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Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht (eBook)

Erzählungen
eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
272 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-32086-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht -  Andrea Petkovi?
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Das Debüt der Saison 2020 - Aufmacher der Messe-Literaturbeilagen von Zeit und SPIEGEL. Tennis als Spiegel des Lebens - in ihrem literarischen Debüt schlägt Andrea Petkovi? die Brücke zwischen Sport und Literatur, und begeistert mit zutiefst ehrlichen und anrührenden Geschichten. Andrea Petkovi? nimmt uns mit in die Welt eines faszinierenden Sports, der so unkontrollierbar und aufregend ist wie das Leben selbst. Wie gelingt die Balance zwischen Siegesgewissheit und Selbstzweifel? Wie schafft man es, trotz Niederlagen und Verletzungen die Freude am Spiel nicht zu verlieren? Klug, poetisch und mit warmherzigem Humor erzählt sie Geschichten aus ihrer Jugend als Flüchtlingskind, von Begegnungen auf und neben dem Tennisplatz, von ihrer zerrissenen serbisch-deutschen Seele und wilden New Yorker Nächten, von weiblichen Körpern im Leistungssport - und von ihrer Liebe zu Literatur und Musik. So ist Petkovi?' Debüt als literarische Autorin eine bewegende und witzige Hommage an das Auf und Ab des Lebens.

Andrea Petkovi?, 1987 in Tuzla/Bosnien geboren, zog im Alter von sechs Monaten mit ihrer Familie nach Darmstadt. Im Alter von sechs Jahren begann sie mit dem Tennissport. 2011 und 2014 schaffte sie es unter die besten Zehn der Weltrangliste. Die US Open im Jahr 2022 waren ihr letztes Turnier. Als Autorin hat sie 2018 mit ihren Kolumnen im SZ-Magazin für Aufsehen gesorgt. Ihr Debüt ZwischenRuhm und Ehre liegt die Nacht erschien 2020. Sie schreibt Kolumnen für DIEZEIT und SportsIllustrated. Seit 2023 arbeitet sie als Analystin und Expertin für Tennis Channel in den USA. Andrea Petkovi? teilt ihre Zeit zwischen New York und Darmstadt.

Andrea Petković, 1987 in Tuzla/Bosnien geboren, zog im Alter von sechs Monaten mit ihrer Familie nach Darmstadt. Im Alter von sechs Jahren begann sie mit dem Tennissport. 2011 und 2014 schaffte sie es unter die besten Zehn der Weltrangliste. Die US Open im Jahr 2022 waren ihr letztes Turnier. Als Autorin hat sie 2018 mit ihren Kolumnen im SZ-Magazin für Aufsehen gesorgt. Ihr Debüt ZwischenRuhm und Ehre liegt die Nacht erschien 2020. Sie schreibt Kolumnen für DIEZEIT und SportsIllustrated. Seit 2023 arbeitet sie als Analystin und Expertin für Tennis Channel in den USA. Andrea Petković teilt ihre Zeit zwischen New York und Darmstadt.

Inhaltsverzeichnis

Die Sache mit der Gerechtigkeit


Die Berge ragten drohend zum Himmel empor. Schnee bedeckte die Kuppen. Die Felsen fielen dramatisch in alle Richtungen und dort, wo man es am wenigsten vermutete, trotzten kleine Grünflächen ihrem Schicksal. Ich jedoch hatte weder Zeit noch Blick für Naturwunder. Meine russische Gegnerin machte mir zu sehr zu schaffen.

Sie war kleiner als ich, dünner als ich, schwächer als ich. Sie trug ihr Haar in einem palmenartigen Gebilde am höchsten Punkt ihres Kopfes und hohe dicke Tennissocken wie früher. Immer wieder schob ich meine linke Hand in die Hosentasche meiner Shorts, um an einer Münze zu reiben, die ich zu Hause im Freibad gefunden hatte. Sie sollte mir Glück bringen. Über den Shorts trug ich ein überdimensioniertes T-Shirt meines Vaters und eine Mütze auf dem Kopf, um meine Haare zu bändigen. Meine Tennisschuhe waren ein bis zwei Nummern zu groß – genügend Platz, um noch einige Jahre hineinzuwachsen. Der Schweiß lief mir an den Schläfen hinab und immer wieder schaute ich nach Antworten suchend zu den Berggipfeln hinauf.

Zunächst war alles glattgelaufen. Ich war größer als sie, stärker als sie, besser als sie. Ihr Vater, ein großer, bulliger Mann mit Oberarmmuskeln, die in einem anderen Leben Bäume stemmten, Goldketten um den Hals und ohne Haare, aber dafür mit vielen Schweißperlen auf der weißen Kopfhaut, die wie eine Billardkugel glänzte, lief am Platz auf und ab und redete ununterbrochen auf Russisch auf uns beide ein. Seine Tochter schien unbeeindruckt, wahrscheinlich über Jahre an ihren Vater gewöhnt und entsprechend abgehärtet. Ich war irritiert und versuchte, mich ganz auf das Spiel zu konzentrieren. Aber je länger es dauerte und je mehr ich im Resultat davonzog, desto lauter und drohender wurde sein Ton. Meine Gegnerin zog immer mehr den Kopf zwischen ihre dürren Schultern. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Seine Halsschlagader pulsierte und er schüttelte die Fäuste. Seine Tochter begann, Mondbälle zu spielen. Das heißt, sie spielte sehr hohe, sehr langsame Bälle in die Mitte des Feldes – ohne Tempo, ohne Winkel, die ein erwachsener Mensch gnadenlos bestrafen würde, aber ein Kind mit Minusmuskeln wie mich überforderten.

Wir waren elf oder zwölf Jahre alt. Sie sah süß aus in ihrem weißen Faltenrock und dem Hemd mit Kragen – wie aus einem anderen Jahrhundert. Ich sah aus wie ein Junge.

Das Match drehte sich. Ich machte immer mehr Fehler und wurde nervöser. Ihr Vater aufgebrachter. Als ich den zweiten Satz schließlich verlor, machte ich eine Toilettenpause, um mich zu sammeln.

Auf dem Weg in das Klubhaus hielt mich der Oberschiedsrichter an: »Stört dich der Mann da, Andrea?«

Ich zuckte mit den Schultern und schüttelte leicht den Kopf. Zu plastisch stand mir das Bild einer Trainingseinheit seiner Tochter mit meinem Kopf als Tennisball vor Augen. Doch ich muss absolut verängstigt ausgesehen haben, denn als ich die Toilette verließ, sah ich, wie zwei der Schiedsrichter den Russen, der zeterte und brüllte, am Ellbogen festhielten und gen Klubhaus abtransportierten. Ich nahm den Hinterausgang und vermied tunlichst, ihm in die Arme zu laufen.

Am Platz angekommen, sah ich meine Gegnerin mit Tränen in den Augen auf der Bank sitzen. Sie kaute auf ihrem Schweißband herum und tat mir in diesem Moment unendlich leid.

Der dritte Satz begann. Ich kam mit den Mondbällen jetzt besser zurecht, nahm sie manchmal in der Luft, wenn ich sie früh genug erkannte, und hatte mehr Energie übrig, um mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Angst davor, in der Achselhöhle des Vaters meiner Gegnerin in einem russischen Schwitzkasten zu landen, war für eine Weile zur Seite getreten. Die Berge ragten weiterhin zum Himmel empor.

 

War diese Art Vater eine Ausnahme im Tennis? Leider nein. Ich selbst habe keine Kinder und kann nicht genau sagen, was es ist. Aber nach meiner Beobachtung sahen die verrücktesten Tenniseltern ihre Kinder als eine Art Verlängerung ihrer selbst und den Tennisschläger als eine Verlängerung derer selbst. Und somit wurde jeder Sieg und jede Niederlage zu einer Bewertung ihrer (menschlichen?) Qualitäten.

Nicht immer mussten Eltern in Klubhäuser abtransportiert werden, aber nicht selten sah ich sie an den Seitenlinien toben, ihre Kinder anschreien, deren Gegner einschüchtern und sich in Platzangelegenheiten einmischen. Aber das soll nicht das Thema dieser Geschichte sein. Das Thema dieser Geschichte ist die Frage, ob es so etwas wie Karma gibt. Und falls ja, wie genau dieses Karma-Ding eigentlich hinschaut, um Intentionen in all ihrer Komplexität aufzuschlüsseln. Jedenfalls wäre es mir im Nachhinein lieber gewesen, der russische Vater wäre geblieben, um sich so heftig in Platzangelegenheiten einzumischen, wie nur gute Tenniseltern es vermögen.

 

Damals mit zwölf ging es vor allem darum, den eigenen Aufschlag zu halten. Mir gelang das bei 4:4 im dritten Satz zum 5:4 für mich. Beim darauffolgenden Seitenwechsel war ich so nervös, dass ich die wenigen Schlucke Wasser, die ich versuchte, zu mir zu nehmen, in den roten Sand vor mir spuckte, weil jemand einen eisernen Ring um meine Kehle geschnürt hatte, durch den nichts durchkam. Ich stellte mich zum Return auf. Es war ein ewiges Hin und Her. Meine Gegnerin machte keinen einzigen Fehler und spielte mir die Bälle mit sehr geringer Geschwindigkeit und übermäßiger Höhe in die Mitte des Feldes. Jedes Mal, wenn meine Augen den hohen Bällen folgten, nahm mein Blick die bedrohliche Spitze des höchsten der Berge wahr. Ich haute drauf, so hart ich mit zwölf Jahren und nicht vorhandenen Muskeln draufhauen konnte. Manchmal machte ich Gewinnschläge, pfeilschnell und präzise, wie an der Schnur entlanggezogen, und manchmal machte ich Fehler, pfeilschnell und in die Mitte des Netzes hineingebogen. Ich war ein bisschen stolz, dass ich wenigstens versuchte, das Schicksal in meine eigenen Hände zu nehmen.

In dem Moment, in dem es darauf ankam, entschied das Schicksal, mich in seine eigenen Hände zu nehmen. Damals wurde für die Jugend eine neue Regel getestet. Beim Stand von 40:40 entschied der nächste Punkt das Spiel direkt. Bei 5:4 im dritten Satz und Einstand hatte ich also einen Matchball und meine Gegnerin gleichzeitig einen Spielball zum 5:5. Um nicht zu sagen: Die Nerven lagen blank.

Ein weiterer, niemals enden wollender Ballwechsel nahm seinen Lauf. Man stelle sich die vier Zuschauer an der Seitenlinie vor, die ihren Kopf von rechts nach links in einem gebogenen Halbkreis bewegten, um den Mondbällen zu folgen, und zurück von links nach rechts in einer geraden Linie, um meinen Angriffsschlägen zu folgen. Zwei der vier Zuschauer waren Schiedsrichter, ein weiterer der Klubpräsident – und einer war beim Spaziergang zufällig dazugestoßen und sah reichlich verwirrt aus. Ich rückte auf und versuchte immer mehr in den Platz hineinzugelangen, um bei günstiger Gelegenheit, Rückenwind und Heimweh einen der hohen Bälle meiner Gegnerin aus der Luft zu erwischen und möglichst uneinholbar in eine der Ecken zu dreschen. Dieser war’s doch! Ich rannte nach vorne, bemerkte im letzten Augenblick, dass ich mich gnadenlos verschätzt hatte, rannte wieder zurück, machte einen letzten verzweifelten Versuch, den Ball noch mit der Schlägerspitze zu erwischen, und … wurde an der Grundlinie überlobbt. Der Ball sprang vor mir auf, über mich drüber – ich warf den Kopf in den Nacken, die vier Zuschauer folgten der Flugkurve mit den Augen – und landete mit einem kaum vernehmbaren Plumpsen im Zaun.

An der Grundlinie überlobbt! Mit hängenden Schultern machte ich mich auf den Weg zum Netz, um einen der Bälle einzusammeln. Mein Blick war auf meine Schuhspitzen gerichtet (vielleicht leicht von Tränen verhangen) und deshalb bemerkte ich erst dort angekommen, dass auch meine Gegnerin zum Netz gegangen war und mir jetzt die Hand entgegenstreckte. Ich blinzelte konfus. In Zeitlupe sah ich meiner Hand dabei zu, wie sie zu einem Fremdkörper mit Eigenleben wurde und sich zitternd nach oben streckte – wie magnetisch angezogen von der ausgestreckten kleinsten Hand der Welt. Ich begriff, dass meine russische Gegnerin mit den hohen Socken und dem weißen Faltenrock die Wahrscheinlichkeit, jemanden an der Grundlinie zu überlobben, in ihrer Welt für ausgeschlossen hielt und überzeugt war, ihr Ball müsse im Aus gelandet sein. Wir schüttelten Hände, sie heulte, ich heulte, sie fühlte sich elend, weil sie verloren hatte, ich fühlte mich elend, weil ich geschummelt hatte – wenn auch unfreiwillig –, und die vier Zuschauer fühlten sich elend, weil sie ihre Zeit verschwendet hatten. Es war meine erste schlaflose Nacht nach einem Tennismatch – es sollte nicht die letzte sein – und nur die Berge waren unverändert in ihrem Starrsinn und unberührt von menschlichen Nichtigkeiten.

 

Am nächsten Tag reisten meine Eltern an. Sie waren Richtung Serbien unterwegs und wollten mich auf dem Weg auflesen. Ich stand unverhofft und wahrscheinlich auch unverdient im Finale. In der Nacht zuvor hatte ich kein Auge zugemacht. Wieder und wieder sah ich den hohen Ball direkt auf mich zufliegen. Sah mich ausweichen und nach hinten rennen, meinen Schläger ausstrecken, unbeholfen hopsen und an dem Ball vorbeischlagen. Vor allem aber sah ich, wie der Ball gute fünf Zentimeter vor der Linie aufkam, also eindeutig gut war, und wie meine Gegnerin mit auf den Wangen zerlaufenden Tränen das palmenartige Gebilde auf ihrem Kopf wippend Richtung Netz marschierte, um mir zu gratulieren. Ich hatte nicht aktiv...

Erscheint lt. Verlag 8.10.2020
Verlagsort Köln
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Ashleigh Barty • Darmstadt • Erfolg • Flüchtling • Grand slam • Jugoslawien • Lebensgeschichten • Serbien • Steffi Graf • Tennis-Platz • Tennisprofi • weltrangliste • Wimbledon • WTA
ISBN-10 3-462-32086-6 / 3462320866
ISBN-13 978-3-462-32086-2 / 9783462320862
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