Scott Carson ist das Pseudonym eines »New York Times«-Bestsellerautors und Drehbuchschreibers. Er lebt in New England an den Ufern eines Stausees.
20. Oktober 2000
FLUSSAUFWÄRTS
1
Molly nahm eine schwarze Seidentasche mit, die sie sich über den Kopf ziehen konnte, denn sie wollte so lange nichts sehen, bis sie zurück nach Galesburg kam.
Der Stoff war weich und schön, aber zugleich dicht und dunkel, wodurch er sie besser abschirmen würde als der Leinensack oder der weiße Kissenbezug, die sie in Erwägung gezogen hatte. Und er würde sich angenehmer anfühlen als der schwarze Müllsack.
Sie legte die Seidentasche zu den Spulen mit starker Hochseeangelschnur und den langen Edelstahlhaken in ihrer Handtasche. Die Eisenketten und das Vorhängeschloss hatte sie bereits auf dem Felsvorsprung über dem See versteckt.
Obwohl sich ihr Puls beim Anblick der Haken beschleunigte, klappte sie, ohne zu zögern, die Handtasche zu. Sie war eine Stoikerin, und das machte sie stolz. Unerschütterlich hatte ihr Vater sie als Mädchen genannt, und darauf war sie ebenfalls stolz gewesen. Zu jener Zeit hatten immer mehr Familien das Dorf verlassen, während ihr Vater jede Nacht mit der Schrotflinte im Schoß auf seinem Stuhl auf der Veranda saß und auf Plünderer wartete. Er war wachsam, aber nicht wütend auf sie. Er beharrte darauf, dass die echten Plünderer vom Staat kämen und der Damm am Cresap Creek der wahre Diebstahl sei. Der ganze Rest, sagte er, sei durch dieses erste Verbrechen ausgelöst worden. Was erwartete man denn, wenn man einen Ort enteignete? Die Sünde würde wie das Wasser bergab fließen, und Gesetzlosigkeit und Anarchie würden herrschen, sobald die Einweihungszeremonie vorbei war.
Sie wusste nicht, ob er in diesen Nächten überhaupt schlief. Morgens, wenn er Molly zur Schule brachte, behielt er sein Gewehr in der Hand. Sie kamen immer an dem uralten Holzgebäude vorbei, in dem er selbst unterrichtet worden war, und er nickte dann in die Richtung oder zeigte mit dem Lauf der Kaliber .12 darauf und erzählte ihr, wie viel besser es damals gewesen sei. Weniger Gier, sagte er immer. Weniger Gier und mehr Prinzipien. Damals. Galesburg war nicht nur ein Dorf, sondern eine Gemeinschaft.
Dann brachte er sie die Betonstufen vor dem neuen, aber schon dem Untergang geweihten Schulhaus aus Backsteinen hinauf, sah zu, wie sie die Tür öffnete, lächelte und winkte, während er die Schrotflinte in der anderen Hand hielt.
Sie erwiderte sein Lächeln, ohne sich ihre Angst anmerken zu lassen, selbst an den letzten Tagen, als sie die einzige Schülerin war und allein an ihrem Pult in dem zweigeschossigen Gebäude mit all seinen seltsamen Geräuschen saß. Oder, noch seltsamer, seiner völligen Stille.
Sie war Molly Mathers, und sie war unerschütterlich. Stoisch.
Seitdem waren Jahrzehnte vergangen, aber ihr Temperament hatte sich nicht verändert. Als sie ihr Schlafzimmer verließ, war sie versucht, vor dem Spiegel stehen zu bleiben, ihr Abbild anzusehen, als wäre es ein anderer Mensch, und sich von ihm zu verabschieden. Doch das kam ihr zu theatralisch vor. Unnötig. Das einzige Gesicht, das sie heute sehen musste, war das ihrer Enkelin. Natürlich musste sie dazu in der Schule vorbeischauen. Molly fürchtete sich davor, die Schule zu betreten, aber es musste sein.
Sie schloss die Schlafzimmertür hinter sich, ging durch den schmalen Korridor mit der altmodischen Blumentapete und stieg die knarrenden Stufen zur Diele hinab. Links war das Esszimmer, rechts die Bibliothek. Ein ungastlicher, muffiger Raum, eine Steigerung der Atmosphäre des restlichen Hauses, eher Museum als Heim. Die Bücherregale an den Wänden hatten ihr allerdings immer gefallen.
Jetzt ging sie zur hinteren Wand, an der auf einem verwitterten Holzschild Schule von Galesburg stand. Ihr Vater hatte es vom ursprünglichen, einräumigen Schulhaus abgerissen, bevor das Gebäude niederbrannte.
Molly hakte die Finger unter die Zierleiste des Regalbretts unterhalb des Schilds und zog. Die Wand schwang in gut geölten Angeln nach innen. Es war die einzige Tür im Haus, die sich geräuschlos öffnen ließ. Sie roch den Rauch und die Feuchtigkeit auf der anderen Seite, bevor sie den Raum erkennen konnte.
Sie wartete, bis ihre Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten. Trotz der zahlreichen Laternen, die an Haken vom Mittelbalken herabhingen, war es zu dunkel dort. An allen Wänden hingen alte Bilder. Überwiegend Fotos. Die ältesten waren Zeichnungen. Sie kannte jedes Foto und jede Zeichnung, wusste genau, wo und wann sie entstanden waren. Seit sie sich zuletzt gestattet hatte, sie näher zu betrachten, waren viele Jahre vergangen, trotzdem kannte sie sie in- und auswendig.
Sie sah ihre Enkelin im Laternenlicht. Gillian saß am Pult und blickte zur Tafel. Das Pult hatte einmal Molly gehört.
Gillian bemerkte sie nicht. Sie war in ein Buch vertieft. Sie hielt den brünetten Kopf gesenkt, bewegte die blauen Augen von links nach rechts und trommelte mit ihren abgeknabberten Fingernägeln – die einzige schlechte Angewohnheit, die man ihr nicht abgewöhnen konnte – auf dem leeren Tintenfass an der Vorderkante des Schreibtischs. Dass es leer war, war Mollys Verdienst, ein Symbol für einen der wenigen Kämpfe, die sie gegen ihre eigene Mutter gewonnen hatte. Molly hatte versprochen, am Unterricht der Galesburg-Schule teilzunehmen, aber darauf bestanden, dass ihr Wissen über die gegenwärtige Welt nicht bestritten wurde. Respektiere die Vergangenheit, aber lebe nicht in ihr. Der Kugelschreiber, der neben Gillians Hand lag, war ein Zeugnis von Mollys Sieg, der das Tintenfass des alten Schulpults überflüssig machte.
Als sie jetzt das Pult betrachtete, war sich Molly allerdings nicht so sicher, dass sie wirklich gewonnen hatte. Ja, das Tintenfass war überflüssig geworden, aber es war noch da. Die Vergangenheit war immer da. Sie lebte in Antiquitäten und Erinnerungen weiter, in Kriegsgeschichten und Warnungen, aber sie war nie weg.
Und sie ruhte nie.
Molly ließ das schwenkbare Bücherregal einen Spalt offen stehen, sodass ein dünner grauer Lichtstrahl in das Klassenzimmer fiel, und ging zu ihrer Enkelin. Auf dem Weg sah sie unbehaglich zur Decke auf. Die verschlissenen Pappelbohlen waren seit jeher von dunklen Brandflecken übersät gewesen. Damals, als Molly unter ihnen gelernt hatte, waren dicke kalte Tropfen herabgefallen, während sie langsam trockneten. Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter sie von einem Flachboot mit einem Bootshaken aus dem See gezogen hatte. Molly war überzeugt gewesen, dass die schrecklichen alten Bohlen eines Tages trocknen würden. Aber es sah nicht danach aus. Selbst jetzt nicht, nach dem trockensten Sommer und Frühherbst seit Jahren.
Gillian blätterte um und las weiter. Noch immer hatte sie nicht aufgesehen. Sie hatte die Pforte durchquert und war in einer fiktiven Welt. Molly beobachtete sie gern in diesem Zustand. Sie mochte es, wenn sie sich so mitreißen ließ.
»Gefällt dir die Geschichte?«, flüsterte Molly.
Wortlos nickte Gillian. »Gill-ian, das G wie in Gräte«, sagte ihre Enkelin immer, wenn es jemand weich, wie Dschillian, aussprach. Ihre rechte Hand schlich zum Mund, um einen Nagel zwischen die Zähne zu schieben; das Nägelkauen, das sie anscheinend nicht loswerden konnte. Als ahnte sie Mollys Ermahnung voraus, hielt sie in der Bewegung inne und blätterte stattdessen die Seite um.
Es war ein abgegriffenes Taschenbuch aus Mollys Kindheit. Das Haus der geheimnisvollen Uhren von John Bellairs, eine entzückende Geschichte, die ihre Mutter als Verherrlichung der Zauberei bezeichnet hatte. Und das, kurz bevor die Familie die hausgemachte Tinktur zum Schutz vor der Grippe einnahm. Was war die Tinktur, wenn nicht Hexenwerk?, hatte Molly gefragt.
Tradition, hatte ihre Mutter gesagt. Tradition und gesunder Menschenverstand. Die Welt wird beides vergessen, bis sie daran erinnert wird. Und jetzt nimm deine Arznei.
Nun lag das Buch in den Händen ihrer Enkelin, neben dem leeren Tintenfass.
Die Vergangenheit ruhte nie.
Unter dem Buch lagen die Arbeitsblätter, auf die Gillian sich eigentlich konzentrieren sollte. Molly konnte einige der Fragen lesen – zur Geschichte von Galesburg, mit verschiedenen Antworten zur Auswahl, alte Namen und Daten, Menschen und Orte, die in der Welt außerhalb dieses Zimmers längst vergessen waren. Außerdem gab es mathematische und naturwissenschaftliche Aufgaben. Die Formeln waren kompliziert für eine Schülerin in Gillians Alter und verlangten ihr viel ab, ja, aber Galesburg brachte eben einzigartige Erfordernisse mit sich.
F = P x A
Unter die Formel hatte Gillian ein Bild gezeichnet, auf dem Wasser gegen eine Mauer drückte. Daneben hatte sie geschrieben: Kraft gegen den Damm = Wasserdruck x Fläche.
Molly tippte mit dem Zeigefinger auf das Arbeitsblatt.
»Denk dran, das ist so, als würdest du tauchen«, sagte sie. »Du weißt doch, dass es sich anfühlt, als würden die Trommelfelle platzen, wenn man tief unter Wasser ist. Das ist der Druck. Das Gewicht des Wassers über dir.«
»Ja«, sagte Gillian und konzentrierte sich weiter auf das Buch.
»Und das bedeutet«, sagte Molly geduldig und entschlossen, diese letzte Lektion aufzufrischen, »dass der Druck steigt, wenn … Gillian? Wann steigt der Druck?«
Endlich sah Gillian auf. »Wenn die Tiefe zunimmt.«
»Sehr gut.« Molly beugte sich vor und küsste ihre Enkelin auf den Kopf. Sie wollte bleiben, die Berührung auskosten, aber sie wusste, dass es nicht ging. Sie hatte für diesen Augenblick geübt, hatte jahrelang hinter verschlossenen Türen geweint, wenn sie es...
Erscheint lt. Verlag | 14.6.2021 |
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Übersetzer | Marcel Häußler |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Chill |
Themenwelt | Literatur ► Fantasy / Science Fiction ► Fantasy |
Schlagworte | Böse Geister • eBooks • Familiengeheimnis • Fluch • Horror • New York • Stausee • Unheimlich |
ISBN-10 | 3-641-26547-9 / 3641265479 |
ISBN-13 | 978-3-641-26547-2 / 9783641265472 |
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