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Treue Seelen (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
352 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-25403-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Treue Seelen -  Till Raether
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Die Geschichte eines wunderbaren Sommers, der zwischen dem Scheitern von Beziehungen und einer latenten Aufbruchstimmung hin- und herpendelt.
Frühsommer 1986: Achim und Barbara, beide um die 30, ziehen aus der westdeutschen Provinz nach West-Berlin. Dort lockt Achim nicht nur eine feste Stelle im Labor der Bundesanstalt für Materialprüfung, er hofft auf ein aufregendes Leben. Immerhin hat hier Bowie mal gewohnt. Doch statt des großen Aufbruchs erleben die beiden in Zehlendorf Stillstand, spießige Enge und die Angst vor der radioaktiven Strahlung aus Tschernobyl. Und dann beginnt Achim eine Affäre mit der älteren Nachbarin, die aus Ost-Berlin stammt.

»Treue Seelen« ist die Geschichte eines wunderbaren Sommers, der zwischen dem Scheitern von Beziehungen und einer latenten Aufbruchstimmung hin- und herpendelt.

Till Raether, geboren 1969 in Koblenz, aufgewachsen in Berlin, arbeitet als Autor und freier Journalist in Hamburg, unter anderem für »Brigitte Woman«, »Merian« und das »SZ-Magazin«. Er studierte Amerikanistik und Geschichte in Berlin und New Orleans und war stellvertretender Chefredakteur von »Brigitte«. Seine Kriminalromane über den hochsensiblen Kommissar Adam Danowski wurden von der Kritik gefeiert und mehrfach für Preise nominiert. Till Raether ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Kapitel 3


Barbara stand am Fenster wie so eine Hausfrau: Wann kommt mein Mann von der Arbeit. Dabei waren sie nicht mal verheiratet, und wer verlobte sich noch. Ihre Eltern hätte das vielleicht gefreut, die fanden Achim gut, vor allem seine bevorstehende Verbeamtung. Aber Barbara war innerlich eingestellt auf Weltuntergang. Ja, wer verlobte sich noch, zumal, wenn gar nicht weit entfernt die Atomkraftwerke explodierten oder schmolzen. Die technischen Details interessierten sie nicht, sie hatte Soziologie studiert und Achim auf der Ersti-Fete in Bonn kennengelernt. Wie schlaksig er getanzt hatte, »Living Next Door To Alice«, zehn Jahre war das her, das wollte damals schon keiner mehr hören. Als es spät wurde und der Typ am Plattenspieler die guten Sachen rausholte, tanzten sie als Einzige weiter. Sie hielt irgendwann Achims Arme fest, die er so schlackernd von sich warf zu »Psycho Killer« von den Talking Heads, und dann legte sie sich seine Arme erst auf und schließlich um die Schultern. Kurz vor dem Soz-Diplom hatte sie mit Romanistik angefangen, was ihre Eltern nicht verstanden, Achim vielleicht auch nicht, aber ermutigt hatte er sie.

Von der Küche aus sah sie das schlecht gemähte Rasenviereck, um das ihr Mietshaus sein Hufeisen bildete, die Seite zur Straße offen. In der Mitte ein Rhododendron mit Hunderten kleiner Knospenfäuste, Anfang Mai. Der Hausmeister hatte ihn genau in den Kreuzpunkt zweier Trampelpfade gepflanzt, die diagonal über die Wiese führten. Die Nachbarn liefen immer noch quer über die Wiese, und die Kinder dribbelten ihren Fußball um den Rhododendron und brüllten einander die Spielernamen aus dem WM-Kader zu. Alle wollten Litti sein, denn der kam von um die Ecke, Hertha Zehlendorf, Ernst-Reuter-Stadion, Onkel-Tom-Straße, das erzählten einem die Nachbarn hier sofort. Barbara schwirrte der Kopf von uninteressanten Informationen, wenn sie draußen jemanden getroffen hatte. An jeder Wegecke Koniferenbüsche, blickdichte, aber etwas zu nahe liegende Verstecke bei Doppeltes E und Mikrone, wie die Kinder hier Verstecken nannten. Fünf Birken, an jeder der drei Ecken eine, nur rechts von ihr zwei.

Barbara war allergisch gegen Birkenpollen. Morgens hätte sie am liebsten ihre Nase abgerissen. Im Laufe des Tages fingen die Tabletten an zu wirken und machten sie müde auf eine Weise, die sich endgültig anfühlte. Also tat Barbara tagsüber nichts, bis sie am Ende hektisch ein bisschen in der Wohnung räumte, kurz bevor Achim von der neuen Arbeit kam. Heute hatte sie gekocht, diese Schmetterlingsnudeln mit einer hellen Kräutersoße, die es neu beim Aldi Ecke Mühlenstraße gab. Die Soße hatte einen seltsam elektrischen Geschmack, den sie unwiderstehlich fand. Dieses Pulver war definitiv noch vor dem Reaktorunglück aus irgendeiner Fabrik gekommen, da musste sie sich keine Gedanken über die Becquerel und das Cäsium machen. Seit zehn Tagen standen die Werte jeden Tag in der Zeitung, und schon kam es ihr vor, als müsste das so sein, von nun an für immer. Wenn sie das Soßenpulver aus dem silbernen Plastikbeutel in die warme H-Milch rieseln ließ, wirkte es unangreifbar und rein, Pasta Alfredo. Nur die H-Milch widerstrebte ihr immer noch zutiefst, sie kam aus einer Familie, in der frisch gekauft wurde.

Sobald Achim um die Ecke kam, zündete sie mit einem Streichholz das Gas an und schob den Wassertopf darüber. In Bad Godesberg hatten sie schon Cerankochfelder gehabt. West-Berlin kam ihr vor, wie sie sich die Zeit nach dem Krieg vorstellte. Die amerikanischen Panzer, die zweimal die Woche hundert Meter entfernt von einer Kaserne zur anderen über den Teltower Damm rollten, das Bellen der Wachhunde von der Mauer am Buschgraben, Gasherd. Sie sah, wie Achim die Stufe hinter dem niedrigen Eingangstor mit einem großen Satz nahm. Manchmal verglich sie ihn für sich mit einem Collie, vielleicht, weil sie eine Zeit lang so einen Hund gern gehabt hätte, mit allem, was dazugehörte: die zwei, drei Kinder, das Häuschen am Stadtrand und mit Sicherheit ein gutes Gefühl. Zehlendorf: Das hatte sich für sie angehört wie der Anfang genau davon, aber nun wohnten sie in diesem Hufeisenhaus mit vier Aufgängen und zwanzig Wohnungen, nur für Beamte und Bundesangestellte, die Miete bezuschusst, die Leute waren doch sehr gesetzt. Und ein gutes Gefühl hatte sie auch nicht dabei.

Achim hatte diesen Bewegungsdrang, dieses körperliche Bedürfnis, in die Welt zu springen wie der Hund aus dem Kombi-Heck. Und er hatte früher den Kopf so schräg gehalten, wenn er ihr zuhörte, wie sie über französische Romane des neunzehnten Jahrhunderts sprach, den Mund fast offen vor Gebanntheit. Manchmal ertappte sie ihn dabei, wie er draußen regelrecht herumrannte, weil er so schnell wie möglich an einem schönen, vielversprechenden Ort sein wollte. Es fing an mit zügigem Ausschreiten und wurde zu einem Laufen, nahe am Sprinten. Zum anderen Ende des Parks oder über den Garagenhof die kleine Steintreppe auf diesen seltsamen Wäscheplatz hinter ihrem neuen Wohnhaus oder einmal um die Krumme Lanke, wo Riesenwelse schwammen, die sich nach Sonnenuntergang die Schoßhunde der späten Spaziergänger schnappten, und auf dem Grund lag ein abgestürztes Flugzeug aus den letzten Kriegstagen.

Früher hatte sie Mühe gehabt, hinterherzukommen, heute nicht mehr so viel Interesse. Erst recht nicht, seitdem die Wolke aus der Ukraine quasi über ihnen stand. Es war erstaunlich, wie schnell man sich an Formulierungen wie »radioaktiver Regen« gewöhnte, also daran, Angst zu haben vor ihnen. Barbara hielt es nicht aus mit der radioaktiven Wolke. Die Schuhe blieben vor der Wohnungstür, in Plastiktüten, die Nachbarn schüttelten den Kopf. Alles, was sie und Achim draußen angehabt hatten, musste gleich in die Maschine. Achim war ständig auf dem Dachboden, um Wäsche aufzuhängen. Sie war froh, dass er das übernahm. Da oben blitzte der Himmel durch die Dachschindeln.

Und dann wieder diese Scheu, die Achim überfiel, wenn er die Liegewiese, das Restaurant oder eine Gruppe Menschen erreicht hatte: Sie sah, dass er manchmal nicht mehr wusste, was als Nächstes zu tun war, wie damals nach der Erstsemesterfete, als sie nackt nebeneinander in ihrem Bett gelegen hatten, der Wandteppich kratzig an ihrer nackten Hüfte, und Achim hatte die Hand sanft zwischen ihre Beine gelegt, als wollte er sie bedecken, den Kopf schräg: Und nun?

Die Küche war direkt neben der Wohnungstür, aber für einen Moment tat Barbara, als bemerkte sie nicht, wie Achim nach Hause kam. Er hängte seine Windjacke an den Garderobenständer, und aus dem Augenwinkel sah sie ihn zögern: Die musste jetzt eigentlich in die Wäsche, sie hatte ihm extra eine zweite, fast identische gekauft, Hettlage. Oder merkte er, dass die Wohnung unbewohnbar wurde, sobald er sie betrat? Solange er bei der Arbeit war, kam sie einigermaßen zurecht in dieser halb fertigen Welt, sie navigierte zwischen offenen Umzugskisten und geschlossenen Möbelkartons, und die Matratze, die auf dem Boden lag wie auf den Fotos in der Mitte von »Wir Kinder vom Bahnhof Zoo«, war ihr bequem und Bett genug, um stundenlang darauf zu liegen und an die Magisterarbeit zu denken.

Sobald Achim kam, ging die Wohnung nicht mehr. Viereinhalb Zimmer, fast hundert Quadratmeter, Balkon zum Hof. Die Wohnung in der Größe hatten sie vom Bundesliegenschaftsamt nur bekommen, weil Barbara der Frau am Telefon erzählt hatte, sie sei schwanger. Hatte sie es selbst geglaubt? Kaum. Berlin hatte sie sich bedeutend vorgestellt, aber jetzt schien es ihr ausgeschlossen, dass in dieser Wohnung etwas Bedeutendes würde geschehen können.

Einmal waren sie im Linientreu gewesen, aber die Leute waren ganz anders als in Bonn. Also, man kannte sie nicht. Und dann die Bombe im La Belle, seitdem mochte sie gar nicht mehr daran denken. Das gibt sich wieder, dachte sie. So kannte sie sich gar nicht. Muttersätze. La Belle, das war vier oder fünf Wochen her, eine Ewigkeit, als wäre sie schon zu lange hier. Drei Tote, aber schlimmer fand sie die Zahl der Verletzten: über zweihundert. Waren das nicht einfach alle, die da gewesen waren an diesem Abend? Friedenau, nicht gerade um die Ecke, aber die gleiche Welt wie ihre.

Einmal waren sie ins Loft im Metropol gegangen, Schöneberg. Kreuzberg wollten sie sich für später aufheben. Im Loft spielte eine australische Band, deren Namen Barbara sich nicht merken konnte, aber als die Leute auf die Bühne kamen, merkte sie, dass sie die doch vor anderthalb Jahren erst in Köln gesehen hatten. Na klar, sagte Achim und wippte so gegen die Musik. Na klar, als wäre das was Tolles.

Die drei Tornados in der UFA-Fabrik, irgendwas im Schwuz, SO36. Sie verstand schon auf den Plakaten kaum ein Wort. Die vier Cellisten der Berliner Philharmoniker spielten Beatles, ausverkauft, Zusatzkonzert, da war sie fast froh, nur noch zu Hause zu bleiben.

»Na, du?«, sagte Achim und verharrte auf der Schwelle zur Küche, Grenze zwischen dem schönen Schachbrettmuster der Küchenfliesen und der hellbraunen Auslegware auf dem quietschenden Flurfußboden, bei »Wand & Boden« hatte das mehr nach einem kräftigen Beige ausgesehen.

»Na, selber du«, sagte sie und rührte ein bisschen im Topf, weil Achim sie so lange anguckte. Manchmal dachte sie, dass eine lange Beziehung in erster Linie darin bestand, die Frage »Wie war dein Tag?« zu vermeiden.

»Wie war dein Tag?«, fragte Achim, aber so, als würde er sich dabei innerlich in der Wohnung umgucken, wo sich nichts getan hatte. Er streichelte von hinten ihre Unterarme, als müssten sie gemeinsam diese Kräutersoße rühren. Seine Hände waren warm. Plötzlich bekam sie Lust, heute noch mal rauszugehen, vielleicht endlich nach Kreuzberg, wo was los...

Erscheint lt. Verlag 24.5.2021
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Schlagworte 1980er Jahre • Berlin • Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben? • Brigitte-Kolumnist • Depression • eBooks • Flucht in den Westen • Geteilte Stadt • Liebesgeschichte • Ost-Berlin • Ost-West Geschichte • Reaktorkatastrophe • Roman • Romane • Süddeutsche Zeitung Magazin • Tschernobyl • Verstrahlung • Vor der Wende • Weihnachtsgeschenk • Wiedervereinigung • ZEIT-Kolumnist
ISBN-10 3-641-25403-5 / 3641254035
ISBN-13 978-3-641-25403-2 / 9783641254032
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