Mittwoch ist ein Tag zum Tanzen (eBook)
448 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-25629-6 (ISBN)
Julia rennt nicht weg. Zumindest nicht so richtig. Aber sie braucht dringend eine Auszeit von ihrem Leben, und da fühlt sich das Angebot aus Biarritz an wie eine Rettungsleine. Hals über Kopf zieht sie an die Atlantikküste, wo sie als Psychologin den Bewohnern eines Seniorenheims zur Seite stehen soll. Eigentlich hat Julia mit alten Leuten wenig am Hut, doch schnell merkt sie, dass sich hinter den eleganten Türen der Seniorenresidenz mehr verbirgt, als sie auf den ersten Blick geahnt hat: gebrochene Herzen, lange gehütete Geheimnisse und unbändige Lebensfreude, wie sie ihr noch nie begegnet ist. Kann Julia alles, was sie sucht, tatsächlich dort finden, wo sie es am wenigsten vermutet?
Virginie Grimaldi wollte schon mit acht Jahren Schriftstellerin werden. Damals schrieb sie einen Roman, der von der Liebe, dem Meer und einem und einem dreißigseitigen Sonnenuntergang handelte.Heute zählt sie zu den mit Abstand erfolgreichsten Autorinnen Frankreichs, ihre Fans warten sehnsüchtig auf jeden neuen Roman und jeder erobert die Spitze der Bestsellerliste in Sturm. Ihre Bücher werden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Virginie Grimaldi lebt mit ihrem Mann, ihren beiden Söhnen und ihrer restlichen Familie bei Bordeaux.
21
Ich hatte mir vorgenommen, die Morgenstunden in meinem Büro zu verbringen und den ganzen Verwaltungskram zu erledigen, der in den letzten Tagen liegengeblieben ist. In puncto Aufschieben bin ich nämlich ganz groß. Für mein Konto interessiere ich mich erst, wenn meine Bank mir mit den schlimmsten Übeln droht, meine Neujahrswünsche verschicke ich meist erst im März, auf meine Steuern wird regelmäßig ein Versäumniszuschlag erhoben. Ich habe eine ganze Schublade voller ungeöffneter Briefumschläge, mit dem Tanken warte ich immer, bis das Benzin alle ist, um meinen Haaransatz kümmere ich mich erst, wenn er schon zur Frisur gehört, auf meinem Personalausweisfoto bin ich noch dreizehn, Pflanzen gehen bei mir unweigerlich ein, und ich sammle Notizzettel, die von oben bis unten mit zu Erledigendem vollgeschrieben sind und meistens mit »siehe letzter Zettel« anfangen.
Als gute Psychologin weiß ich, dass ein derartiges Verhalten etwas mit Angst vor dem Tod zu tun hat. Indem ich alles auf später verschiebe, stelle ich sicher, dass dieses »später« auch tatsächlich eintreten wird. Das behindert mich ganz schön. Die To-do-Liste in meinem Kopf nimmt einfach kein Ende. Aber das größte Problem bei dieser Art von Störung ist, dass ich eines Tages, wenn ich mal so alt bin wie die Heimbewohner, ein ganzes Zimmer zur Lagerung meiner ungeöffneten Briefe brauchen werde.
Ich hatte mir also vorgenommen, den Morgen in meinem Büro zu verbringen, doch da hatte ich meine Rechnung ohne die Oma-Gang gemacht. Jeden Morgen auf dem Weg vom Neben- zum Hauptgebäude muss ich den Hof überqueren. Und jeden Morgen, egal ob der Himmel blau ist oder nicht, sitzen sie da auf ihrer Bank, Louise, Élisabeth und Maryline, erzählen einander, wie die Nacht war, zerpflücken die neusten Neuigkeiten und tauschen Erinnerungen aus. Jeden Morgen stelle ich mich auf ein paar Plauderminuten mit ihnen ein, bevor mein Status als Psychologin mir wieder eine gewisse Zurückhaltung auferlegt. Unmerklich und unverhofft habe ich diesen kurzen Schwatz unter Frauen liebgewonnen.
Der heutige Morgen bildete keine Ausnahme von der Regel, die Oma-Gang empfing mich herzlich wie immer.
»Haben Sie schlecht geschlafen?«, fragte mich Maryline.
»Eigentlich eher gut, warum?«
»Sie sehen schlimm aus, um zehn Jahre gealtert!«
»Vielleicht sollten Sie das Kopfkissen wechseln«, schlug Élisabeth vor.
»Von Weitem dachte ich, Sie seien eine neue Heimbewohnerin!«, setzte Louise noch eins drauf.
Alle drei haben sich köstlich amüsiert.
»Nicht zu viel lachen, sonst geht was in die Hose!«, habe ich gekontert, woraufhin sie noch mehr lachen mussten und ich auch.
Die Erste, die sich wieder beruhigt hat, war Louise. »Trotzdem müssen Sie sich anstrengen, wenn Sie einen Freund abkriegen wollen, meine kleine Julia! Die Männer mögen gepflegte Frauen …«
»Schön für sie, aber mir geht es alleine sehr gut! Und sollte sich je ein Kerl für mich interessieren, dann hoffentlich nicht, weil ich perfekt geschminkt bin und hochhackige Schuhe trage.«
Die drei Omas schauten sich kopfschüttelnd an.
»Das hängt doch alles zusammen, Julia«, verkündete Élisabeth. »Wissen Sie, meinem Mann sind als Erstes meine Augen aufgefallen, dann gefiel ihm mein Lächeln, und verliebt hat er sich in meinen Charakter. Wir sagen ja nicht, dass Sie sich verwandeln sollen, aber wenigstens sollten Sie diesen Panzer ablegen.«
»Élisabeth hat recht«, pflichtete Louise ihr bei, »man sieht, dass Sie eine Rüstung tragen! Unter Ihren strohigen Haaren und Ihrer schlabberigen Kleidung sind Sie ohne Zweifel eine hübsche Frau.«
»Na ja, um das zu erkennen, muss man erst mal ein bisschen dran kratzen …«, fand Maryline. »Genauso gut könnten Sie ein Schild mit der Aufschrift ›Sackgasse‹ auf dem Kopf tragen.«
Ich habe nur noch die Augen verdreht. Okay, ich trage nun mal lieber Jeans und Turnschuhe als Kleider und Pumps, ich tue nur das Allernötigste für mein Aussehen, ein bisschen Feuchtigkeitscreme, Wimperntusche und basta. Okay, mein braunes Haar fällt mir einfach so auf die Schultern, ohne besonderen Schnitt, aber ich glaube nicht, dass dadurch jemals ein Kind auf der Straße einen Schock erlitten hat.
»War’s das? Sind Sie fertig mit Ihrer TÜV-Prüfung, oder wollen Sie auch noch, dass ich Ihnen den Riegel an meinem Keuschheitsgürtel zeige?«
Wieder haben sie schallend gelacht, dann wandte sich Louise an ihre beiden Freundinnen. »Wir könnten ihr doch vorschlagen mitzukommen.«
»Das würde sie keine fünf Minuten durchhalten«, antwortete Maryline und schüttelte den Kopf.
Damit hatten Sie meine Neugier geweckt. »Wovon reden Sie denn?«
»In einer halben Stunde gehen wir zu einem Kurs in sanfter Gymnastik«, erklärte Élisabeth. »Aber der ist ziemlich anstrengend. Wenn Sie nicht sportlich sind, können Sie sich den aus dem Kopf schlagen.«
Da habe ich nur hämisch gelacht. Ein Gymnastikkurs für Leute jenseits der Lebenserwartungsgrenze, das könnte ein netter Spaß werden für eine fitte Dreißigerin wie mich. Okay, meine letzte Sportstunde hatte ich im Gymnasium, und beim Treppensteigen droht mir jedes Mal ein Herzstillstand, aber diese Frauen sind fast dreimal so alt wie ich. Wie kommen sie darauf, ich würde ein paar Gymnastikübungen nicht durchhalten?
»Ich gehe in mein Büro, um zwei, drei Dinge zu erledigen, dann komme ich zur Gymnastik.«
Und so stehe ich jetzt in dem kleinen, für sportliche Aktivitäten bestimmten Raum, gemeinsam mit der Oma-Gang, Gustave, Jules und Arlette, die alle gekleidet sind, als wollten Sie gleich zu einem Marathonlauf starten. Die Lehrerin, Svetlana, ist eine hübsche Blondine mit leichtem Akzent und der sanften Ausstrahlung einer Rolle vierlagigem Klopapier. Ich kann mir kaum vorstellen, warum ihr Kurs mir Probleme bereiten sollte.
»So, gehen Sie bitte alle auf Ihre Plätze, wir fangen mit den Aufwärmübungen an!«
9 Uhr 30: Und los geht’s mit einer Stunde sanfter Gymnastik. Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist, dass ich mich darauf eingelassen habe. Es ist ja nicht so, als hätte ich nicht stapelweise Akten in meinem Büro, die ich auf den neusten Stand bringen müsste … Falls Anne-Marie vorbeikommt, werde ich mich auf den psychologischen Aspekt des Sports herausreden.
9 Uhr 34: Seit vier Minuten lassen wir die Handgelenke kreisen, ich denke mal, sie sind gut aufgewärmt.
9 Uhr 35: Wenn wir so mit dem Kreisen weitermachen, schraubt es mir gleich die Hände ab.
9 Uhr 37: Halleluja! Wir wechseln zu den Schultern. Vielleicht fangen wir morgen früh endlich mit der Gymnastik an.
9 Uhr 40: Die Musik wäre ja ganz schön, würde sie nicht vom Gelenkkonzert in d-Moll übertönt.
9 Uhr 43: Jetzt sind die Fußgelenke dran. Falls ich einschlafe, möge man mich bitte wecken.
9 Uhr 45: Vielleicht merkt es keiner, wenn ich mich diskret verziehe …
9 Uhr 46:
»Na, Julia, wollen Sie uns schon verlassen?«
Maryline, diese Denunziantin.
»Auf keinen Fall, ich wollte nur überprüfen, ob die Tür auch richtig zu ist.«
9 Uhr 48: Ich frage mich, ob man mittels Knöchelwedeln die Flatter machen kann.
10 Uhr: Svetlanas Stimme lässt mich hochfahren. Kann sein, dass ich ein paar Minuten eingenickt bin.
10 Uhr 01: Erste Übung: Wir sollen uns mit dem Oberkörper vorbeugen. Wer besonders gelenkig ist, kann mit den Händen den Boden berühren, fügt Miss Flauschig hinzu.
10 Uhr 02: Ich bin richtig stolz auf mich. Ich komme mit den Fingern bis auf die Höhe meiner Knöchel. Die drei Mumien sollen sich mal nicht so aufspielen.
10 Uhr 03: Ich werfe einen verstohlenen Blick zur Oma-Gang hinüber, um mich ihrer Bewunderung zu vergewissern. Ich hatte ja gesagt, für mich wird das eine Lachnummer.
10 Uhr 04: Von Bewunderung keine Spur. Eigentlich achten sie gar nicht auf mich. Louise tippt auf ihre Zehen, Élisabeth berührt beinahe den Boden, und Marylines Hände liegen flach auf der Matte.
10 Uhr 05: So tun, als sähe ich sie nicht, so tun, als sähe ich sie nicht. Ich strenge mich noch ein bisschen an, um meine Zehen zu erreichen. Es zieht, aber man soll nicht sagen können, ein paar Achtzigjährige hätten mich blamiert.
10 Uhr 06: Wahrscheinlich hat es mit der Osteoporose zu tun, dass sie so gelenkig sind.
10 Uhr 07: Los, Julia, streng dich noch ein bisschen an, denk nicht an den Schmerz auf der Rückseite deiner Oberschenkel, du hast es fast geschafft!
10 Uhr 08: Svetlana und ihr Akzent fordern uns auf, mit rundem Rücken langsam wieder hochzukommen. Also versuche ich, mit rundem Rücken langsam wieder hochzukommen.
10 Uhr 09: Also versuche ich, mit rundem Rücken langsam wieder hochzukommen.
10 Uhr 10: Also versuche ich, mit rundem Rücken langsam wieder hochzukommen.
10 Uhr 11: Okay, da scheint sich was verklemmt zu haben.
10 Uhr 12: Ich kann machen, was ich will, ich schaffe es einfach nicht, mich aufzurichten, offenbar streikt mein Kreuz. Bei jedem Versuch schießt mir ein unerträglicher Schmerz wie ein Stromschlag in die Lendengegend.
Falls das jemand mitkriegt, wird man mich hier bis zum Ende meiner Arbeitszeit damit aufziehen.
10 Uhr 13:
»Julia, Sie können wieder hochkommen, wir machen jetzt weiter mit der nächsten Übung.«
»Nein danke, ich mag diese Haltung, ich bleibe...
Erscheint lt. Verlag | 9.8.2021 |
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Übersetzer | Maria Hoffmann-Dartevelle |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Tu comprendras quand to seras plus grande |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Bestseller Frankreich • biarritz • das Leben genießen • eBooks • Familie • Frankreich • Karine Lambert • Liebe • Liebesromane • Paris • Petra Hülsmann • Senioren • Was im Leben zählt |
ISBN-10 | 3-641-25629-1 / 3641256291 |
ISBN-13 | 978-3-641-25629-6 / 9783641256296 |
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