Der Mann im roten Rock (eBook)
304 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32169-2 (ISBN)
Julian Barnes, 1946 in Leicester geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen als Lexikograph, dann als Journalist. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor, darunter »Flauberts Papagei«, »Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln« und »Lebensstufen«. Für seinen Roman »Vom Ende einer Geschichte« wurde er mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Julian Barnes lebt in London.
Julian Barnes, 1946 in Leicester geboren, arbeitete nach dem Studium moderner Sprachen als Lexikograph, dann als Journalist. Von Barnes, der zahlreiche internationale Literaturpreise erhielt, liegt ein umfangreiches erzählerisches und essayistisches Werk vor, darunter »Flauberts Papagei«, »Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln« und »Lebensstufen«. Für seinen Roman »Vom Ende einer Geschichte« wurde er mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet. Julian Barnes lebt in London. Gertraude Krueger, geboren 1949, lebt als freie Übersetzerin in Berlin. Zu ihren Übersetzungen gehören u.a. Sketche der Monty-Python-Truppe und Werke von Julian Barnes, Alice Walker, Valerie Wilson Wesley, Jhumpa Lahiri und E.L. Doctorow.
Ein Gerücht am Werk
Edmond de Goncourt spricht mit einer Dame, deren Namen er redigiert hat. Sein Eintrag im Journal beginnt mit der Überschrift »Eine Spur, der man nachgehen sollte«.
Ich: Ich habe am Mittwoch mit der Prinzessin [Mathilde] und Madame Straus diniert, die mir in voller Schönheit zu erstrahlen schien.
Mme ***: Und doch ist sie zweifellos leidend […] Ich habe sie am Samstag gesehen, und sie hatte gerade einen schweren Nervenanfall hinter sich […] Anscheinend hat sie seit zwei Wochen nichts mehr gegessen […] Da ist zweifellos etwas im Gange […] (Sie schweigt kurz und fährt dann fort.) Madame de Baignères, die sie in- und auswendig kennt, sagt, sie sei verliebt in die Liebe, und wenn Maupassant sie gebeten hätte, ihm zu folgen, hätte sie von einem Moment zum anderen alles stehen und liegen lassen […] Ist sie verliebt? Und in wen? (Schweigen.) Kürzlich erkundigte ich mich nach ihrem Sohn, und sie sagte mir, er habe eine Arbeitsstelle – er sei als Assistent von Pozzi angenommen worden. Und bei dem Namen schaute der Junge, der dabei war, seine Mutter auf eine gewisse Art an […] Ja, es gibt einige Anzeichen, die mich glauben lassen, dass er es ist.
Ich: Ja, ja, Sie könnten da einer Sache auf der Spur sein […] Wie kommt es, dass Pozzi, der im Allgemeinen nicht zu der Prinzessin geht, am vergangenen Mittwoch mit ihr in der Rue de Berri gespeist hat? […] Und ich kann Ihnen ein nicht unwesentliches Detail nennen. Sie [Mme Straus], die so empfindlich gegen die Kälte ist und immer, wenn sie bei der Prinzessin speist, etwas Spitze oder Pelz um die Schultern trägt – wir frieren doch alle ein wenig, seit die Prinzessin das Gas durch Elektrizität ersetzt hat –, bestand trotz all meiner nachbarlichen Ermahnungen eisern darauf, décolletée zu bleiben.
Mme ***: Da haben wir doch die Bestätigung […] Ich muss ihr schreiben, dass ich am Samstag ein solches Leid in ihren Augen sah, dass sie bestimmt einen seelischen Kummer hat […] Ich werde Sie nächsten Montag weiter unterrichten.
(Doch hier verläuft die Geschichte, oder der Klatsch, im Sande.)
Am Sonntag, dem 1. Februar 1885, fünf Monate bevor das »seltsame Trio« nach London aufbrach, eröffnete Edmond de Goncourt seinen grenier – einen »Salon in der Dachstube« seines Hauses in Auteuil. Es sollte ein wöchentlicher Treffpunkt für Schriftsteller nach dem Vorbild von Flaubert werden, der jeden Donnerstag in der Rue Murillo empfangen hatte. »Schriftsteller« hieß natürlich »männliche Schriftsteller«; Madame Alphonse Daudet war jedoch willkommen, und es war erlaubt, dass Ehefrauen am Ende ihre Männer abholten. Und obwohl es eine private Zusammenkunft war, hatte Goncourt nichts gegen Publicity in der Presse (und sei es nur, um die zu ärgern, die nicht eingeladen waren). Daher ging er auf die Bitte von Joseph Gayda ein, der in der Kolumne »Parisis« im Le Figaro über das Ereignis berichten wollte. Doch Gayda kam mit einer unerfreulichen Nachricht. Sein Ressortleiter musste an dem Abend in einem entlegenen Vorort dinieren. Darum hatte Gayda seinen Text schon um drei Uhr abliefern müssen, zwei Stunden vor Beginn des Ereignisses, für dessen Besprechung er bezahlt wurde.
Tags darauf klagt Goncourt in seinem Journal:
Heute Morgen las ich Gaydas Artikel im Le Figaro. Anscheinend kam gestern, in meinem Haus, le tout Paris zusammen, und zu diesem tout Paris gehörten Leute, die seit Langem miteinander im Streit liegen, Feinde, die sich nicht einmal grüßen würden. Armes zwanzigstes Jahrhundert! Wie wird es hinters Licht geführt werden, wenn es in den Zeitungen des neunzehnten nach verlässlichen Informationen sucht.
Nach diesem Gegrummel notiert Goncourt weiter, dass man bei diesem ersten grenier über den »fantastischen« Montesquiou gesprochen habe und im Besonderen über dessen erste Amouren – oder besser gesagt sexuelle Erfahrungen –, die »baudelairesk« gewesen seien:
Seine erste amouröse Begegnung hatte er mit einer Bauchrednerin, die, während sich Montesquiou auf dem langen Weg zum Glück mühte, plötzlich ihre Stimme so verstellte, dass es sich anhörte, als sei gerade ein betrunkener Zuhälter hereingekommen und bedrohe ihren aristokratischen Kunden.
Wer würde das nicht gerne glauben? Jedoch gibt es, wie so oft bei den eher schlüpfrigen Teilen des Journal – und fast immer bei sexuellem Klatsch – nur eine einzige Quelle dafür, und die ist obendrein anonym. Das andere Problem ist, dass es im Widerspruch zu einer noch berühmteren Geschichte steht, in der die erste heterosexuelle Begegnung des Grafen mit niemand anderem als Sarah Bernhardt stattfand. Und von dieser Geschichte gibt es zwei verschiedene Versionen. In einer wälzten sie sich zusammen eine Weile auf Kissen herum, wonach der Graf sich vierundzwanzig Stunden lang in einem Stück (oder in einem Schwall) übergab. In der zweiten gingen sie tatsächlich miteinander ins Bett, wonach Montesquiou sich eine ganze Woche lang übergab. Wir wissen es nicht.
Heute wird Montesquiou routinemäßig als ein »flamboyanter Homosexueller« bezeichnet. Flamboyant, gewiss; und wir können wohl ausschließen, dass er heterosexuell war. Aber nicht flamboyant als (praktizierender) Homosexueller, ganz und gar nicht; trotz seiner manierierten Extravaganz war er kein Botschafter von Sodom. Er war ein guter Freund der Bernhardt; beide verband die Lust an Kostümierung und Maskerade, und beide waren vom eigenen Ruhm fasziniert. Sie hatte ihren ersten großen Erfolg in Coppées Versdrama Le Passant in einer Hosenrolle als Page gefeiert. Nadar, der größte Porträtfotograf jener Zeit, kleidete den Grafen und Sarah in aufeinander abgestimmte enge Männerkostüme aus diesem Stück; dann improvisierten sie Szenen daraus für die Kamera. Vermutlich wälzten sie sich dann anschließend zusammen auf Kissen herum.
Sarah Bernhardt (links) und Montesquiou in Kostümen aus Le Passant
Welcher Mann mit dem Selbstvertrauen einer edlen Abstammung, genügend Geld in der Tasche, der Möglichkeit, bei Bedarf in verschwiegene Länder zu reisen, und ohne religiöse Vorbehalte hat Sex nicht ausprobiert? Wieder und wieder ausprobiert, in den meisten Fällen. Andererseits gibt es Menschen, die Sex ausprobieren und zu dem Schluss kommen, dass das nichts für sie ist. Einer Theorie zufolge wollte Montesquiou »alles wissen und sich auf nichts einlassen«. Darum ging Yturri in die Nacht hinaus und berichtete ihm am nächsten Morgen alle feinen und unfeinen Details. Der Kunstkritiker Bernard Berenson schrieb: »Während meiner langen Bekanntschaft mit Montesquiou habe ich nie etwas von der Seite bemerkt, für die Charlus berühmt ist: Sodomie. Und Gott weiß, zu der Zeit weckte ich, jung, wie ich war, bei Homosexuellen durchaus Appetit.« Das stimmte: Oscar Wilde versuchte, ihn einmal in Oxford zu verführen; als er abgewiesen wurde, beschwerte er sich, Berenson müsse wohl »aus Stein« sein.
Obwohl die Homosexualität in Frankreich 1791 legalisiert worden war, brachte sie noch immer viele Gefahren mit sich: Erpressung, Anzeige wegen anderer, damit verbundener Straftaten (Erregung öffentlichen Ärgernisses, Verführung Minderjähriger) und ein Ende in Schmutz und Elend. Montesquiou hielt der Jugend oft als lehrreiches Beispiel die Geschichte von dem Oberkellner vor Augen, der auf den Champs-Elysées im Laufe einer »homosexuellen Unterhaltung« festgenommen worden war. Als man ihn in eine Zelle steckte, zerbrach er sein Pincenez und verschluckte die Scherben, um der öffentlichen Scham und Schande zu entgehen.
Dass Montesquiou homoerotisch war, dass seine leidenschaftlichen Gefühle immer nur Männern galten, dass er dem männlichen Zauber von Whistler wie auch D’Annunzio erlag, steht außer Zweifel. Sein Biograf Philippe Jullian – der weder prüde noch ein Moralapostel war – sagt, der Graf habe »die Regungen des Herzens« ebenso fürchten gelernt wie »die Unbekümmertheit des Vergnügens«. Dieser zweite Ausdruck ist vorzüglich. Für solch einen Grafen hatte das Vergnügen (es sei denn, es ist ein ästhetisches Vergnügen) womöglich etwas Schmuddeliges, Entgrenztes oder gar Kleinbürgerliches an sich. Übermäßige Feinsinnigkeit ist auch ein Feind des Vergnügens. Jullian kommt zu dem Schluss: »Robert war immer zu sehr Franzose, um in die Extreme zu verfallen, für die die Engländer berühmt sind.« Zwar war dem eleganten Paris der Belle Époque »Sappho lieber als Sodom«, aber die Franzosen haben fälschlicherweise immer geglaubt, sie selbst seien weniger homosexuell als die Briten (und daher gestaunt und lange nichts unternommen, als Aids nach Frankreich kam).
Im siebzehnten Jahrhundert gab es eine französische Redensart über Homosexualität: »In Frankreich der Adel, in Spanien die Mönche, in Italien alle.« Es gibt einen neueren Spruch von Barbey d’Aurevilly: »Meine Neigung zieht mich dorthin, meine Grundsätze gestatten es, aber die Hässlichkeit meiner Zeitgenossen stößt mich ab.« Das lässt an Oscar Wildes unselige Antwort auf Carsons Frage denken, ob er Walter Grainger, den sechzehnjährigen Diener, in Lord Alfred Douglas’ Zimmer in Oxford geküsst habe: »Aber nein, nie im Leben; er war ein ungemein reizloser Junge.« D’Aurevilly war nicht ganz ehrlich, Wilde womöglich meineidig; aber der französische Adel des ausgehenden neunzehnten...
Erscheint lt. Verlag | 14.1.2021 |
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Übersetzer | Gertraude Krueger |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Belle Epoque • Biografie • biografien berühmter persönlichkeiten • Blut und Boden • England • Fin de siecle • Frankreich • Freigeist • Gynäkologe • Henry James • John Sargent Singer • Jugendstil • Kunst sehen • Marcel Proust • Oscar Wilde • Paris • Samuel Pozzi • Sarah Bernhardt • Sir Arthur Conan Doyle • The Man in the Red Coat • Vom Ende einer Geschichte |
ISBN-10 | 3-462-32169-2 / 3462321692 |
ISBN-13 | 978-3-462-32169-2 / 9783462321692 |
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