller Zeiten. Er lebt in einer Zeit, in der Gott mächtiger ist als die Natur und der Teufel den Menschen realer und vertrauter als das Konzept der Schwerkraft. Die meisten seiner Zeitgenossen glauben, dass sich die Sonne alle vierundzwanzig Stunden ein Mal um die Erde dreht, von einem allmächtigen Schöpfer auf eine perfekte Kreisbahn geschickt. Die wenigen, die es wagen, die abtrünnige Idee zu vertreten, die Erde drehe sich um ihre eigene Achse und zugleich um die Sonne, glauben, sie bewege sich auf einer idealen kreisförmigen Umlaufbahn. Kepler sollte beide Überzeugungen widerlegen, das Wort Orbit prägen und den Marmor schlagen, aus dem die klassische Physik gemeißelt werden würde. Er würde als erster Astronom eine wissenschaftliche Methode zur Vorhersage von Eklipsen entwickeln und als Erster die mathematische Astronomie mit der materiellen Realität in Einklang bringen, indem er bewies, dass physikalische Kräfte die Himmelskörper in berechenbaren Ellipsen kreisen lassen – wodurch er zum ersten Astrophysiker überhaupt aufsteigen sollte. All das würde er vollbringen, während er zugleich Horoskope erstellte und glaubte, neue Tierarten würden spontan entstehen, indem sie aus Sümpfen emporsteigen und aus Baumrinden sickern. Überdies war er der Meinung, die Erde selbst sei ein beseelter Körper, der eine Verdauung habe, erkranken könne und wie ein lebendiger Organismus ein- und ausatme. Drei Jahrhunderte später würde die Meeresbiologin und Schriftstellerin Rachel Carson ihre ganz eigene Version dieses organischen Weltbildes entwerfen, auf der Basis rein wissenschaftlicher Fakten und frei von Mystizismus, und so das Wort Ökologie zu einem alltäglichen Begriff machen.
Keplers Leben zeigt, dass die Wissenschaft für die materielle Welt das bewirkt, was Plutarchs Gedankenexperiment, das als »Schiff des Theseus« bekannt ist, für das Ich tut. In dieser altgriechischen Allegorie segelt Theseus, der legendäre König von Athen, im Triumph nach Hause zurück, nachdem er den mythischen Minotaurus auf Kreta getötet hat. Tausend Jahre lang wird sein Schiff im Hafen von Athen zum Gedenken an diese Heldentat aufbewahrt und jedes Jahr nach Kreta gesegelt, um die siegreiche Reise nachzustellen. Als der Zahn der Zeit allmählich an dem Schiff nagt, werden nach und nach die maroden Teile ersetzt – neue Planken, neue Ruder, neue Segel –, bis irgendwann kein einziges Originalteil mehr vorhanden ist. Ist es dann, so fragt Plutarch, noch dasselbe Schiff? Es gibt kein statisches, fest umrissenes Ich. Im Laufe unseres Lebens verändern sich unsere Gewohnheiten, Überzeugungen und Ideen bis zur Unkenntlichkeit. Unser physisches und soziales Umfeld wandelt sich. Fast alle unsere Zellen werden ersetzt. Dennoch bleiben wir – für uns selbst –, »wer« »wir« »sind«.
Das Gleiche gilt für das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Welt: Nach und nach reformieren neue Entdeckungen unser Verständnis der Realität. Diese Realität offenbart sich uns nur in Fragmenten. Je mehr Fragmente wir wahrnehmen und analysieren, desto lebensechter wird das Mosaik, das wir aus ihnen legen. Dennoch bleibt es ein Mosaik, eine Repräsentation – unvollkommen und unvollständig, so schön sie auch sein mag, und ewiger Wandlung unterworfen. Drei Jahrhunderte nach Kepler würde Lord Kelvin im Jahr 1900 das Podium der British Association for the Advancement of Science erklimmen und erklären: »In der Physik gibt es nichts Neues mehr zu entdecken. Was uns bleibt, ist nur, genauere Messungen vorzunehmen.« Doch zur selben Zeit brütet der junge Albert Einstein in Zürich jene Ideen aus, die in seine revolutionäre Vorstellung der Raumzeit münden und unser elementares Verständnis der Realität irreversibel verändern würden.
Selbst die weisesten Propheten können ihren Blick nicht über den Möglichkeitshorizont ihrer Zeit hinaus richten, jedoch erweitert sich dieser Horizont mit jeder kleinen Veränderung, wenn der menschliche Geist nach außen blickt, um die Natur zu betrachten, und sich dann nach innen wendet, um seine eigenen Gegebenheiten in Frage zu stellen. Durch das Geflecht dieser Gewissheiten, gestrafft von Natur und Kultur, sieben wir die Welt. Doch ab und zu – ob durch Zufall oder bewusste Anstrengung – lockert sich der Draht, und durch die Maschen schlüpft die Keimzelle einer Revolution.
Kepler begeisterte sich erstmals als Student am Evangelischen Stift in Tübingen für das heliozentrische Modell, ein halbes Jahrhundert nachdem Kopernikus seine Theorie veröffentlicht hatte. Der zweiundzwanzigjährige Kepler, der eigentlich Theologie studierte, schrieb eine Dissertation über den Mond und wollte darin die kopernikanische These beweisen, dass sich die Erde gleichzeitig um ihre eigene Achse und um die Sonne bewegt. Ein Kommilitone, ein Jurastudent namens Christoph Besold, war von Keplers Mond-Dissertation so angetan, dass er eine öffentliche Debatte anregte. Die Stiftsleitung legte umgehend ihr Veto ein. Einige Jahre später schrieb Galileo Galilei an Kepler, dass er selbst bereits seit »vielen Jahren« an das kopernikanische System glaube – doch bisher habe er nicht gewagt, es öffentlich zu vertreten, und würde dies auch in den kommenden dreißig Jahren nicht tun.
Keplers radikale Ideen machten ihn ungeeignet für die Kanzel. Nach seinem Abschluss wurde er des Landes verwiesen, woraufhin er an der evangelischen Stiftsschule in Graz eine Stelle als Mathematiklehrer annahm. Er war froh darüber, denn er betrachtete sich sowohl geistig als auch körperlich als für die Wissenschaft prädestiniert. Er habe die körperliche Konstitution seiner Mutter geerbt, schrieb er später, die besser für das Studium denn für andere Lebensweisen geeignet sei. Knapp drei Jahrhunderte später würde Walt Whitman feststellen, dass hinter Genius und Moral das Vetorecht des Magens stehe.
Während Kepler seinen Körper als ein Instrument der Wissenschaft betrachtete, mussten andere ihre Körper als Instrumente des Aberglaubens malträtieren lassen. In Graz erlebte Kepler schauerliche Exorzismen an jungen Frauen, die angeblich von Dämonen besessen waren – schreckliche öffentliche Spektakel, veranstaltet von König und Klerus. Er sah grellbunte Dämpfe aus dem Bauch einer Frau wallen und glänzende schwarze Käfer aus dem Mund einer anderen krabbeln. Er sah die Geschicklichkeit, mit der die Puppenspieler das Dogma inszenierten, um das Volk zu kontrollieren – damals war die Kirche das, was heute die Massenmedien sind, und sie schreckte ebenso wenig wie diese davor zurück, sich aller Mittel der Manipulation zu bedienen.
Mit zunehmender Eskalation der religiösen Verfolgung, die bald darauf zum Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs führen sollte, des blutigsten Religionskriegs in der Geschichte Europas, wurde das Leben in Graz unerträglich. Die Protestanten wurden gezwungen, nach katholischem Ritus zu heiraten und ihre Kinder als Katholiken taufen zu lassen. Häuser wurden durchsucht, ketzerische Bücher beschlagnahmt und zerstört. Als Keplers kleine Tochter...
Erscheint lt. Verlag | 28.10.2020 |
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Übersetzer | Stefanie Schäfer, Heike Reissig, Tobias Rothenbücher |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Figuring |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Geisteswissenschaften ► Philosophie | |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • 21. Jahrhundert • Amerika • Astronomie • Biographie • Brain Pickings • Briefe • Caroline Herschel • Charles Darwin • Dichtung • Emily Dickinson • Erfolg • Erzählendes Sachbuch • Feminismus • Feminismusbewegung • Freundschaft • Genialität • Gesellschaftsdiskurs • Glück • Gutes Leben • Harriet Hosmer • Herman Melville • Homosexualität • Ideen • Ideengeschichte • Johannes Kepler • Klimaschutz • Klimawandel • LGBT • Liebe • literaturwiss • Literaturwissenschaft • Margaret Fuller • Maria Mitchell • Mathematik • Musik • narrative non-fiction • Philosophie • Queer • Rachel Carson • Ralph Waldo Emerson • Religion • Schicksal • Sinngebung • Sprache • Tag • Tagebücher • Transzendentalismus • Transzendenz • Umweltaktivisten • Umweltschutz • Umweltschutzbewegung • Umweltschützerin • Universum • Visionen • Walt Whitman • Weisheit • Weisheitsbuch • Wissenschaft |
ISBN-10 | 3-257-61014-9 / 3257610149 |
ISBN-13 | 978-3-257-61014-7 / 9783257610147 |
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