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Glückskinder (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
512 Seiten
Heyne Verlag
978-3-641-25525-1 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Glückskinder - Teresa Simon
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München 1945. Auf dem Schwarzmarkt in der Möhlstraße treffen sich alle, die nach Glück und ein wenig Leben suchen. Nylons, Kaffee, Schokolade und Schmuck wechseln hier die Besitzer. Auch Toni, die ihr Zuhause verloren hat und nun bei ihrer Tante Vev wohnt, versucht, auf dem Schwarzmarkt das Nötigste für die Familie zu organisieren. Als sie die Holländerin Griet kennenlernt, spürt Toni zunächst eine tiefe Abneigung. Sie ahnt nicht, dass Griet eine schwere Zeit hinter sich hat, über die sie nie wieder sprechen möchte. Sie könnten einander helfen. Doch das geht nur, wenn sie ehrlich zueinander sind und ihre Vorurteile überwinden ...

Teresa Simon ist das Pseudonym der promovierten Historikerin und Autorin Brigitte Riebe. Sie ist neugierig auf ungewöhnliche Schicksale und lässt sich immer wieder von historischen Ereignissen und stimmungsvollen Schauplätzen inspirieren. Die SPIEGEL-Bestsellerautorin ist bekannt für ihre intensiv recherchierten und spannenden Romane, die tiefe Emotionen wecken. Ihre Romane »Die Frauen der Rosenvilla«, »Die Holunderschwestern«, »Die Oleanderfrauen« und »Glückskinder« wurden alle zu Bestsellern.

Prolog


Haarlem, Niederlande, Oktober 1942


Keine Namen, so lautet das ungeschriebene Gesetz.

Bloß nicht die echten Namen!

Deshalb muss sie die Frau, die ihr Unterschlupf bietet, auch mit Merel anreden, was Amsel bedeutet. Sie selbst heißt nun Bientje, das Bienchen, und viel mehr als ihr Alter hat sie bislang nicht preisgegeben. Nur, dass sie aus Amersfoort stammt, ihre Eltern kurz nacheinander gestorben sind und sie danach zu ihrer Großmutter geflohen ist, die man bereits abtransportiert hatte, als sie atemlos an deren Wohnung eintraf.

Sie selbst ist ebenfalls schon amtlich registriert; die deutschen Besatzer suchen nach ihr – und wird man sie aufspüren, ist ihr Leben keinen Pfifferling mehr wert.

Merel ist ihre einzige Chance, die allerletzte.

Seit Tagen kauert Bientje nun schon in dieser kalten Dachschräge, in der sie nicht einmal richtig stehen kann, neben einem Wasservorrat, der unbarmherzig zu Ende geht, und inmitten von Krümeln des Schiffszwiebacks, den sie verschlungen hat, ohne auch nur ansatzweise satt zu werden.

Den Notdurfteimer in der Ecke kann sie kaum noch zum Pinkeln benutzen, so sehr ekelt sie sich davor. Allem anderen verweigert sich ihr Körper sowieso, und immer häufiger überfällt sie nun die Angst, sie könnte über kurz oder lang platzen, weil die Natur irgendwann doch ihr Recht verlangen wird.

Es ist so still, dass ihr der eigene Atem überlaut erscheint, und die Sehnsucht nach menschlichen Stimmen wird beinahe überwältigend. Singen möchte sie, zumindest summen, doch ihre Lippen bleiben fest verschlossen.

Wie allein sie sich fühlt!

Mittlerweile hat sie fast so etwas wie Freundschaft mit dem dreisten Holzwurm geschlossen, der sich schmatzend durch die alten Balken frisst, allein deswegen, weil er lebendig ist.

Ist es Tag oder doch schon wieder Nacht?

Die Armbanduhr an ihrem Handgelenk steht still, und Bientje hat jedes Zeitgefühl verloren. Reparieren kann die Uhr in Haarlem niemand mehr. Corrie ten Boom, die mutige Uhrmacherin, die viele Juden versteckt hat, sitzt schon seit Wochen im KZ.

Manchmal will Bientje losrennen und schreien, so laut sie kann, aber natürlich tut sie das nicht. Keinen einzigen Mucks, das hat Merel ihr eingeschärft.

Wenn sie dich finden, sind wir beide dran.

Eigentlich hätte Merel längst schon wieder bei ihr gewesen sein müssen, mit frischem Wasser, neuem Essen und vor allem einem sauberen Eimer, aber sie kommt nicht.

Sie kommt und kommt und kommt einfach nicht …

Vom Hocken tut Bientje alles weh, und still liegen kann sie auch nicht mehr. Ihre Beine fühlen sich taub an, im Hals kratzt es wie verrückt, und ihre Zunge scheint immer dicker zu werden.

Ob man an seiner eigenen Zunge ersticken kann?

Im Moment erscheint ihr alles möglich.

Das ist der Koller, vor dem man sie gewarnt hat, doch damals hat sie nur gelacht. Jetzt ist sie kurz davor, laut loszuheulen.

Nein, sie hält es einfach nicht mehr länger aus – sie muss hier raus!

Behutsam schiebt sie das Paneel zur Seite, das ihre suchenden Finger ertastet haben. Von außen ist nichts zu erkennen, sobald es geschlossen ist, das weiß sie.

»Die Gestapo könnte ein ganzes Jahr lang suchen«, hat Merel gesagt, als sie sie hergebracht hat, »und würde doch nichts finden – vorausgesetzt, du hältst dich an die Regeln.«

Das wird sie wieder, fest versprochen, ganz bald, doch jetzt muss sie diese Regeln leider brechen. Ihre Nasenlöcher weiten sich, während sie herauskriecht und zu schnuppern beginnt. Das alte Haus riecht anders als ihr muffiges Versteck, und sie atmet auf. Nur für ein paar wenige Minuten, wird sie Merel sagen. Nur sich nach allen Richtungen strecken, in Ruhe die Toilette benutzen, ein paar Worte wechseln, mehr will sie ja gar nicht.

Mit ihren dicken Socken macht sie auf der Treppe keinen Lärm. Im ersten Stock ist alles ruhig. Merel wird unten sein, in der Küche. Und so schleicht sie weiter abwärts.

Nach ein paar Stufen hält sie inne.

Etwas ist anders als in ihrer Erinnerung, aber sie weiß nicht, was es sein könnte. Sollte sie nicht vielleicht doch leise rufen?

Vielleicht erschreckt sie Merel ja sonst zu Tode.

Sie räuspert sich. Ihre Stimmbänder sind vom langen Schweigen richtig eingerostet.

»Ich bin’s, Bientje. Keine Angst, ich bin gleich wieder verschwunden.«

Wie heiser und dünn sich das anhört, richtig jämmerlich!

Keine Antwort.

Ist Merel so sauer, dass sie sie mit Schweigen bestraft?

Inzwischen ist sie unten angelangt. Bei ihrem Eintreffen im Haus war ihr die Küche als Hort von Sauberkeit und Rechtschaffenheit erschienen, doch wie sieht es jetzt hier aus!

Teller und Tassen sind zerschlagen, als hätte ein Sturm gewütet, und inmitten der Scherben liegt in einer Blutlache ein verkrümmter Körper auf dem weiß-schwarzen Kachelboden.

Sie weiß, dass Merel tot sein muss, noch bevor sie neben ihr kniet. Das blonde Haar hat sich an vielen Stellen rötlich gefärbt; im Schädel klafft ein Loch. Die Leiche beginnt schon steif zu werden, und so zieht Bientje ihre Hand wie verbrannt zurück.

Einbrecher?

Eine Razzia?

Aber weshalb hat man sie, Bientje, dann nicht entdeckt?

In ihrem Kopf fahren die Gedanken Karussell. Bislang hat das Versteck sie geschützt, doch nun kann sie hier nicht länger bleiben, das steht fest.

Wo aber könnte sie hin?

Ihr geschändeter Ausweis wird sie unweigerlich bei der nächsten Kontrolle verraten – es sei denn …

Der Gedanke ist so ungeheuerlich, dass sie kurz auflachen muss.

Ihr Blick gleitet zurück zu der Toten.

Es könnte gehen. Beide sind sie blond, beide haben sie schmale Gesichter und graugrüne Augen. Auch die Größe stimmt in etwa.

Wo hat Merel wohl ihre Dokumente aufbewahrt?

Mit bleiernen Beinen geht sie nach nebenan ins Wohnzimmer, das sie zum ersten Mal betritt. Schwere, dunkle Möbel, die garantiert von Merels Vorfahren stammen. Ob sie noch Eltern hat, Tanten, Onkel, Vettern oder Kusinen?

Geschwister?

»Ich bin ganz allein«, hat Merel bei ihrer ersten Begegnung zu Bientje gesagt.

Aber ist das auch die Wahrheit?

Sie muss sich daran klammern. Etwas anderes bleibt ihr nicht.

Den kleinen Sekretär hat sie im Nu durchstöbert – leider erfolglos. Wo sonst könnte Merel wichtige Papiere versteckt haben?

Bientje muss noch einmal nach oben, ob sie will oder nicht. Aber auch im Schlafzimmer entdeckt sie nicht das Gesuchte.

Wenn sie nur Licht machen könnte!

So durchwühlt sie alles im Dunkeln und legt sich dabei eine kleine Garnitur aus dem Kleiderschrank zurecht, in die sie schlüpfen wird, Unterwäsche, Strümpfe, dunkelblauer Rock, gestreifte Bluse, blaue Strickjacke, dunkelblauer Mantel. Merels Schnürstiefel sind ihr zu groß, sie wird zwei Paar Socken übereinander anziehen oder Zeitungsblätter einlegen müssen.

Besser als andersrum.

Inzwischen spielt ihr Darm verrückt, und es dauert eine ganze Weile, bis sie die Toilette wieder verlassen kann.

Danach geht es ihr deutlich besser. In Merels kleinem Badezimmer reinigt Bientje sich gründlich von Kopf bis Fuß, dann schlüpft sie in Merels Sachen, alles ein bisschen zu lang, ein wenig zu weit, aber wer schaut in diesen Zeiten schon darauf?

Dann kommt das Schwierigste und zugleich das Allerwichtigste – vorausgesetzt, sie findet jemals diese verdammten Dokumente. Merels Haar ist schulterlang, Bientjes jedoch reicht in ihrem verhassten Ausweis nur bis zum Kinn. Eine gute Handbreit von Merels toten blonden Locken muss also ab, damit die Tote dem Foto auf Bientjes Ausweis möglichst gleicht.

Auf der Suche nach einer Schere stößt Bientje auf ein hölzernes Nähkästchen. Als sie es aufklappt, findet sie unter Garnrollen und Nadelkissen tatsächlich den Pass.

Merel ist drei Jahre älter als sie. Daran lässt sich nichts ändern.

An den Haaren sehr wohl.

Mit ihrem kostbaren Fund kehrt Bientje in die Küche zurück, überwindet sich, kniet schließlich neben der Toten nieder, setzt die Schere an und schneidet. Danach fegt sie alles sorgfältig zusammen, wischt die Griffe ab und legt die Schere zurück an ihren Platz.

Ihren eigenen Pass mit dem großen aufgestempelten J legt sie neben das Nähkästchen. Dessen abgeknipste Ecke mit dem verräterischen Fingerabdruck ist mittlerweile im Herd verglüht, zusammen mit den Haarresten, die keiner finden darf. Die Asche hat sie in einen kleinen Topf gefüllt, den sie einpackt.

Das Meer wird alles an fremde Küsten spülen.

Sie hat noch ein paar Stunden, bevor es hell wird. Noch immer gilt die von den Nazis verhängte Ausgangssperre für das ganze Land.

Bientje geht noch einmal nach oben unters Dach und schiebt das Paneel vor ihrem alten Versteck so, dass es einen Spaltbreit offen steht, damit es bei einer Hausdurchsuchung schnell entdeckt wird.

Zurück in der Küche, löffelt sie einen Eintopfrest, der noch auf dem Herd steht, fast schon andächtig leer und wischt anschließend den Teller mit Brot aus, bis er glänzt. Wie gern hätte sie noch mehr auf Vorrat verschlungen, doch das laute Glucksen in ihrem Bauch hält sie davon ab. Essen will klug dosiert sein, wenn man zuvor lange fasten musste, das hat sie inzwischen gelernt.

Wieder und wieder studiert sie das Foto in Merels Pass, wölbt die Lippen leicht vor, runzelt...

Erscheint lt. Verlag 8.2.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte Dein-Spiegel-Bestseller-Autorin • deutsche Geschichte 20. Jahrhundert • Die Frauen der Rosenvilla • Die Holunderschwestern • Die Lilienbraut • Die Oleanderfrauen • eBooks • Familiengeheimnis • Familiensaga • Frauenromane • Große Liebe • Liebesromane • München
ISBN-10 3-641-25525-2 / 3641255252
ISBN-13 978-3-641-25525-1 / 9783641255251
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