Sontag (eBook)
928 Seiten
Penguin Verlag
978-3-641-16565-9 (ISBN)
Susan Sontags glamouröse Erscheinung ist so legendär wie ihr schneidender Verstand. Das Themenspektrum, das sie in ihrem beeindruckenden literarischen Werk bearbeitete, reicht von postabstrakter Malerei über Pornografie und Existenzialismus bis hin zu Krebs und Kriegsfotografie. Für seine monumentale Biografie dieser Literaturikone des 20. Jahrhunderts konnte Benjamin Moser zahlreiche private Aufzeichnungen auswerten und erstmals Lebensgefährten wie Annie Leibovitz befragen. Sein tiefgründiges, intimes Porträt vermisst das Leben und den geistigen Kosmos dieser Maßstäbe setzenden Intellektuellen.
Mit 32-seitigem Bildteil.
Benjamin Moser, geboren 1976 in Houston/Texas, lebt in den Niederlanden, wo er an der Universität Utrecht promovierte. Er verfasst regelmäßig Beiträge für Harper's Magazine und The New York Review of Books und ist mit einer großen Biographie von Clarice Lispector hervorgetreten. Er ist außerdem Herausgeber ihrer Werkausgabe in neuer Übersetzung bei dem amerikanischen Verlag New Directions. Für seine Biographie von Susan Sontag gewann er 2020 den Pulitzer-Preis.
Kapitel 1
Die Königin der Leugnung
Bis zu ihrem Tod bewahrte Susan Sontag zwei Amateurfilme auf, die mit einer so alten Technik aufgenommen waren, dass sie sie nie abspielen konnte. Sie hielt diese Talismane in Ehren, weil sie die einzigen bewegten Bilder waren, auf denen ihre Eltern zusammen zu sehen waren: in ihrer Jugend, als sie zu einem abenteuerlichen Leben aufbrachen.30
Das flackernde Bildmaterial zeigt das alte Peking: Pagoden und Läden, Rikschas und Kamele, Fahrräder und Straßenbahnen. Ganz kurz sieht man eine Gruppe Europäer, die durch einen Stacheldrahtzaun von einer Ansammlung neugieriger Chinesen getrennt sind. Und dann, ein paar Sekunden lang, erscheint Mildred Rosenblatt und ist ihrer Tochter so ähnlich, dass man versteht, warum die beiden später für Schwestern gehalten wurden. Auch ihr gut aussehender Ehemann Jack taucht sekundenlang auf, so schlecht belichtet, dass kaum mehr von ihm zu erkennen ist als der Kontrast, den er – groß, weiß, in ausländischer Kleidung – zu den chinesischen Schaulustigen bildet.
Der Film entstand um 1926, als Mildred zwanzig war. Etwa fünf Jahre später wurde der zweite gedreht. Er beginnt in einem Zug in Europa und verlagert sich dann auf das Oberdeck eines Schiffs. Dort amüsiert sich eine Gruppe lachender Passagiere – Jack und Mildred und ein weiteres Paar – damit, einen Ring über ein Netz zu werfen. Mildred trägt ein weißes Sommerkleid und eine Baskenmütze, lächelt strahlend und spricht mit der unbekannten Person hinter der Kamera. Dann spielt man Shuffleboard, und etwa zur Hälfte des Films taucht Jack auf, dünn und schlaksig, in einem Dreiteiler und ebenfalls eine Baskenmütze auf dem Kopf. Der andere Mann und er liefern sich einen leidenschaftlichen Wettkampf, während ihre Freunde anfangen, Grimassen zu schneiden und im Spaß miteinander zu raufen. Mildred lehnt in der Tür und biegt sich vor Lachen. Alles in allem dauern die Filme knapp sechs Minuten.
Mildred Jacobson wurde am 25. März 1906 in Newark geboren. Obwohl ihre Eltern Sarah Leah und Charles Jacobson im russisch besetzten Polen geboren wurden, erreichten beide noch im Kindesalter die Vereinigten Staaten: Sarah Leah 1894, mit sieben, und Charles im Jahr zuvor, mit neun. Beide Eltern von Mildred sprachen akzentfreies Englisch, was für Juden in dieser Epoche der Masseneinwanderung ungewöhnlich war. Und – noch ungewöhnlicher für die meisten europäisch geprägten Schriftsteller ihrer Generation – ihre Enkeltochter war wahrscheinlich die einzige bedeutende jüdische Autorin dieser Generation, die keine persönliche Verbindung nach Europa hatte, keine Erfahrungen im Einwanderermilieu, das so viele ihrer literarischen Zeitgenossen charakterisierte.
Obwohl in New Jersey geboren, wuchs Mildred auf der anderen Seite des Kontinents, in Kalifornien, auf. Als die Jacobsons nach Boyle Heights zogen, einem jüdischen Viertel östlich von Downtown, war Los Angeles ein Ort, der im Begriff war, eine Großstadt zu werden. Der erste Hollywoodfilm entstand 1911, ungefähr zu der Zeit, als die Jacobsons eintrafen. Acht Jahre später, als Mildred und Sarah Leah in Auktion der Seelen auftraten, hatte sich bereits Großindustrie in der Stadt angesiedelt. Die entstehende Filmkolonie zog Abschaum an: Mit Vorliebe erzählte Mildred den Leuten, sie sei mit dem berüchtigten Gangster Mickey Cohen zur Schule gegangen, einer der Größen der Prohibitionszeit in Las Vegas.31 Und Glamour wurde von der Filmindustrie angezogen und ausgestrahlt: Mildred wirkte auf die Leute stets schön, eitel und mondän auf Hollywood-Art. Susan hat sie einmal mit Joan Crawford verglichen; andere sahen eher in Susan das Ebenbild der Diva.32
»Stets war sie perfekt zurechtgemacht«, erzählte Paul Brown, der Mildred aus Honolulu kannte. In der Stadt der Hippies und Surfer, in der sie ihre letzten Jahre verbrachte, fiel sie auf. »Ihre Haare waren immer frisiert. Immer. Wie eine jüdische Prinzessin aus New York, die Chanel-Kostüme trägt und zu dünn war.« Ihr Leben lang behielt sie ihre Hollywood-Manierismen bei. Am Telefon meldete sie sich mit einem kehligen »Jaaaaaa?«, und ihren Töchtern verbot sie, den Läufer im Wohnzimmer zu überqueren, bevor sie sie ausdrücklich mit ihrer manikürten Hand herbeigewinkt hatte.33 Mildred »hatte diese Ich-bin-was-Besseres-Haltung, wie die Royals«, sagte Paul Brown, nach dessen Einschätzung sie Schwierigkeiten hatte, mit der Realität fertigzuwerden. »Wie jemand, der nicht weiß, wie man den Lichtschalter findet.«34
Als sie sich nach China einschiffte, schien die schöne Mildred für eine strahlende Zukunft bestimmt. Ihr Begleiter auf der Seereise war Jack Rosenblatt, den sie als Kindermädchen im Grossinger’s kennengelernt hatte. Das war eines der riesigen Urlaubshotels in den Catskills, den »jüdischen Alpen«. Für ein Mittelschichtsmädchen wie Mildred war das Grossinger’s ein Sommerjob. Für jemanden wie Jack war das Sommerhotel eine Sprosse die gesellschaftliche Leiter hinauf.
Wie Tausende von armen Einwanderern lebten Jacks Eltern, Samuel und Gussie, auf engstem Raum in der Lower East Side von Manhattan, damals der vielleicht berüchtigtste Slum in Amerika. Die Rosenblatts stammten aus Krzywcza im polnischen Teil Galiziens, das unter österreichischer Herrschaft stand, und waren erheblich plebejischer als die »gutbürgerlichen und vorstädtischen« Jacobsons, die »überhaupt nicht wie Juden der ersten Generation« waren, wie Susan einmal einer Interviewerin erzählte.35 Privat sagte sie, die Familie ihres Vaters sei »grauenhaft vulgär« gewesen.36
Vielleicht lag es am geringen Stellenwert von Bildung bei Samuel und Gussie, dass ihre Enkeltochter sie so von oben herab behandelte. Jack, der am 1. Februar 1905 in New York geboren wurde, besuchte die Schule nur bis zur vierten Klasse. Mit zehn Jahren nahm er eine Stellung als Botenjunge im Pelzdistrikt auf der West Side von Manhattan an, wo seine Energie und Intelligenz nicht lange verborgen blieben. Er hatte ein fehlerloses fotografisches Gedächtnis: Das Gedächtnis seiner Tochter sollte sich als ebenso zuverlässig erweisen.37 Knapp sechzehn war er, als ihn seine Vorgesetzten aus der Poststelle herausholten und auf ein Schiff nach China beorderten. Dort trotzte er der Wüste Gobi auf dem Kamelrücken, kaufte Felle von mongolischen Nomaden38 und gründete schließlich seine eigene Firma, die Kung Chen Fur Corporation, mit Niederlassungen in New York und Tientsin. Es war der Beginn eines außerordentlich geschäftigen Lebens: In den acht Jahren ihrer Ehe bauten Jack und Mildred ein florierendes internationales Unternehmen auf, fuhren etliche Male nach China, reisten nach Bermuda, Kuba, Hawaii und Europa, zogen mindestens drei Mal um und legten nur Pausen ein, um zwei Kinder zu bekommen.
Als Susan Lee Rosenblatt am 16. Januar 1933 auf die Welt kam, wohnte das Paar in einem eleganten neuen Gebäude in der West Eighty-Sixth Street in Manhattan. Im Sommer desselben Jahres zog die Familie nach Huntington, Long Island; etwa zu der Zeit, als Judith geboren wurde, im Jahr 1936, ließen sie sich in einem vorstädtischen Idyll in Great Neck nieder. Dieser Ort wurde als West Egg durch das Buch Der Große Gatsby unsterblich; hier Fuß zu fassen besiegelte den Erfolg von Jack Rosenblatt, dem Schulabbrecher aus dem Slum. Gesellschaftlich betrachtet, war Great Neck von den Sweatshops und Mietskasernen der Lower East Side ebenso weit entfernt wie China. Das war ein Aufstieg, der normalerweise mit einem Leben voll harter Arbeit erkauft wird. Jack Rosenblatt schaffte ihn mit fünfundzwanzig.
Einen so rasanten Erfolg konnte nur ein Getriebener schaffen; und Jack wusste, dass er sich beeilen musste. Mit achtzehn, zwei Jahre nach der ersten Chinareise, erlitt er seinen ersten Tuberkulose-Anfall. Aus literarischer Sicht, schrieb Susan später, habe die Tuberkulose »als Krankheit der Übersensiblen [gegolten], der Hochbegabten und von Leidenschaften Verzehrten«.39 Unverhüllt ausgedrückt, füllte sie seine Lungen mit Flüssigkeit und ertränkte ihn.
Allem Anschein nach war der Mann, den Mildred im Grossinger’s kennenlernte, voller Energie, athletisch, reich und im Begriff, noch reicher zu werden. Aber die Flecken auf seiner Lunge gaben ihr zu denken; schließlich hatte seine Mutter ihn ins Grossinger’s gebracht, weil sie hoffte, die Landluft würde ihm Erleichterung verschaffen.40 Mildred war klar, dass ihr gemeinsames Leben möglicherweise nicht lange dauern würde. Vielleicht dachte sie, seine Infektion werde sich nicht zu einer richtigen Tuberkulose entwickeln: Die Bakterien konnten jahrelang harmlos im Körper schlummern. Aber bislang gab es noch keine Heilung. (Das 1928 entdeckte Penicillin wurde erst nach dem Zweiten Weltkrieg allgemein verfügbar.) Aber Mildred war leidenschaftlich in Jack verliebt. 1930 heirateten sie und reisten nach China, wo sie in Tientsin ein Geschäft eröffneten.
Tientsin, heute Tianjin, der größte Hafen in der Umgebung von Peking, war einer der »Vertragshäfen«, zu deren Öffnung China nach seiner Niederlage in den Opiumkriegen gezwungen wurde. Dort konnten ausländische Geschäftsleute unbehelligt von chinesischen Gesetzen Handel treiben; für sie hieß das, so schrieb Susan, »Villen, Hotels, Country Clubs, Poloplätze, Kirchen, Krankenhäuser und eine schützende Militärgarnison«. Für die Chinesen bedeutete es »ein...
Erscheint lt. Verlag | 14.9.2020 |
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Übersetzer | Hainer Kober |
Zusatzinfo | mit insgesamt 32-seitigem Bildteil |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Sontag. Her Life and Work |
Themenwelt | Literatur ► Biografien / Erfahrungsberichte |
Schlagworte | Annie Leibovitz • Biografie • Biografien & Erinnerungen • Biographie • Biographien • eBooks • Essays • Feminisistin Buch • Feminismus • Fotografie • Frauen • Friedenspreis des Deutschen Buchhandels • Friedenspreisträgerin • Intellektuelle • Krebs • Memoiren • New York • Pulitzer-Preis • Robert Mapplethorpe • Sarajevo • Sexismus • Susan Sontag • Wahre GEschichte |
ISBN-10 | 3-641-16565-2 / 3641165652 |
ISBN-13 | 978-3-641-16565-9 / 9783641165659 |
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