Glücksritter (eBook)
240 Seiten
Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH
978-3-462-30230-1 (ISBN)
Michael Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, lebt als Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Marcel Proust, John Dos Passos, Graham Greene, Paul Bowles) in Berlin. Sein Werk (u.a. Ein Garten im Norden, Karlmann, Vaterjahre, Der Idiot des 21. Jahrhunderts) wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Zuletzt erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Preis (2015) und den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2016). 2020 erschien sein Buch Glücksritter. Recherche über meinen Vater.
Michael Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, lebt als Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Marcel Proust, John Dos Passos, Graham Greene, Paul Bowles) in Berlin. Sein Werk (u.a. Ein Garten im Norden, Karlmann, Vaterjahre, Der Idiot des 21. Jahrhunderts) wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Zuletzt erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Preis (2015) und den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2016). 2020 erschien sein Buch Glücksritter. Recherche über meinen Vater.
1. Kapitel Das Hans-im-Glück-Syndrom
In den Osterferien 2011 verbrachte ich mit meiner Familie zwei Wochen in Irland. Wie jedes Mal, wenn wir verreisten, hütete in dieser Zeit mein Vater bei uns ein, um sich um Hund und Katzen zu kümmern.
Obwohl es reiner Urlaub sein sollte, hatte meine Frau ihren Mailverkehr auf ihr Mobiltelefon umgeleitet, um auch auf Achill Island zumindest abends oder morgens einen kurzen Blick auf ihre Korrespondenz werfen und eventuelle dringende Schreiben beantworten zu können. Zu ihrem großen Verdruss funktionierte das aber nicht – ich weiß nicht mehr, ob es an fehlendem Netz lag oder irgendwelchen anderen Gründen. Nach einigen Tagen hatte sich meine Frau ins unabänderliche Offline-Dasein gefügt, es gab genug zu tun und zu sehen.
Kaum aber war unser Rückflug in Tegel gelandet, und 150 Menschen starteten im Gang stehend und auf den Ausstieg wartend ihre Telefone, ratterte – bildlich gesprochen – der Ertrag von 15 Tagen in ihre Eingangsbox. Dutzende und Aberdutzende in diesen zwei Wochen auf ihrem Computer empfangene Mails – jetzt wo der wieder in Reichweite war, standen sie alle auch zusätzlich im Telefon und waren, ihrer Aktualität verlustig, nur noch eine Plage.
Sehr bald jedoch sollten sich diese aufs Handy meiner Frau kopierten Mails als von entscheidender Wichtigkeit erweisen.
Wir waren am Dienstag nach Dublin geflogen, also war mein Vater am Montag nach dem Frühstück in sein Auto gestiegen und vor dem Mittagessen bei uns angekommen. Die knapp 300 Kilometer von Hamburg nach Berlin schaffte er, wie er sagte, locker in zweieinhalb Stunden. Er fuhr immer noch gerne schnell. Er verschwand mit seiner kleinen Reisetasche im Gästezimmer, zog sich bequeme Kleidung an, packte seinen Kulturbeutel im Badezimmer aus und setzte sich dann mit unserer Tochter, während ich den Tisch deckte, ins Wohnzimmer, um ihr rasch noch eine Geschichte zu erzählen. Im Januar war er 80 geworden, und er war, abgesehen von ein paar alterstypischen Zipperlein wie einer vergrößerten Prostata, bei guter Gesundheit.
Da der Teddy meiner Tochter auf dem Sofa lag, improvisierte mein Vater eine Geschichte über einen Teddybären. Das Mädchen wird erwachsen, und der Bär, der ihre Kindheit und Jugend miterlebt und behütet hat, wandert in den Wandschrank, wo er zehn entsetzlich einsame Jahre verbringt, bis eines Tages die Tür aufgeht, und ein neues kleines Mädchen, die Tochter seiner vormaligen Gefährtin, mit strahlenden Augen dem Teddy zu einem späten Glück verhilft.
Als ich rief: »Essen steht auf dem Tisch«, konstatierte ich lächelnd, dass mein Vater, wie früher, die Erzählung mit perfektem Timing zu Ende brachte.
Er erhob sich und sagte händereibend den Satz, den ich in meinem Leben vielleicht tausendmal von ihm gehört habe, wenn meine Mutter zu Tisch rief: »Doch wenn’s zum Esse’ gegange’ is, dann hat’s ihn gar grausam geeilt.« Das hörte sich komisch an, wenn man ihn sah, denn er hatte seit der Fresswelle in den frühen Sechzigern einen dicken Bauch, wenn ›dick‹ auch kein Wort war, das er benutzte, weder für sich noch für andere. Noch weniger das Wort ›fett‹. Mein Vater sagte ›proper‹ oder ›rundlich‹, selbst seine Schwägerin, meine adipöse Tante, die bei 1,63 Körpergröße zuletzt weit über 100 Kilo wog, nannte er liebevoll ›moppelig‹.
Sooft ich meinen Vater sein geflügeltes Wort zu den Mahlzeiten hatte sagen hören, hatte ich mir doch nie Gedanken gemacht, woher es eigentlich kam. Andere seiner Schablonen waren als Schiller- oder Goethe-Zitate zu erkennen oder hatten Frankfurter Lokalbezüge. Aber über dieses ging ich immer hinweg. Erst jetzt habe ich nachgeforscht und herausgefunden, dass es sich dabei um ein Lied des 1736 geborenen fränkischen Mundartdichters Johann Konrad Grübel handelt, Der Schlossergesell.
Ein Schlosser hat einen Gesellen gehabt, der hat zwar langsam gefeilt, doch wenns zum Essen gegangen ist, dann hats ihn gar grausam geeilt.
»Früher hast du nicht so traurige Geschichten erzählt«, sagte ich, als wir alle saßen, denn die Verbannung im Wandschrank ging mir nach.
»Das war eine schöne Geschichte!«, protestierte meine Tochter.
»Ich will ein paar davon aufschreiben und dachte, ich gebe sie dem Rydlewski. Vielleicht macht er was draus.«
»Darauf hat der gerade gewartet«, sagte ich. »Früher hast du auch nicht daran gedacht, etwas aus deinen Geschichten ›zu machen‹ oder sie zu verkaufen. Schon gar nicht ans Fernsehen.«
»Früher kannte ich auch niemanden, der beim Fernsehen ist.«
Rydlewski, einer seiner Versicherungskunden, von denen er auch mit 80 noch mehrere betreute, war Schauspieler und Drehbuchautor und gut im Geschäft.
»Du verkaufst deine Geschichten doch auch«, sagte meine Tochter zu mir.
Meine Frau grinste.
Den ganzen Tag lang ging mir nicht aus dem Kopf, dass der Bär trotz der zehn Jahre, die das Mädchen ihn weggesperrt hat, nicht verbittert ist, nur traurig, und am Ende keine Genugtuung empfindet, nur Freude.
Erst am Tag nach unserer Rückkehr – mein Vater war nach dem Frühstück abgereist, da er es ohne konkrete Aufgabe nie lange ohne meine Mutter aushielt und hatte angerufen, dass er gut zu Hause angekommen sei, die Wäsche war gewaschen, der letzte Koffer verstaut und die Computer gecheckt – ging meine Frau daran, die nun nutzlosen Mail-Doppels von ihrem Mobiltelefon zu löschen.
Kurz darauf kam sie aus ihrem Arbeitszimmer zu mir und sagte: »Deine Eltern haben ja merkwürdige E-Mail-Wechsel.«
Meine Mutter hatte vor ihrem 40. Lebensjahr angefangen schwerhörig zu werden. Spätestens seit ihrem 70. Geburtstag war sie de facto taub. Es war eine Form der Taubheit, eine Atrophie des Hörnervs, gegen die Hörgeräte nur wenig oder nichts ausrichteten. Ich hatte mir angewöhnt, in ihrer Gegenwart sehr laut zu sprechen, aber sie verstand mich trotzdem nur, wenn es ansonsten keine Nebengeräusche im Raum gab.
Nach 57 Ehejahren hatten meine Eltern natürlich Formen der Kommunikation und des gegenseitigen Verstehens gefunden, bei denen es auf das genaue Hören nicht mehr so ankam, aber gegenüber anderen Menschen isolierte der Zustand sie sehr, umso mehr, als sie nie in ihrem Leben auch nur einmal gesagt hätte: »Entschuldigen Sie bitte, ich habe Sie nicht verstanden, ich bin etwas schwerhörig.« Stattdessen lächelte sie den Menschen verständnissinnig zu und antwortete gar nichts oder sagte etwas völlig Unpassendes oder behalf sich mit einer Höflichkeitsfloskel. Ich hatte in meiner Kindheit und Jugend darunter gelitten, dass die Menschen sie deswegen für arrogant oder hochnäsig hielten.
Was ich sagen will, ist, dass meine Mutter seit Langem nicht mehr telefonieren konnte, seit es aber E-Mails gab (zuvor hatten sie sich, waren sie getrennt, Faxe geschrieben, davor Briefe), tauschten die beiden Mails, um sich zu erzählen, wie der Tag gewesen war. Und während mein Vater bei uns wohnte, benutzten sie dazu den Account meiner Frau.
»Wieso merkwürdig?«, fragte ich.
»Da war die ganze Zeit die Rede von einem Captain Brooks oder so. Kennst du einen Captain Brooks? Und deine Mutter hat insistiert, dass dein Vater vor seiner Abreise ihren gesamten Mailverkehr löscht, weswegen er auf meinem Computer auch nicht mehr ist; aber alle Mails, die deine Mutter ihm geschrieben hat, sind auf meinem Handy.«
»Ihre typische Geheimnistuerei.«
»Sieh sie dir mal an. Ich hab nur kurz draufgeschaut, aber es klingt seltsam.«
Sechzig Jahre zuvor, als meine Mutter bei den Amerikanern gearbeitet hatte, kannte sie mehrere Captains, aber keiner von denen hatte Brooks geheißen. Ein Mann dieses Namens war ihnen nie begegnet, darauf konnte ich schwören, ich kannte den sehr überschaubaren Bekanntenkreis meiner Eltern durch die Zeiten. Blieb ein Versicherungskunde meines Vaters.
Neugierig geworden, ließ ich mir diese Mails meiner Mutter, die er alle säuberlich vom Computer meiner Frau gelöscht hatte, von ihrem Mobiltelefon auf meinen Mailaccount schicken und überflog sie von der neuesten bis hinunter zur ersten, am Tag unserer Abreise geschickten.
Der erste kryptische – oder zumindest merkwürdige – Satz meiner Mutter vom Tag vor unserer Rückkehr lautete: »Es ist 12 Uhr 14, gerade habe ich deine Mail gefunden, ich hatte schon ein paarmal nachgesehen. Ich wollte warten, bis etwas von unserem Freund kommt, aber bisher nichts. Bei der Gelegenheit: Lösche bitte alle unsere persönlichen Mails.«
Merkwürdig war nicht die Geheimnistuerei – meine Mutter hat selbst heute noch, tief in der Demenz versunken, die Angewohnheit, Zwei-gegen-eins-Konstellationen zu bilden: In ihrer Senioren-WG hebt sie mir gegenüber die Augen zum Himmel, um zu signalisieren, dass wir nichts mit den ›Leuten‹ zu tun haben, die sonst noch am Tisch des Gemeinschaftsraumes sitzen, sobald ich aber aufstehe und sie glaubt, ich sehe nicht mehr hin, hebt sie ihrem Nachbarn gegenüber ebenso die Augen und sagt, in ihrer Taubheit glaubend, ich könne sie nicht hören: »Das war mein Sohn, der Besserwisser.«
Als ich noch ein Kind war, war das dramatischer, denn sie verbrüderte sich immer einmal wieder mit mir gegen meinen Vater, und wenn ich ihn dann beleidigte, indem ich ihm die Schwächen vorhielt, über die sie sich mokiert oder beklagt hatte, wechselte sie sofort auf seine Seite und machte mir, zusätzlich zu den Ohrfeigen meines Vaters, auch noch Vorwürfe für meine Frechheit. Als ich mit siebzehn...
Erscheint lt. Verlag | 20.8.2020 |
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Zusatzinfo | 1 Foto |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Familie • Frankfurt • Generation • Herkunft • Karlmann • Michael Kleeberg • Nachkriegs-Deutschland • Nachkriegsgeneration • Nachkriegszeit • Tod • Vater • Vater-Beziehung • Vater-Sohn |
ISBN-10 | 3-462-30230-2 / 3462302302 |
ISBN-13 | 978-3-462-30230-1 / 9783462302301 |
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Größe: 2,1 MB
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