PLANET DER SIRENEN (eBook)
CCCLIII Seiten
BookRix (Verlag)
978-3-7487-3528-1 (ISBN)
Erstes Kapitel
Raumschiff Argo, 30. Dezember 2103
»Kommandant Ulixes Merser an Bordbuch:
Heute Morgen, neun Uhr, verstarb Christian Jason, bisher Leiter der Raumfahrtexpedition Argo, im Alter von sechsundachtzig Jahren. Möglicherweise allgemeine physische Schwäche. Genaueres kann nicht gesagt werden, da wir seit fünfzehn Monaten über keine medizinische Kader mehr verfügen.
In Anbetracht meiner beruflichen Erfahrung und Qualifikation wurde mir von meinen Mitarbeitern zusätzlich zur Aufgabe des ersten Navigators die Leitung der Expedition übertragen. Damit wurde meine Funktion der letzten sieben Jahre offiziell bestätigt.
Meine Annahme, dass wir uns auf einer linearen Bahn dem Sonnensystem Xerxes A mit einem, relativen Tangentialabstand von siebzehn AE nähern, erweist sich nach den neuesten Messungen als nicht haltbar. Ich schlussfolgere, dass meine früheren Angaben durch Überlagerungen interstellarer Magnetfelder und daher verfälschter Messwertergebnisse zustande kamen. Unter diesem Gesichtspunkt wäre eine bessere Abschirmung der Instrumente für die Zukunft wünschenswert.
Wir nähern uns auf leicht gekrümmter Bahn einem Stern der Spektralklasse M fünf V, dessen Gravitation bereits vor zwei Monaten zu einer geringfügigen Abweichung unserer Flugrichtung führte. Der Stern hat eine erheblich geringere Eigenrotation, als er gemäß Energiezustand, Masse und Volumen haben dürfte. Ich nehme an, dass er seinen Drehimpuls an einen Planetengürtel abgegeben hat. Wir haben in der Tat bisher sechs dunkle Begleiter feststellen können. Einer von ihnen dürfte annähernd eine jupiterähnliche Masse besitzen. Bis auf den äußeren Planeten, dessen Bahn wir vor zehn Minuten überschnitten, befinden sich alle Begleiter in einer Rotationsebene.
Meine ursprüngliche Vermutung, dass es sich um das System des Barnard'schen Pfeilsterns handelt, hat sich nach den letzten Erkenntnissen als richtig erwiesen. - Ende.«
Das Mikrofon des Bordbuchs glitt in die Halterung zurück. Merser blickte auf und musterte sein Spiegelbild in einem der erloschenen Bildschirme. Die Notbeleuchtung ließ sein Gesicht geisterhaft erscheinen, hohläugig, mit dunklen Ringen unter den Augen. Seine Wangen waren eingefallen, und die Haut war von ungesunder Blässe. Arm- und Beinmuskulatur hatten sich wegen des mangelnden körperlichen Trainings zurückgebildet. Wozu noch sich sportlich betätigen, wo doch alles keinen Zweck mehr hatte? Die Ärmel der Kombination schlotterten bei jeder Bewegung wie die Segel eines Bootes bei Windstille.
Traurig siehst du aus, sagte er sich, du könntest etwas Höhensonne vertragen. Aber die Energiesituation des Raumschiffs hatte ein bedrohliches Stadium erreicht. Sechsunddreißig Jahre waren seit dem Tag der Katastrophe vergangen. Sechsunddreißig Jahre Odyssee ohne Hoffnung auf eine Rückkehr zur Erde. Und nun war die Energieerzeugung des Schiffs am Ende. Jedes Anschalten nicht unbedingt notwendiger Geräte - auch der Beleuchtung - bedeutete Energieentzug und verkürzte Lebenserwartung. Das Schiff lag bis auf wenige Räume in völliger Dunkelheit.
Merser klopfte mit den Knöcheln gegen die Scheibe des Messinstruments für den Energievorrat. Die Nadel stand unbeweglich einige Grade über der Null. Beim jetzigen Verbrauch waren sie noch für einige Zeit in der Lage, gefahrlos zu leben.
Merser lachte auf. Die beiden Gefährten fuhren herum und sahen ihn fragend an.
Gefahrlos leben! Seitdem er das Sparprogramm angeordnet hatte, war in den Vorstellungen seiner Mitarbeiter eine Ahnung aufgetaucht, was sie erwartete. Ende der Energieversorgung! Nach einer Überschlagsrechnung konnte er abschätzen, dass das Lebenserhaltungssystem in achtzehn Monaten seine Funktion einstellen würde. In achtzehn Monaten, keinen Tag später, eher früher. Die Temperaturen werden zunächst bis auf den Gefrierpunkt absinken, dann ihn unterschreiten. Als letztes stellen die Algenkammern die Atemluftregeneration ein. Erfrieren oder ersticken - so sah ihre Perspektive aus.
Seine Gefährten wirkten äußerlich nicht viel anders als er, nur war keiner von ihnen so stark ergraut. Aber dafür war er mit einundsechzig Jahren der Älteste von ihnen.
Keine Prahlerei, bitte. Gay Anderson, der Biologe, war nur ein knappes Jahr jünger, und Ingomar Lindner, der Ernährungswissenschaftler, gerade zwei. Richtig, der hatte übermorgen Geburtstag. Grund zum Feiern. Feiern, ha!
Als sie vor mehr als dreieinhalb Jahrzehnten die Erde verließen, gehörten sie zu den verzärtelten Nesthäkchen der Expedition, den ganz jungen, die sich erst die Hörner abstoßen mussten, Erfahrungen sammeln auf einem Flug im jupiternahen Raum. Drei Jahre sollte es dauern, sechsunddreißig waren es geworden.
Nun hatten sie alle anderen überlebt. Als letzten den Kommandanten Christian Jason. Sechsundachtzig Jahre. Erstaunlich, wie lange sich das Leben in diesem schwächlichen, ausgemergelten Körper halten konnte, unvorstellbar, kaum glaubhaft, dass nach jeder Nachtruhe von neuem seine brüchige Stimme aus dem Dunkel der Kabine ertönte.
Seit heute Morgen nicht mehr.
Ein leises Geräusch störte ihn. Lindner hatte sich an den Computer gesetzt und beobachtete ausdruckslos den Bildschirm. An dessen leuchtendem Mittelpunkt führte eine dünne Linie vorbei, kaum sichtbar gekrümmt.
Auf dem ersten Blick sah Merser, dass Lindner die Flugbahn des Raumschiffs berechnet hatte und eine Modellfunktion auf den Bildschirm zeichnete.
Das hätte Ingomar sich sparen können. Er wusste es längst. Man konnte es sich an den Fingern abzählen. Das
Raumschiff würde in verhängnisvolle Nähe der heißen Sonne geraten. Die Gravitation des Pfeilsterns würde das Schiff zwar nicht in die glühende Hülle hineinziehen, aber bei dem geringen Abstand von nur fünf Radien musste es verbrennen.
Erfrieren, ersticken, verbrennen - groß war die Auswahl wirklich nicht. Nur das Ende war sicher, nach sechsunddreißig Jahren Hoffnung. Der Teufel mochte wissen, woher man sie die ganze Zeit genommen hatte.
»Die Sonne ist trotz ihrer Größe nicht in der Lage, uns einzufangen. Wir werden durch das ganze Planetensystem im Winkel von zwölf Grad über der Rotationsebene buchstäblich hindurchgeschossen«, sagte Lindner müde. Er rieb sich die Augen und blinzelte in die Notbeleuchtung.
»Und ich dachte immer«, ließ sich Andersons knarrende Stimme vernehmen, »wir würden eines Tages gleich dem Fliegenden Holländer von einer bedingungslos liebenden Seele erlöst.« Er lachte freudlos.
»Du hast dich nicht geirrt?«, fragte Merser.
»Ich habe den Rechenvorgang dreimal wiederholt.«
Merser versuchte die Stimmung aufzulockern. »Und wie lauten die drei Ergebnisse?« Es klang arrogant.
»Das Energieaufkommen garantiert uns bestenfalls noch siebzehn Monate«, fuhr Lindner nach längerer Pause fort, »danach werden sich alle Systeme des Raumschiffs lautlos verabschieden. Zu dieser Zeit ist die Sonne nur noch ein helles Fünkchen im Gewirr der Sterne hinter uns. In genau vierundfünfzig Stunden haben wir das Gravitationszentrum, den Pfeilstern, mit der relativ größten Nähe von eins-Komma-eins Astronomischen Einheiten erreicht. Rund siebzig Stunden später verlassen wir das Planetensystem. Die Wärmestrahlung ist kein Problem. Dafür sind wir viel zu schnell aus der Gefahrenzone heraus. Wir werden spurlos zwischen den Welten verschwinden.«
»Du dürftest dich verrechnet haben«, sagte Merser. Er war bei seinen letzten Messungen zu anderen Ergebnissen gelangt. Lindner war Ernährungs-Wissenschaftler - nicht Navigator. Woher sollte er das wissen. Überhaupt: »Wissenschaftler...«
»Ich hatte sechsunddreißig Jahre Gelegenheit, alle Fähigkeiten zu erlernen, die ein Mensch in meiner Situation benötigt«, gab Lindner mit leichter Schärfe zurück.
Anderson kicherte.
Merser spürte einen brennenden Druck in den Augäpfeln. Es konnte und durfte nicht ein so unrühmliches Ende nehmen, nicht nach so vielen Jahren. Er hatte das undeutliche Gefühl, dass eine Chance auf sie zukam, die man um nichts in der Welt verpassen durfte. Aber wie in den meisten Fällen musste man erst erkennen, worin sie bestand.
Wer mochte nur auf den Gedanken gekommen sein, die Notbeleuchtung blau zu färben? Weil die Kardin-Leuchtstäbe kaum messbare Leistungsaufnahme hatten, klar. Aber warum ausgerechnet blau?
Müßige Gedanken!
Wie hoch waren die Treibstoffreserven?
0,05? Ein einziger Tank der Starttriebwerke war noch intakt. Der letzte.
Für eine größere Operation zu wenig, aber vielleicht ausreichend, um eine Bahnkorrektur vorzunehmen. Man könnte möglicherweise die vom Pfeilstern verfälschte Flugbahn in eine annähernd kreisförmige umwandeln. Das Raumschiff könnte dann als Satellit des Sterns seinen Energiebedarf aus Solarzellen decken. Könnte, könnte...
Merser beugte sich vor und tippte die Frage in den Computer ein. Den Bruchteil einer Sekunde später bestätigte dieser auf dem Datensichtgerät die prinzipielle Möglichkeit eines solchen Unternehmens.
Lindner betrachtete ihn gelassen. Anderson hatte sich abgewandt. Zusammengekrümmt starrte er vor sich hin. Er litt unter Magenbeschwerden, wie so häufig.
»Grundsätzlich ist eine Kreisbahn möglich«, begann Merser. »Die Treibstoffreserven sind ausreichend. Der Computer sichert zu, dass wir in der Lage wären, im Lebenskreis dieser Sonne eine Satellitenbahn anzunehmen und sogar zu stabilisieren. Die Operation würde acht Monate dauern. Eine echte Chance.«
»Ein Silberstreif am Horizont, was?«, höhnte...
Erscheint lt. Verlag | 8.4.2020 |
---|---|
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Science Fiction |
Schlagworte | Abenteuer • action • Aliens • anspruchsvoll • Apex-Verlag • Astronauten • Außerirdische • Außerirdische Begegnungen • DDR • DDR-Literatur • Drama • eBook • Fremde planeten • Fremde Welten • Klassiker • klassisch • Kosmologie • Kosmonauten • Literatur • Odyssee • Raumschiff • Raumschiffe • Roman • Romane • Science Fiction • Sci-fi • SciFi • SF • Spannung • Weltraum |
ISBN-10 | 3-7487-3528-6 / 3748735286 |
ISBN-13 | 978-3-7487-3528-1 / 9783748735281 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
![EPUB](/img/icon_epub_big.jpg)
Digital Rights Management: ohne DRM
Dieses eBook enthält kein DRM oder Kopierschutz. Eine Weitergabe an Dritte ist jedoch rechtlich nicht zulässig, weil Sie beim Kauf nur die Rechte an der persönlichen Nutzung erwerben.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich