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In meinem Herzen steckt ein Speer (eBook)

Das Jahr, das alles veränderte

(Autor)

eBook Download: EPUB
2020 | 1. Auflage
288 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2399-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

In meinem Herzen steckt ein Speer -  Anja Caspary
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Für die meisten von uns ist es die größte Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren oder eine schwere Krankheit zu bekommen. Doch wie kann ein Leben gelingen, wenn einem beide Katastrophen widerfahren?  In ihrem bewegenden Buch schreibt Anja Caspary darüber, dass ein Leben auch angesichts existenzieller Verluste möglich ist. Und darüber, dass eine Liebe auch den Tod überdauern kann.  

Anja Caspary, langjährige Moderatorin von radioeins (rbb), ist seit August 2015 Musikchefin des Programms. Ihr Mann war der Musiker (»Die Ärzte«) und Musikredakteur (Tip) Hagen Liebing, der im September 2016 mit nur 55 Jahren an einem Hirntumor starb.

Anja Caspary, langjährige Moderatorin von radioeins (rbb), ist seit August 2015 Musikchefin des Programms. Ihr Mann war der Musiker ("Die Ärzte") und Musikredakteur (Tip) Hagen Liebing, der im September 2016 mit nur 55 Jahren an einem Hirntumor starb.

Un-Break My Heart


Toni Braxton

2015, KW 36

In meinem Tischkalender steht in blauem Filzstift über der Woche: »Heute beginnt der Ernst des Lebens.« Ist lustig gemeint. Zum ersten Mal werde ich fest angestellt sein. Jeden Tag acht Stunden arbeiten müssen. Festes Gehalt. Nach 26 Jahren freier Mitarbeit im Rundfunksender. Ich werde ab September 2015 Musikchefin sein. Schon bedeutsam. Ein Traumjob. Ich freue mich darauf. Vertragsunterzeichnung soll am Montag, den 31. 8., im Personalbüro sein. Ich habe mich gut vorbereitet, denn ich will noch verhandeln. Aus Prinzip.

Weil Männer so etwas automatisch tun und Frauen nicht. Weil Männer meist selbstbewusst nach oben ausreizen und Frauen immer zu servil denken: Oh, ich bekomme diesen Job, aber bin ich überhaupt gut genug dafür? Oder: Sie zahlen ja ordentlich, hoffentlich bin ich das wert. Bemerke ich solche Impulse bei mir, pole ich mich mit Absicht um. Nicht weil ich lieber ein Mann wäre, sondern weil ich Gerechtigkeitsjunkie bin. Wir leben im Kapitalismus, die Höhe des Gehalts ist ein Ausdruck von Anerkennung. Ich versuche also, in solchen Dingen immer zuerst zu überlegen, was ein Mann an meiner Stelle tun würde.

Vor dem Termin um 11:00 Uhr habe ich noch einen früheren: um 9:15 Uhr im Mammografie-Zentrum. Der lässt mich aber im Vergleich zu dem Termin danach völlig kalt. Schon ein Jahr zuvor, als ich fünfzig wurde, hat man mich zum Brustkrebsscreening eingeladen. Wird deutschlandweit jeder Frau in diesem Alter angeboten. Eine »Mammo« ist außerdem nichts Neues für mich, ich habe schon einmal eine gemacht. Mit vierzig. Meine Frauenärztin meinte, ich hätte eine »so knotige Brust, man kann da nichts tasten. Lassen Sie mal lieber ein Vergleichsbild machen für später.« Alles okay damals. Aus Erfahrung weiß ich auch, dass die Untersuchung unangenehm sein kann. Vor allem, wenn die Brüste, typischerweise kurz vor den Tagen, angeschwollen sind. Es tut weh, wenn sie dann im Röntgengerät platt gedrückt werden. Weil es also nicht nur schmerz-, sondern auch bildtechnisch ratsam ist, die Dinger im schlaffen Zustand quetschen zu lassen, habe ich den Screening-Termin im letzten Jahr abgesagt. Da waren sie gerade um eine Körbchengröße angeschwollen. Mein Mann findet diese Phasen toll, er feiert die unterschiedlichen Zustände seines Lieblingsbusens. Ich nenne mich dann gerne beim Rommé-Spielen oder Kniffeln »Hormona«, weil ich mir mit diesem Atombusen so fremdbestimmt vorkomme.

Der Mammo-Termin, den ich heute habe, passt gut. Gerade sind meine Tage vorbei und alles obenrum entspannt. Ich bin froh, dieses Screening endlich hinter mich zu bringen, denn bald werde ich sicher keine Zeit mehr für Arzttermine haben. Schließlich beginnt jetzt ja für mich der Ernst des Lebens.

8:45 Uhr. Ich hole mein Motorrad aus der Garage. Es ist warm, ich werde in Jeans und Turnschuhen nach Steglitz fahren und mich dann, vor der Vertragsunterzeichnung, noch mal schnell zu Hause duschen und umziehen. Möchte ja nicht mit vom Helm platt gedrückten Haaren im Sender auflaufen. Um selbstbewusst handeln zu können, muss ich mich wohl in meiner Haut fühlen – und schön. Finde ich mich zwar auch in Motorradklamotten, aber die meisten unbedarften Menschen haben Angst vor dem Rockerlook. Oder denken, in so etwas kann nur ein Proll stecken. Nachher soll es ein bisschen was Schickeres sein. Vielleicht ein Kleid?

Wenn ich jetzt mit dem Motorrad fahre, werde ich es trotz eines möglichen Staus auf jeden Fall schaffen, pünktlich in der Rundfunkanstalt zu erscheinen. Ich schlüpfe in meine rot-weiße Lederjacke französischer Marke, die ich seit meinem 16. Lebensjahr besitze. Seit ich mein Zündapp-Mokick fuhr. Mein großer Bruder hatte es vorgemacht, und das, was der durfte, konnte mir nicht verboten werden. Schon gar nicht mit dem Argument, ich sei ein Mädchen. Gerade die sollen unabhängig sein und nicht nachts als beleuchtetes Opfer an Haltestellen herumsitzen, hatte ich selbstbewusst gefordert. Und damit meiner Mutter den Wind aus den Segeln genommen. Sie konnte nur noch missbilligend zuschauen, wie ich zuerst den 4er-Führerschein machte, mir dann vom Ersparten eine Vespa kaufte und diese schnell mit der Zündapp austauschte, weil man die frisieren konnte und Schalten Spaß macht.

Die Moto-Cuir-Jacke ist mittlerweile obenrum etwas knapp. Damals hatte ich kleinere Brüste, vergleichbar klein waren sie später nur noch zweimal, jeweils direkt nach dem Abstillen meiner Kinder. Da hingen zwei schlaffe Säckchen am Brustkorb herunter, und ich war entsetzt in die Kantstraße zu »Korsett Engelke« geeilt, um der alten Dame mein Leid zu klagen. Dachte, in so einem Spezialladen gäbe es wenigstens korrekte Beratung. Gab es, und wie. Frau Engelke fasste zu meiner Überraschung doch tatsächlich meine Brüste an, wiegte sie prüfend in ihren Händen und sagte mit Kennermiene: »Das kriegen wir wieder hin.« Und: »Die dürfen jetzt nicht hängen, sondern müssen liegen, dann füllen sie sich wieder.«

Tatsächlich, in den schwarzen Spitzen-Balconette-BHs mit Metallverstärkung, die sie mir verkaufte, wuchsen die Brüstchen über die Monate wieder zur vollen Pracht heran. Aber so groß wie gerade waren sie noch nie. Eigentlich habe ich immer B-Körbchen, im Sommerurlaub vor drei Wochen habe ich zwei BHs mit C-Körbchen gekauft.

Ich bin mir sicher, dass ich keinerlei Befund haben werde. Warum auch? All die bekannten Risiken, an Brustkrebs zu erkranken, treffen auf mich nicht zu. In meiner Familie gab es noch nie Brustkrebs. Ich habe zwei Kinder, die ich fast ein Jahr lang gestillt habe. Die Pille habe ich nur ganz kurz genommen, als ich 16 war. Schnell hatte ich damals gemerkt, dass sich mein Ich durch die Einnahme stark veränderte. Ich hatte plötzlich viel weniger Lust auf Sex, war launisch, und meine Handgelenkknöchel zeichneten sich nicht mehr unter der Haut ab, weil ich mehr Unterhautfettgewebe hatte. Damals lernte ich auch den Begriff »Libidoverlust« kennen, dieses Wort stand auf dem Beipackzettel unter »mögliche Nebenwirkungen«. Ich setzte die Pille sofort wieder ab. Mein Körper sollte nicht durch künstliche Hormone in eine Scheinschwangerschaft versetzt werden. Das konnte doch auf Dauer nicht gesund sein. Seither verhüte ich mit Präservativen und zuletzt mit einem elektronischen Gadget, einem Verhütungsmonitor, der Hormone im Urin misst und vor den »gefährlichen« Tagen warnt. Lieber etwas umständlich, als sich täglich mit der Pille zu verseuchen. Ein Glück, denn, wie man heute weiß, erhöhen künstliche Hormone das Thrombose-, Schlaganfall-, Herzinfarkt- und Brustkrebsrisiko. Da ich auch schlank bin, Sport mache, nicht rauche und mich gesund und vollwertig ernähre, habe ich überhaupt keinen Bammel vor der Untersuchung. Wir haben sogar seit Jahrzehnten eine Körnermühle, mit der ich Dinkel und Hafer frisch mahle, da bin ich definitiv die Einzige im Bekanntenkreis, die das praktiziert, so öko wie ich ist niemand unserer Freunde.

Und da ist noch etwas: Ich lasse immer alles raus. Fresse nie etwas in mich rein, sage immer geradeheraus, was ich denke. Auch in der Beziehung. Deshalb haben wir doch diese tolle Beziehung, Hagen und ich, weil wir miteinander sprechen. Über alles. Weil wir jedes kleinste Wölkchen zum Thema machen. Damit sich nichts aufbauscht und irgendwann ein Riesengewitter aufzieht. Das habe ich mir schon früh vorgenommen, denn ich wollte keine so beknackte Ehe wie meine Mutter und mein Stiefvater führen. So unehrlich und steif, die beiden trauten sich ja noch nicht mal, voreinander zu pupsen. Zu Hause wurde verschämt die Badezimmertür abgeschlossen, und weder Gefühle noch Probleme wurden direkt angesprochen. Meine Mutter befand sich ständig in stummer Erwartungshaltung. Dass jemand den Müll herunterbringt, der Ehemann die kaputte Lampe repariert, sie mit Blumen verwöhnt, Theaterkarten besorgt, all diese Wünsche aber sprach sie nie aus. Und weil er das Unausgesprochene nicht tat, schnappte sie ein. Dabei wusste der arme Kerl doch gar nicht, was er hätte machen sollen. »Du hast mich verletzt«, war ihr Lieblingssatz. Immer lagen bei uns deshalb schlechte Vibes in der Luft. Dann lieber alleine bleiben, davon war ich überzeugt, denn frei und eigenverantwortlich zu leben ist ja auch verlockend. Mein Ziel war: Zu zweit muss es besser sein als alleine. Und war das nicht der Fall, machte ich Schluss. Schnell. Oft gemeinerweise ziemlich rigoros, wie Carmen in Bizets gleichnamiger Oper. Ohne schlechtes Gewissen. Ich wollte einfach keine Lebenszeit mit dem Falschen vergeuden. Und dafür wurde ich im Alter von 26 Jahren mit einem Mann belohnt, den ich 25 Jahre lang Babe nennen würde, obwohl er Hagen heißt, einem Mann, mit dem das Leben sehr viel schöner ist als mit mir allein.

Mit Hagen kann ich einfach über alles reden, auch über Unangenehmes. Und wenn wir etwas voneinander erwarten, dann sagen wir uns das gegenseitig, direkt und ohne Vorwurf, denn keiner von uns kann hellsehen. Mit diesem Mann ist alles mühelos. Die verschiedensten Welten kann ich mit ihm unter einen Hut bringen: Wir können voreinander popeln und pupsen, miteinander krank sein, uns um Kinder, Arbeit, Essen und die ganze Alltagsorganisation kümmern und dennoch seit Jahrzehnten immer...

Erscheint lt. Verlag 14.9.2020
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Biografien / Erfahrungsberichte
Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Esoterik / Spiritualität
Sachbuch/Ratgeber Gesundheit / Leben / Psychologie Lebenshilfe / Lebensführung
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Onkologie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
Schlagworte Brustkrebs • Die Ärzte • Hagen Liebing • Hirntumor • Kampf gegen den Krebs • Liebe • Liebe des Lebens • Musik • Musikchefin • Optimisums • radioeins • Schwere Krankheit • Starke Frau • Sterben • Tod • Tumor • Überlebenswille • Zusammenhalt
ISBN-10 3-8437-2399-0 / 3843723990
ISBN-13 978-3-8437-2399-2 / 9783843723992
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